Ein Kompass und ein Telefon
Der Wind hat über Nacht weiter abgenommen. Nun hebt und senkt sich das Meer wie unter letzten Atemzügen, einem Seidenlaken ähnlich, das silbrig in der Vormittagssonne glänzt. Dünner Nebel zieht auf und verflüchtigt sich wieder, scheint das Kräuseln der Wellen zu ersticken. Es ist einer jener Tage, von denen der alte Seemann und Schriftsteller Joseph Conrad gemeint haben könnte, dass sich die machtvolle See „wirklich liebenswert“ zeigt.
Die Aquarius durchschneidet diese Windstille gemächlich. Das Schiff der Rettungsorganisation SOS Mediterranee mit der weithin sichtbaren orange-farbenen Rumpfbemalung hat es nun beinahe zu dem Punkt geschafft, zu dem es dirigiert worden ist. Auf der elektronischen Seekarte ist der Punkt als roter Kreis markiert. Er gibt die ungefähre Position eines Bootes an, das um Hilfe gerufen hat. Der Notruf war bei der Koordinierungsstelle für die Rettungseinsätze im Mittelmehr MRCC in Rom eingegangen. Die Menschen in dem Boot hatten sich dort selbst gemeldet, hatten mit einem Telefon die Nummer gewählt, die ihnen die Schlepper genannt hatten. Später wurde die Existenz des Bootes über Satellitenaufnahmen bestätigt. Nun hält der Kapitän auf der Brücke Ausschau nach dem winzigen Objekt. Er bekommt Gesellschaft von weiteren Mitgliedern dieser außergewöhnlichen Unternehmung. Einer nach dem anderen drängt herauf, um mit Ferngläsern den trüben Horizont abzusuchen.
Man hat uns gesagt, dass da draußen Schiffe seien, die uns retten würden.
Einer glaubt etwas an Backboard gesehen zu haben. Worauf Blicke in diese Richtung schwenken. Aber die Wellen spielen ein böses Spiel mit der Erwartung. Da ist nichts. Nur ein Möwenschwarm. Einer der Neulinge an Bord, in eine nagelneue grüne Latzhose gekleidet, will wissen, ob wo Möwen seien, auch Leichen im Wasser trieben. „Ich habe mal gehört, dass sie Ertrunkenen die Augen auspicken.“
„Pfff“. Der Kapitän schaut überrascht zu dem Neuen herüber.
Seit Kapitän Alexej Moroz als 15-jähriger Kadett an einer sowjetischen Marineschule ausgebildet wurde, ist er auf den Weltmeeren unterwegs. An Bord wird er von allen respektvoll Kapitän Alex genannt. Der gebürtige Weißrusse hat sich in seinen 42 Seemannsjahren schon vieles Merkwürdiges anhören müssen. Irgendwann ist er dazu übergegangen, sich lästiger Bemerkungen durch einen scharfen Seufzer zu erwehren: „Pfff!“
Geisterjagd nennt er, was sie gerade veranstalten. Statt überall Boote zu entdecken, die sich bloß als Reflexe im schattenlosen, milchigen Licht herausstellen, solle man warten.
Aber die Satellitenaufnahme, wer habe die von dem Flüchtlingsboot gemacht?
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, grummelt der Kapitän und breitet unschuldig die Arme aus. In dieser Gegend laufen Dinge ab, die außerhalb seines Verständnisses bleiben. Er weiß nur: Wenn das schwarze Telefon auf seinem Kartentisch klingelt, wird es wichtig. Dann ist das MRCC am anderen Ende. In Rom haben sie Zugriff auf alle möglichen Informationsquellen, auch militärische.
Also warten.
Bis plötzlich in der Ferne eine Kontur auftaucht, die nicht wieder verschwindet. Die sich sogar prägnanter vom Dunst abzuheben beginnt. Da ist das Boot, das gesuchte, überladen mit Menschen, die Gummiwülste in der Dünung wippend. Ein schwimmender Notstand auf einem Teil des Mittelmeeres, der nicht einmal einen Namen hat, so unbedeutend ist er für die Seefahrtsgeschichte immer gewesen. Erst 2012 änderte sich das. Mit dem Zerfall des Gaddafi-Staates stachen zuerst Fischerboote von den Stränden Libyens in See, voll besetzt mit Flüchtlingen, um Lampedusa anzusteuern. Wenn die hölzernen Fahrzeuge nicht an den Klippen des europäischen Eilands zerschellten, wurden sie konfisziert und später zerstört. Dann kamen Schlauchboote in Mode. Die sind ungeeignet, Lampedusa oder ein anderes Ziel in Europa zu erreichen. Die Menschen sind auf offener See in offenen Booten dem Tod geweiht. Wenn sie nicht entdeckt werden, gibt es für sie keine Chance.
Dafür muss sich das Meer nicht mal von seiner grausamen Seite zeigen. Es bedarf nicht der Hässlichkeit eines Sturms, der zuerst die Farben des Meeres auslöscht und es alt und stumpf erscheinen lässt, bevor er sich die Menschen vorknöpft. Das Drama des Ertrinkens findet hier bei ruhiger See statt. An so windlosen Tagen, dass der Aquarius-Neuling ganz nachdenklich wird.
Das Meer ist so ruhig, man möchte gar nicht glauben, wie gefährlich es ist.
