Es ist zum Ausrasten! Plötzlich gibt das Handynetz nach. Springt gnadenlos von LTE auf 3G, dann auf E. Wo sich gerade noch mühelos per Messenger-Dienst über Video telefonieren ließ, kommen nur noch Bildermatsch und Audiofetzen an. Dabei hatte der Kollege am Ende der Leitung gerade angefangen, die Lösung auf ein dringendes Problem zu erklären.
Alltag in Deutschland, Alltag auch in Berlin. Selbst mitten im Zentrum, nur wenige hundert Meter vom Potsdamer Platz entfernt.
Dahinter steht ein strukturelles Problem, keine bedauerlichen Einzelfälle. Das belegen Daten, die nun die Londoner Firma Opensignal erhoben hat, ein junges Unternehmen, das sich auf die Analyse von Mobilfunknetzen spezialisiert hat. Über eine eigene App und Abkommen mit verschiedenen anderen Smartphone-Apps haben sie für den Zeitraum 1. Januar bis 31. März 2019 die Verbindungsqualität von mehr als 460.000 Smartphones in Deutschland ausgewertet. Dabei wurde berechnet, wie viel Zeit Handynutzer mit LTE-fähigem Gerät durchschnittlich auch wirklich LTE-Empfang hatten. Die Ergebnisse sind peinlich für das wirtschaftsstärkste europäische Land.
Brendan Gill, Geschäftsführer von Opensignal sagt: „Während behauptet wird, dass ein Großteil Deutschlands mit LTE abgedeckt ist, ist es bei der Messung der tatsächlichen Erfahrung klar, dass LTE alles andere als allgegenwärtig ist.“
Vor allem regional gibt es starke Unterschiede, wie die interaktive Karte zeigt:
Auf Gesamtdeutschland hochgerechnet haben die Smartphone-Nutzer in Deutschland mit LTE-Vertrag über alle Betreiber hinweg nur durchschnittlich in 77 Prozent der Zeit wirklich Zugang zum LTE-Netz. Den Rest der Zeit müssen sie auf das Symbol 3G oder E auf dem Display starren, während sie auf Anschluss ins digitale Zeitalter warten. In einem Fünftel der Zeit muss man damit rechnen, im Funkloch zu stecken. Damit landet Deutschland im internationalen Vergleich der 4G-Verfügbarkeit in 87 Ländern auf Platz 54 zwischen dem Senegal und Marokko.
Im Deutschlandvergleich besonders schlecht abgeschnitten haben oft grenznahe Landkreise und Regionen mit relativ geringer Einwohnerdichte. Auch in Baden-Württemberg gibt es mehr Löcher als Netz, sobald man sich zu weit von der Region Stuttgart entfernt. Im Vergleich dazu steht Berlin noch relativ gut da. Zu 84 Prozent der Zeit haben die Nutzer eine LTE-Verbindung.
Opensignal hat für den Tagesspiegel nochmals separat die LTE-Verfügbarkeit für alle Berliner Ortsteile einzeln ausgewertet. Und siehe da: Während manche Randbezirke schon fast bei 100 Prozent liegen, klafft in der Mitte der Hauptstadt ein Funkloch. Auch hier haben die Nutzer in 20 Prozent der Zeit kein LTE-Netz. Man kann nur hoffen, das Merkel immer ein Festnetztelefon in der Nähe hat.
Dabei sind die Handyverträge im in Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich teuer. Wie kann das sein? Eine Erklärung liegt im Berliner Untergrund. Zum Leidwesen der Mehrheit der Berliner war mit einem guten LTE-Netzempfang spätestens am Eingang der U-Bahnhöfe Schluss. Bis vor einem Monat konnten allein Kunden von Telefónica im Untergrund auf LTE-Verbindungen hoffen.
Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen der BVG und den Netzbetreibern einigten sich alle Beteiligten vor einem Monat darauf, das LTE-Netz der Telefónica-Netz zukünftig gemeinsam zu nutzen und weiter auszubauen. Ab November dieses Jahres soll sich der Empfang unter der Erde so auch für Vodafone- und Telekom-Kunden deutlich verbessern.