Auch Joseph Conrad verfiel einmal dieser Stimmung, als er „die Tücke der See hinter ihrem strahlendsten Antlitz“ erkannte. Der spätere Schöpfer von Weltliteratur („Herz der Finsternis“) war als junger Mann einer sinkenden Brigg unter ähnlichen Umständen zu Hilfe geeilt wie die Aquarius jetzt dem Schlauchboot. Es regte sich kein Lüftchen mehr, als Conrads Mannschaft in die Beiboote eilte, um dem absaufenden Wrack entgegenzurudern. Und die Männer ruderten hart, um rechtzeitig da zu sein, was Conrad zu einem literarischen Paten heutiger Hilfsaktionen macht. Die Rettung damals habe ihn, befand er, „endlich zu einem Seemann gemacht“.
Die libysche Form der Seeflucht hat allerdings eine neue Form der Seenot entstehen lassen. Oft brechen nach Tagen des Wartens mehrere Schlauchboote gleichzeitig auf. Von wo genau wissen selbst die Insassen nicht. Ein Kompass wird ihnen mitgegeben. Sie sollen nach Norden fahren, heißt es, und dass sie den Kompass wegwerfen sollen, sobald sie entdeckt würden, um nicht für Menschenschmuggler gehalten zu werden, rät man ihnen auch.
In einem der Boote kauert an diesem Dienstag Musab Mohammed, ein 18-Jähriger aus Elebered, einem kleinen, kargen Ort in den Bergen Zentral-Eritreas. Mit ihm sind 100 Personen in das Schlauchboot gestiegen. 63 stammen wie er aus Eritrea. Um drei Uhr nachts sind sie aufgebrochen. Die Frauen und Kinder sitzen auf den Bodenbrettern neben den Benzinfässern, umringt von den Männern. Sie haben Westen mitbekommen, auf denen „Life Jacket“ steht, doch das Styropor darin ist dünn und schlecht vernäht, ein Typenschild des Herstellers fehlt. Am Morgen sind ihre Vorräte aufgebraucht, die kleinen Wasserflaschen leergetrunken. Und auch der Spritvorrat geht zur Neige. Musab Mohammed sitzt neben dem Motor, einem nagelneuen Yamaha-Außenborder mit 40 PS, und hält den Kompass. Sie bewegen sich in Schlangenlinien über das glatte Meer und verlieren langsam den Mut.
„Es war hoffnungslos“, wird Musab Mohammed erzählen, „man hatte uns gesagt, dass da draußen Schiffe seien, die uns retten würden.“ Aber sie finden keines dieser Schiffe. Die Sonne brennt. Es wird immer heißer.
Dann sehen sie ein Schiff und halten darauf zu.
Auf der Aquarius wird Kapitän Alex unruhig. Während die anderen zu den Beibooten eilen und er allein an seinem Steuerstand zurückbleibt, sieht er mit sich verfinsternder Miene, dass sich die Flüchtlinge noch in libyschen Hoheitsgewässern befinden. Ihr schwerfällig eierndes Gummifloß verliert seine Fahrt. Näher darf die Aquarius nicht an die unsichtbare Linie heran, die in diesem Nichts aus Wasser und Nebel trotzdem eine Grenze zieht. Kapitän Alex misst sie auf seiner elektronischen Karte abermals nach. Nichts zu machen. Weiter geht es nicht. Dann greift er zum Bordfunkgerät. Das Rescue-Team, das sich in diesem Augenblick in zwei PS-starken Motorbooten auf die Flüchtlinge zubewegte, würde dringend etwas unternehmen müssen. Seine Anweisung lautet: „Sie sollen weiterfahren.“
Das Schlauchboot fährt nicht weiter.
Fackeln in der Dämmerung
Drei Tage zuvor, die Aquarius liegt noch im Hafen von Trapani an der äußersten Westspitze Siziliens und wird für einen dreiwöchigen Einsatz ausgerüstet, trifft sich das Rescue-Team zu einem ersten Briefing. Die Rettungsmannschaft, bestehend aus elf Freiwilligen, die ihr Leben um eine gute Erfahrung bereichern wollen, ist an Bord einer von drei Mannschaftsteilen. Sie arbeiten zusammen mit einem achtköpfigen Team von Ärzte ohne Grenzen, zuständig für die medizinische Betreuung. Und schließlich sind da noch die elf Männer der Stammbesatzung, Angestellte der Hempel-Rederei mit Sitz in Bremen, erfahrene Seeleute, für die das alles nur ein Job ist, wenn auch kein alltäglicher.
Nachdem die Neumitglieder nun ihre Kammern bezogen haben, nehmen sie in der Bordbibliothek an langen Tischen Platz. Der Kapitän sagt: „Es ist vollkommen klar, dass wir in die libyschen Hoheitsgewässer nicht eindringen dürfen, selbst um Hilfe zu leisten.“ Der Satz ist für die Neuen bestimmt, darunter Andreas Siegert, der Mann mit der grünen Latzhose. Er macht Urlaub. Aber nicht so wie seine Frau bis vor ein paar Wochen vielleicht noch annahm, dass er sein würde. Der Vater von fünf Kindern meldete sich bei SOS Mediterranee als Rettungshelfer und gab seinen Jahresurlaub dran. Mit der Seefahrt hatte er bislang nichts zu tun. Nun will er es von dem Kapitän noch mal genau wissen. Ob das auch heiße, dass Menschen vor ihren Augen ertrinken müssten?
Wir wollen euch keine Angst machen.
Kapitän Alex hat diese Frage befürchtet. Als höchste Autorität an Bord, würde er gerne eine entsprechend unmissverständliche Antwort geben. Doch er steht jetzt da wie einer, dessen Schweigen als Antwort genügen muss. Er lässt die Dinge lieber auf sich zukommen.
„Wir wollen euch keine Angst machen“, sagt in die entstehende Pause hinein ein Mann, der eine erkaltete Pfeife in den Mundwinkel schiebt. Mathias Menge heißt er und ist Rettungskoordinator, was bedeutet, dass er die Einsätze leitet. Menge hat selbst ein Kapitänspatent. Der 48-Jährige mit dem weißen Vollbart, der vor Antworten lange überlegt und beim Reden immer irgendwie auszuatmen scheint, kam erst spät zur Seefahrt. Nach einer „Lebenskrise“, wie er den Zusammenbruch seiner früheren Existenz als Möbeltischler nennt, verwirklichte er einen Kindheitstraum. Er begann ein Nautikstudium mit 35, fuhr als Ausbilder bei der deutschen Beluga-Reederei, und als auch die zusammenbrach, wollte er seine seemännischen Fähigkeiten mit einer humanitären Aufgabe verbinden, „statt nur das kleine Rädchen im Getriebe einer globalen Wirtschaft zu sein“, wie er sagt. Er las von SOS Meditarranee, stellte sich vor und wurde professioneller Seenotretter.
„Tote, im Wasser treibende Körper sind eine traumatische Erfahrung für uns“, sagt er nun und blickt über die randlosen Gläser seiner Lesebrille hinweg zu seinen Leuten. Leider blieben ihnen „tragische Rettungen“ wohl nicht erspart. Aber als er einmal, fährt Menge fort, für die letzten beiden Menschen zu einem vollgeschlagenen Schlauchboot zurückkehrte, und als er bis zur Hüfte im Wasser stand, nur noch umgeben von den Toten, die er in der einbrechenden Dunkelheit zurücklassen musste, „da fühlte ich mich glücklich in dem Moment, erleichtert und wieder stark, obwohl ich hätte zusammenklappen können“. Es sei wichtig, dass sie als Lebensretter gegen das Gefühl ankämpften, nicht genug bewirkt zu haben. „Das Hauptziel ist, so viele Menschen wie möglich aus dem Wasser zu ziehen und danach an die zu denken, die gerettet wurden, statt an jene, die es nicht geschafft haben.“
Das Briefing hat vor allem den Zweck, den Prozess der Massenrettung den Neuen im Team zu verdeutlichen. Bis zum Jahr 2014 hatte praktisch niemand die geringste Vorstellung davon, wie mehrere hundert Menschen auf einmal von einem sinkenden Fahrzeug abgeborgen werden sollten. Erste Erfahrungen hatte in den späten 70er Jahren die Cap Anamur gesammelt, als der Frachter den vietnamesischen „Boat People“ im südchinesischen Meer zu Hilfe eilte. Das lag lange zurück. Im August 2014 fing eine von einem amerikanischen Versicherungsmagnaten gegründete NGO namens Migrants Offshore Aid Station (M.O.A.S.) quasi von Vorne an. Sie kaufte einen ausgemusterten alten Trawler namens Phoenix und merkte schnell, dass die Flüchtlinge als erstes mit eigenen Schwimmwesten versorgt werden mussten. Außerdem war es gefährlich, das Flüchtlingsboot längsseits eines großen Schiffes zu bringen, weil die Menschen dann nur umso schneller in Sicherheit gelangen wollten, Chaos und Tod waren die Folge.
So hat sich allgemein ein Evakuierungsplan etabliert, bei dem das Mutterschiff als zentrale Versorgungsstation fungiert, während Beiboote zwischen dem Flüchtlingsgefährt und ihm hin und her pendeln.
Darauf baut SOS Mediterranee auf. An einer Schautafel ist der Vorgang detailliert abgebildet. Man sieht die Aquarius und viele Pfeile, die von ihr weg zeigen und wieder zurück. Den Flüchtlingen nähert sich als erstes Mathias Menge mit dem kleineren der beiden Beiboote, das für den Transport vieler Menschen ungeeignet ist. Er wird von einem Sanitäter und einem Übersetzer begleitet. Deren Aufgabe ist es, die Verletzten und Schwächsten in dem Menschenpulk ausfindig zu machen. Sie fordern die Frauen und Kinder auf, sich zu erheben. Sie sollen als erstes zur Aquarius gebracht werden. Indem Menge bei den Wartenden bleibt, kann er beruhigend auf sie einreden, während mit dem großen Beiboot der Shuttle-Transport durchgeführt wird.
Nur eine Sache bereitet den Rettern Kopfzerbrechen. Wie sollen sie bei einem jener größeren Fischerboote vorgehen, die neuerdings von Ägypten aus mit bis zu 800 Menschen an Bord aufbrechen? Ende Mai war ein solches Schiff vor den Augen der italienischen Marine gekentert. Als sich die Retter genähert hatten, waren immer mehr Menschen aus den Laderäumen an Deck gelangt. Der Kutter geriet in Schräglage und schlug um. Zu hunderten stürzten die Flüchtlinge ins Meer. Wie viele im Inneren eingeschlossen ertranken, ist unbekannt. Es könnten mehrere hundert sein.
Man müsse sich einem überladenen Boot von hinten nähern, sagt einer. Damit die Menschen nicht zu einer Seite drängten.
Man müsse den Schiffsführer zwingen, die Laderäume zu verschließen, meint ein anderer. Damit zuerst das Deck geleert werde.
Einschließen, die Leute? Wer sollte das tun? Mit welchem Schlüssel? Nicht durchführbar, heißt es.
Als der Gründer von SOS Mediterranee Klaus Vogel sich 2014 mit der Idee einer Hochseerettung zu befassen begann, war ihm eines klar: Es bedurfte eines großen Schiffes. Es müsste wochenlang auf See bleiben können, ohne dass ihm schlechtes Wetter etwas anhaben würde. Es müsste als schwimmendes Flüchtlingscamp samt Hospital fungieren. Und es bräuchte Mannschaftunterkünfte, in denen die Retter Erholung fänden. Um eine professionelle Rettung zu organisieren, waren professionelle Bedingungen nötig.
Die Anweisungen aus Rom folgen einem nicht zu durchschauenden Spiel.
Mit der Aquarius fand Klaus Vogel Anfang dieses Jahres das Gefährt, das seine Ansprüche erfüllte. Es war 1977 als Fischereischutzboot vom Stapel gelaufen und hatte die deutsche Trawlerflotte in den Nordatlantik begleitet, wo es als Werkstatt und Krankenstation eingesetzt war. Es verfügte über etliche Kabinen. Zuletzt hatten in den Unterkünften nicht mehr Trawlerbesatzungen auf dem Weg zu ihren Fanggründen logierten, sondern Wissenschaftler. Die Aquarius war zu einem Vermessungsschiff geworden, das zu den Ölfeldern in Westafrika fuhr, Offshore-Windparks aufstellen half und im Norden Sibiriens am Bau eines Gas-Terminals beteiligt war. Ihr Unterhalt sollte SOS Mediterranee etwa 300.000 Euro pro Monat kosten.
Keiner kannte das Schiff so gut wie Kapitän Alex. Der 45-Jährige mit dem kahlen Schädel fühlt sich wohl in einer bunten Gesellschaft wie der auf seinem Hauptdeck, wo bei einem Barbecue Berge an Fleisch und Tintenfisch in einem aufgeschnittenen, rostigen Ölfass gegrillt werden. Der Kapitän wollte diesen Job („Ich bin nur ein Chauffeur“). Wenn man ihn nach den Gründen fragt, blickt er lange auf einen Punkt irgendwo zwischen Horizont und Stirninnenseite. Er verrate sicherlich kein Geheimnis, grummelt er schließlich, „dass die allermeisten Seeleute, zumal aus Osteuropa, Migranten nicht sonderlich mögen“. Was würde es nützen, jemandem das Kommando zu übertragen, der die Menschen fürchte, die er retten solle. Da sei es besser, er übernehme das. Zu einem besseren Menschen mache ihn das jedenfalls nicht, meint er.
Die Aquarius benötigt 30 Stunden für die Strecke von Sizilien ins Einsatzgebiet und ebenso lange wieder zurück. Bei hohem Wellengang wartet das Schiff manchmal tagelang tatenlos auf eine Beruhigung der See. 2400 Menschen hat die Crew in der ersten Jahreshälfte bereits gerettet, noch einmal so viele versorgt. Niemand weiß, wie es diesmal sein wird.
Die Matrosen scheinen es kaum abwarten zu können. Sie bauen das improvisierte Buffet schon wieder ab, während aus den Boxen Afro-Beat-Klänge durch den Fahrtwind wehen. So seien Seeleute eben, sagt Menge. Grillen Berge von Fleisch in einem Zug und machen das Schiff gleich darauf wieder seeklar, um sich in ihre Unterkünfte verdrücken zu können.
Derweil kreisen die Gespräche der Retter um die Zusammenarbeit mit anderen maritimen NGO’s. Die Aquarius ist nicht das einzige Rettungsschiff vor der libyschen Küste. Als die italienische Regierung im Oktober 2014 die Rettungsoperation Mare Nostrum einstellte, weil sie zu kostspielig war, rief das mehrere humanitäre Akteure auf den Plan. Neben M.O.A.S. sind in diesem Jahr vor allem Medicins Sans Frontiere (MSF) mit zwei Schiffen, Proactiva mit einer Segelyacht sowie der kleine Stahlkutter der Berliner Organisation SeaWatch dauerhaft vorort. Im Rahmen der Mission „Sophia“ kreuzen auch wieder sechs Kriegsschiffe der Europäischen Union in den Gewässern vor Tripolis. Das ergibt alles in allem eine ziemlich komplizierte Gemengelage.
Die Rettung, sagt Mathias Menge von SOS Mediterranee, sei der „einfache Part“. Anstrengend seien die anschließenden zwei Tage, an denen die Flüchtlinge bis zur Ankunft in einem italienischen Hafen versorgt werden müssten.
Zwischen den angeregt plaudernden Leuten tapst Andreas Siegert über das Deck. Er trägt das weiße T-Shirt des Rescue-Teams, die grüne Arbeitshose an ihm hat noch keinen Fleck. Seine Aufgabe kennt er noch nicht so genau. Siegert war SPD-Politiker und für eine Legislaturperiode Abgeordneter des Landtags in Sachsen-Anhalt. Er habe sich schnell mit Ministerpräsident Reinhard Höppner überworfen, auch sonst trieb er quer zur Parteilinie. „Politikversagen“ ist ein Lieblingswort von ihm.
Wenn man von ihm wissen will, warum ausgerechnet er, ein Intellektueller, ein Wirtschaftswissenschaftler und Experte für Migrationsfragen, jetzt auf diesem Schiff ist, dann klappt er irgendwann seinen Laptop auf, um das, was ihm sein Herz sagt, mit harten Fakten zu untermauern. Die Zahlen erzählen von sterbenden Landstrichen in Ostdeutschland, seinem Spezialgebiet. In Hettstedt, sagt er, seien in 20 Jahren 50 Prozent der Bevölkerung abgewandert. Siegert hat deshalb ein Forschungsprojekt angestoßen, das den Menschen dort die fatalen Konsequenzen dieser Entwicklung aufzeigen soll. Eine Folge sei, dass sie nun versuchten, gezielt jene Migranten in Hettstedt anzusiedeln, die das auch selbst wollten. Es gehe nämlich darum soziale Bindungskräfte zu entwickeln. Was sich auf einem Schiffsdeck ziemlich theoretisch anhört. Ja, sagt Siegert, in Diskussionen habe er oft hören müssen, dass er gut reden habe, aber selbst mache er ja nichts. Das wollte er ändern. Deshalb ist er jetzt hier.
Als sich Siegert am Abend dieses ersten Reisetages in seine Kabine zurückzieht, wird es für ihn die letzte ruhige Nacht sein. Die Übungseinheiten am kommenden Tag müssen abgebrochen werden. Die Aquarius hat ein Hilferuf ereilt. 120 Personen soll sie von einem Bohrinselversorger übernehmen, der sie wiederum von der italienischen Marine aufs Auge gedrückt bekam. Die Aquarius wird das dritte Schiff sein, das die Geflüchteten an Bord nimmt.
Das führt zu Unmut unter den Seenotrettern. Auf der Brücke halten Kapitän Alex, Rettungskoordinator Mathias Menge sowie der Leiter des Ärzteteams eine Krisensitzung ab. Vor allem der MSF-Mann befürchtet, dass die italienische Marine seiner Organisation ein Schnippchen schlagen wolle. Zwischen MSF und der Seenotleitstelle in Rom gebe es die Vereinbarung, dass die Marine selbst für die Flüchtlinge sorge, die sie aus dem Wasser fische. Nun wolle sie offenbar private Hilfsorganisationen dafür einspannen.
MSF ist ein mächtiger Akteur im humanitären Business. Es unterhält Büros und Teams an den gefährlichsten Orten der Welt, auch in Libyen, und verfügt über ein Jahresbudget von 1,4 Milliarden Euro (2015). Entsprechend selbstbewusst und abgeklärt treten die MSF-Leute auch auf der Aquarius auf.
Mathias Menge seufzt. Die Anweisungen des MRCC folgten „einem für uns nicht zu durchschauenden Spiel“, sagt er.
Werden die Schiffe des Eunavfor-Verbandes bevorzugt? Dürfen sich kleine Rettungsschiffe auf Kosten der größeren als Helfer in höchster Not inszenieren? Wird die Aquarius zum Versorgungsschiff degradiert?
Es klettern dann hauptsächlich junge Männer aus Westafrika an Bord, oft mit nicht mehr als einer Unterhose oder einer salzstarrenden Jeans am Leib. Sie hätten ihre Sachen zurücklassen oder über Bord werfen müssen, sagen die Männer, um Gewicht zu sparen. Vom MFS-Team werden sie mit grauen Fleece-Decken, Energy-Keksen und Wasser versorgt. Beliebt sind die weißen Zellstoffanzüge gegen den kühleren Nachtwind sowie Wollsocken. Während die Aquarius ihre Fahrt Richtung Süden mit zunehmender Dunkelheit fortsetzt – „die wollen uns da unten haben“, erläutert Menge die Anweisungen aus Rom erleichtert – und während sich die Passagiere zwischen Pollern und Chemietoiletten ihr Lager bereiten, sieht man im Dunstschleier ringsum die Gasfackeln zahlreicher Bohrinseln leuchten. Dieses Drama der Armut findet über unermesslichen Reichtümern statt.
Push-Back-Aktion
Zur selben Zeit sieht Musab Mohammed östlich von Tripolis zum ersten Mal das Meer. Es geht vielen aus seiner Gruppe so. Sie sind so erschrocken von dem Anblick der Weite, dass sie zurückweichen und nicht einsteigen wollen in das Boot, das die Schleuser mit Benzinfässern und Wasserflaschen ausgerüstet haben. Doch die Schleuser sind unerbittlich. Sie stoßen Musab Mohammed und seinen Reisegefährten ihre Gewehre in den Rücken. Zwischen umgerechnet 600 und 1000 Euro kostet ein Platz auf diesem Floß, dessen Gummiwülste die Beschaffenheit von Fahrradschläuchen haben. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. Wohin sollte Musab Mohammed sich wenden?
Er war beinahe achtzehn gewesen, als er seinen Entschluss zur Flucht gefasst hatte. Mit achtzehn ist in Eritrea das Leben zu Ende. Er würde Soldat werden wie jeder andere auch. Er würde seinen Militärdienst ableisten, ohne zu wissen, wann er vorbei sein würde. Soldaten arbeiteten für den Lohn weniger Euro am Tag auf Baustellen, auf Farmen und in Bergwerken. Sie waren staatliche Arbeitssklaven.
Es ist heikel, weil wir in einer Verteilungskette stecken.
Als Soldat ohne Geld hätte Musab Mohammed nicht heiraten können, sagt er. Alle seine Brüder teilten dieses Schicksal. Und sein Vater, ein Mann im Rentenalter, sei immer noch mit der Waffe herumgelaufen. Musab wusste also, was ihm bevorstand. 2014 ging er fort, was ihn offiziell zum Deserteur gemacht hat. Im Sudan lebte er eine Weile von dem, was er als Kellner in einem Coffee-Shop verdiente. Er ergatterte einen Platz auf der Ladefläche eines Landcruisers. Dicht gedrängt holperten sie zehn Tage über Pisten, die Beine über der Kante baumelnd. Wenn sie in der Wüste liegen geblieben wären, wie die unglückseligen Passagiere anderer Trucks, die Musab hat verdursten sehen, hätte das ihren Tod bedeutet.
In Libyen wurden sie in einem Camp namens Mazra‘a zusammengepfercht. 10.000 Menschen, die nach Europa wollen und auf die Hilfe von Schleppern angewiesen sind, sollen in diesem ominösen Lagerhaus leben, das bereits 2014 in einem ausführlichen Beitrag des „New Yorker“ erwähnt wurde. Vier Monate war er selbst dort. Er rief seine Familie an, die unter allen Mitgliedern Geld einsammelte, bis die verlangte Summe aufgetrieben war. Er sah Schwarzafrikaner an den Füßen aufgehängt in der Sonne baumeln. Das seien jene gewesen, wird Musab Mohammed sagen, die nicht bezahlen konnten, denen mit Riemen auf die Solen geschlagen wurde, bis die Familie daheim das Geld überwiesen hatte. Sie bekamen nur Nudeln mit Salz zu essen. „Sie erschießen einen für nichts“, sagt Musab und meint die libyschen Aufseher, „für sie ist das Gewehr wie ein Prügel.“
Es war drei Uhr nachts, als sich das Boot mit Musab von der Küste löste. Sie brachen bei Dunkelheit auf, damit libysche Patrouillenboote sie nicht entdeckten und zurückdrängen konnten.
Die Retter werden in den Plan der Schleuserbanden einbezogen. Die voll besetzten Schlauchboote überbrücken die ersten zwölf Meilen, den Transport über die restlichen 300 Meilen bis Sizilien übernehmen NGOs wie SOS Mediterranee. Macht das die willigen Helfer zu Komplizen eines verbrecherischen Geschäfts?
Mathias Menge diskutiert die Frage auf der Aquarius. „Was wir hier leisten, ist heikel, weil wir in einer Verteilungskette stecken.“ Seine Organisation sorge für eine sichere Überfahrt in Ermangelung offizieller Fluchtwege. Er glaubt, dass die Schmuggler die Positionssignale durchaus beobachten würden, die jedes Schiff – ausgenommen Kriegsschiffe – automatisch mit seiner Funkanlage übermittelt. Auf Webseiten wie Marine Traffic wird der Standort der Aquarius laufend aktualisiert. Schmuggler können ihre Boote auf Grundlage dieser Daten gezielt zu den Rettern schicken. „Aber welche Konsequenzen sollen wir daraus ziehen?“, fragt Menge.
Würde es Sinn machen, die AIS-Signale zu unterdrücken, um für Dritte unsichtbar zu werden? Menge findet das nicht. Sie operierten im Verbund mit anderen Helferschiffen vorort, sagt er, die müssten voneinander wissen. Außerdem könnten sie als ein Schiff, das auf dem Radar der Hafenbehörde von Tripolis auftaucht, sich ohnehin nicht davonstehlen. Die Hintermänner des Menschenhandels hätten ihre Informanten vermutlich überall, bei den Hafenbehörden, bei der Küstenwache, und wüssten jederzeit, wo sich ein ausländisches Schiff befindet.
Immer wieder nehmen die Seenotretter auch Menschen auf, die Libyen gar nicht verlassen wollten.
Aus demselben Grund wird der Kapitän nun aber nervös. Seine Leute in den Motorbooten erreichen das Floß – unter den Blicken der bereits versorgten Schiffbrüchigen. Es habe durchaus schon einen Zwischenfall mit der libyschen Coastguard gegeben, erzählen sie an Bord. Einmal habe sich ein Schnellboot genähert. Schwer bewaffnet habe es sie umrundet. In internationalen Gewässern zwar, aber falls die Grenzwächter hätten an Bord kommen wollen, hätte man sie wohl gewähren lassen. Sie zogen dann aber unverrichteter Dinge wieder ab.
Im August wird einige Tage lang das Gerücht von einem Piratenüberfall die Runde unter den maritimen NGO’s machen. Ein M.O.A.S.-Schiff wird angegriffen, 18 Kugeln schlagen ins Brückenhaus ein, die Crew verschanzt sich unter Deck. Doch am Ende erweist sich alles nur als ein Kommunikationsproblem. Die libyschen Küstenwächter sprechen kein Englisch und melden sich auch nie über Funk. Als die Burbon Argos vor dem bewaffneten Schnellboot Reißaus zu nehmen versucht, setzt es ihnen nach, um es zu untersuchen. Mit den Schüssen will die Flucht verhindern.
Diesmal fassen sich die Seenotretter der Aquarius ein Herz und bugsieren das antriebslose Schlauchboot von der Grenze weg. Ein gefährliches Manöver. Beim Briefing hatte so etwas auf keiner Schautafel gestanden. Der kleinste Kratzer kann die dünne Außenhaut der Auftriebsschläuche aufreißen. Und dann würden über hundert Menschen ins Wasser rutschen. Wenige könnten schwimmen. Musab Mohammed jedenfalls nicht.
An der Bordwand steht Andreas Siegert und hilft den Erschöpften über die letzten Sprossen hinauf. Er ist die Hand, die sie in Sicherheit bringt, in den Schutz eines großen Schiffes. Er packt sie am Handgelenk, damit der Griff fest ist. Es ist für Siegert immer derselbe Handgriff. Aber jeder Mensch ist auf seine Art schwer. Manche lassen sich hinaufziehen, andere wollen es alleine schaffen. Die Muskeln sagen in diesem Moment mehr über die Ziele eines Menschen als Worte.
Die Bilanz: 4400 Menschen werden an einem einzigen Tag aufgefischt. Wie viel im Westen los ist, verkündet die Hektik der Funkgespräche. Die Phoenix von M.O.A.S. meldet, dass sie „überladen“ sei, und den anderen kleineren Schiffen in der Gegend ergeht es ähnlich. Da sich auf der Aquarius bereits über 200 „Gäste“ befinden, wie die Migranten an Bord genannt werden, entscheidet das MRCC, das Schiff bis zur Kapazitätsgrenze zu belasten.
Mathias Menge gefällt diese Praxis wieder nicht. Er sieht die Logik durchaus ein, nach der die Rettungszentrale in Rom wie ein Hausbesitzer agiert, dem es durchs Dach regnet, während nur eine begrenzte Anzahl an Eimern zur Verfügung steht. Da liegt es nahe, manche Eimer erst ganz voll zu machen, bevor man sie ins Freie trägt. Andererseits will Menge die Ressourcen von SOS Mediterranee nicht für Fährdienste verbraucht wissen.
Wo hört die Hilfsbereitschaft auf? Das ist die Frage. Immer wieder würden die Seenotretter auch Menschen aufnehmen, so erzählt Menge, die Libyen gar nicht hatten verlassen wollen. Sie waren beschäftigt gewesen, wenn sie ihren Lohn hatten empfangen sollen, fanden sie sich in einem der Schlauchboote wieder. Für die Libyer sei das eine Art Entsorgungsindustrie ungewollter Arbeitskräfte.
Ein Kind auf dem Arm
Einer von ihnen ist Ali aus dem Süden Malis. Der 27-jährige hält an diesem Abend einen Knaben, nicht älter als ein Jahr, auf dem Arm. Man muss das Kind für seinen Sohn halten. Das ist es nicht. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund, der auch Ali unerklärlich bleibt, denn die beiden verständigen sich nicht einmal in derselben Sprache, hat sich der Junge ausgerechnet ihn gesucht und weicht in dem Gedränge aus hunderten von Männerkörpern nicht mehr von seiner Seite. Er ist an Bord neu eingekleidet worden aus Spendenbeständen, wie die neue rosafarbene Kordhose an ihm verrät. Denn er hatte mit seiner Mutter auf dem Bootsboden in einer Benzin-Lache ausharren müssen, was oftmals zu Hautverätzungen führt. Deshalb werden Frauen und Kinder oft als erstes abgeduscht an Bord und ihrer benzingetränkten Kleider entledigt.
Jetzt zupft der Knabe an Alis dünnem Kinnbart, während der erzählt. Es ist eine Geschichte, wie man sie immer wieder hört von jungen Männern, die in ihren Heimatländern zu den Überzähligen gehören, zu jenen, von denen es zu viele gibt. Sie folgen Gerüchten nach Norden, um dann ausgeraubt, betrogen, verschleppt und verängstigt in den Händen libyscher Banden zu landen.
Der Rückweg in ihre Länder ist ihnen abgeschnitten. Die Rebellen im Norden Malis sind auch auf Kopfgelder aus. Also ergattern sie einen Platz in einem Schlauchboot. Alis Proviant war aufgebraucht, als er durch die Dünen zum Strand marschierte. Das wenige Wasser hätten sie an Frauen und Kinder verteilt. „Das wichtigste war, ruhig zu bleiben.“
Zwei Wochen nach dieser Rettung wird die Aquarius zu einem Schlauchboot gerufen, bei dem es offenbar zu einer Panik unter den Insassen gekommen war. 22 Leichen, fast ausschließlich Frauen, treiben in einer Kraftstoff-Brühe aus Salzwasser und Benzin. Eine Frau trägt Male eines brutalen Kampfes im Gesicht. Es muss zu heftigen Konflikten gekommen sein, als die Frauen aus dem Inneren des Bootes zu entkommen suchten und niedergehalten wurden. Viele erstickten. Auch die Männer sind total entkräftet, als man das Boot nach 15 Stunden aufspürt.
Sie schießen ohne Grund, einfach weil sie es können.
Erna Rijnierse vom Ärzte-Team an Bord behandelt in ihrem kleinen Hospital oft Verletzungen, die von gewaltsamen Auseinandersetzungen und Unfällen zeugen. Unter den Maliern befinden sich diesmal drei junge Männer, die einen schweren Unfall ihres Trucks, auf dem sie die Sahara durchquerten, überlebt haben. Einer hat sich mit kaum verheilten Knochenbrüchen an beiden Beinen ins Schlauchboot geschleppt, ein anderer trägt eine Halskrause und hat frische Narben auf der Kopfhaut. Sie sind entkräftet und dehydriert. Manchmal helfe es schon, den Verletzten mehr Nahrung zu geben und ihre Wunden neu zu verbinden, sagt Rijnierse. Man könne sehen, wie sich der Zustand der Geschwächten stündlich bessere.
Der überwiegende Teil der Hilfsbedürftigen hat nur einfach sehr lange keinen Arzt mehr gesehen und wendet sich auf der eineinhalbtägigen Überfahrt nach Messina mit Kopfschmerzen und Übelkeit an das Ärzte-Team. Sehr viele haben sich mit Krätze-Milben infiziert. Rijnierse sagt, sie habe an entlegenen Orten in Afrika gearbeitet, die so weit von jeder Hilfe entfernt waren, dass der Tod dazugehörte. „Hier ist Hilfe so nah“, sagt sie, „dass es besonders schmerzt, wenn wir die kurze Zeitspanne bis zum Festland nicht überbrücken können.“
Etliche ihrer Patientinnen sind Opfer von Vergewaltigungen geworden. Doch sie halten das Erlebte voreinander und vor der blonden Niederländerin verborgen. Da ist zum Beispiel eine Gruppe junger nigerianischer Frauen, die lebhaft schwatzend auf dem Hauptdeck campiert, während der Abendhimmel ausglüht. Sie summen Lieder. Und unter ihnen ist Dexi, 18 Jahre alt, ein Mädchen mit geflochtenen Haarsträhnen und einem breiten Lächeln. Sie stammt aus dem Osten Nigerias, einer von der Terrororganisation Boko Haram bedrohten Region. Über ihre Geschichte will sie nur so viel sagen: Als man ihr Dorf niederbrannte, lief sie fort. Sie wachte in dem Schlauchboot wieder auf.
Das ist die verkürzte Version. Aber eine längere gibt es nicht.
Sie haben keine Ahnung, wie sie ins Boot gelangte?
„Ich war bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, war um mich nur das Meer.“
Es sind solche Geschichten, sie klangen gleich und sie hatten dieselben großen Erinnerungslücken, die auch Mathias Menge misstrauisch machten. Schon einmal hatte er sich im Nachhinein über eine Rettung gewundert, bei der alles so verdammt glatt gelaufen war. Es seien nur auffallend viele junge Frauen in dem Schlauchboot gewesen. Waren die Nigerianerinnen um Dexi vielleicht Opfer eines Mädchenhändlerrings? Wurden sie mit falschen Versprechen nach Europa gelockt? „Ich will nur, dass man mir hilft“, sagte Dexi auf die Frage, ob sie Verwandte in Europa habe.
Was seinen Job so aufreibend mache, sagt Mathias Menge kurz vor der Ankunft in Messina, sei das „undurchschaubare Geflecht, in dem man steckt“. Der Rettungskoordinator kann zwar auf eine erfolgreiche Mission zurückblicken, 450 Menschen sind nicht sich selbst überlassen worden, aber welche Bedeutung dieser Einsatz hat, weiß Menge nicht. Was erwartet die Geretteten, wenn sie europäisches Festland betreten? Würde die Staatengemeinschaft ihre Grenzen weiter schließen? Würde der Nationalismus weiterhin Auftrieb erhalten?
„Am schwersten zu ertragen“, meint Menge, sei „der Umstand, dass es keinen politischen Rahmen gibt.“ Die Militärschiffe würden eigentlich Schlepperbanden jagen. Leben retteten sie quasi nebenbei. Menge sieht sich am Anfang einer Notwendigkeit: Menschen, die sich nicht aufhalten lassen, ins Land zu lassen.
Bevor Andreas Siegert für die letzte Essensausgabe an Deck gebraucht wird, liest er in der Messe in einem Buch. „Soziophobie“ lautete der Titel. Am Anfang sei er „fast ohnmächtig geworden von dem Geruch der Menschenmenge an Bord“, sagt Siegert und legt die Lektüre beiseite. In den vergangenen Tagen hat er viel über sich gelernt. Vor allem, dass er sich selbst unterordnen könne um der Sache willen. Es scheint ihn zu überraschen. Aber sein rastloser Kopf hat sich auf den langen Nachtwachen seine eigenen Gedanken gemacht. „Menschen wandern nicht dem Geld hinterher“, sagt er. Seine Forschungen zum Fachkräftemangel in Deutschland hätten das bestätigt. Was die Einwanderer eigentlich wollten sei etwas anderes: „Vertrauen“ finden.
Der Kapitalismus zerstört Vertrauen. Er vernichtet Reichtümer, die als sicher galten, und entwurzelt jene, die der Arbeit hinterherziehen. Siegert glaubt, dass für die Migranten eine Chance da liegt, wo sich die Menschen noch am stärksten gegen Veränderungen sträubten, auf dem Land nämlich, in Gegenden wie Hettstedt etwa mit „nicht-anonymen Siedlungsstrukturen“. Dort, wo Leute sagten: „Bei uns zählst du als Mensch.“ Ein Satz wie ein Handschlag.
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Erstmals veröffentlicht am 14. September 2016
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