Glaubt man den Netzbetreibern, sind diese auf dem Weg in die Vollversorgung bereits weit fortgeschritten: Gegenüber dem Tagesspiegel erklärte ein Sprecher der Telekom, das eigene Netz habe deutschlandweit eine LTE-Verfügbarkeit von „fast 98 Prozent“. Vodafone gibt die LTE-Abdeckung mit 94,5 Prozent an. Der O2-Konzern Telefónica spricht davon, „deutlich mehr als 90 Prozent“ der Bevölkerung mit LTE zu versorgen.
Wie kann es sein, dass die Ergebnisse von Opensignal so stark von den Angaben der Netzbetreiber abweichen?
Die Mobilfunkanbietern geben unterschiedliche Erklärungen. Telefónica verweist auf „diverse limitierende Faktoren“, die den Empfang des LTE-Netzes beeinträchtigen können, etwa wenn sich Kunden in Gebäuden, im Auto oder Bus befinden. Außerdem könne es vorkommen, dass Kunden mit LTE-Vertrag trotzdem Telefonate über bestehende 3G-Infrastruktur durchführen. In dieser Zeit wären sie nicht in einem LTE-Netz eingebucht, unabhängig davon, ob es eine gute LTE-Abdeckung vor Ort gibt oder nicht. Die Opensignal-App könnte dann aber diese Zeitspanne fälschlicherweise als Versorgungslücke aufzeichnen.
Auch Vodafone gibt an, dass die Dämmung moderner Gebäude den Mobilfunkempfang beeinträchtige. Gleichzeitig gebe es einige Kunden, deren Sim-Karte oder Handy schlicht zu alt sei, um LTE-Netze nutzen zu können. Dem entgegen steht das Argument von Opensignal, dass nur Handynutzer mit LTE-Vertrag und LTE-fähigem Gerät berücksichtigt wurden.
Ein Vodafone-Sprecher sagte, das Unternehmen nehme zudem eigene Messungen vor, die die Zeit erfassten, in der Kunden mit LTE-Vertrag auch tatsächlich in einem LTE-Netz eingebucht sind. So würde das Unternehmen Standorte ermitteln, „an denen sich häufig Kunden aufhalten, wo aber kein LTE verfügbar ist.“ Deutschlandweit würden sich Kunden laut den eigenen Messungen in 90 Prozent der Zeit auch tatsächlich im LTE-Netz befinden, erklärte der Sprecher.
Auch dieser Wert ist weit von den Analyseergebnissen von Opensignal entfernt. „Bisher sind die Erhebungsmethoden für 4G-Verfügbarkeit oft nicht unabhängig, weil sie im Auftrag von einzelnen Netzanbietern stattfinden“, sagt Gill von Opensignal.
Von der Telekom heißt es nur: „Das Netz der Telekom schneidet bei allen Tests am besten ab.“ Für eine bessere Netzabdeckung verweist ein Sprecher auf die bevorstehenden Ausbaupläne in der Berliner U-Bahn-Versorgung. Aber auch auf Probleme bei der Genehmigung neuer Standorte für Mobilfunkmasten. An 700 Stellen gebe es derzeit Probleme mit Denkmalschutz, Brandschutz oder Naturschutz. Auch der Widerstand der Bevölkerung ist ein Faktor. „Es ist ein Spagat“, sagt der Sprecher, „Viele Menschen wollen keinen Mast vor der eigenen Haustüre, fordern aber guten Mobilfunkempfang ein.“
Und warum sind dann die Verträge trotzdem so teuer? Telefónica schiebt das auf die hohen Lizenzgebühren für Mobilfunkfrequenzen in Deutschland: „In keinem Land Europas waren die Lizenzkosten für Mobilfunkspektrum so hoch wie in Deutschland“, schreibt ein Sprecher von Telefónica, die laut Analyse in Deutschland die lückenhaftteste Versorgung bieten. Außerdem hätten Flächenstaaten generell höhere Netzausbaukosten als Kleinstaaten. Auch Baukosten und das Lohnniveau seien in Deutschland in der Regel höher als im EU-Schnitt.
Ein weiterer Grund für die starken Unterschiede zwischen den Ergebnissen von Opensignal und den Angaben der Netzbetreiber: Während Opensignal angibt, die tatsächliche Verbindungsqualität des Handys gemessen zu haben, sind die Zahlen zur Mobilfunkversorgung zumeist auf dem Papier errechnete Versorgungswerte. Die Abdeckung des Netzes entspricht so der durch die Netzbetreiber gemeldeten Mobilfunkmasten in einer Region im Verhältnis der dort gemeldeten Bevölkerung.
Da die Versorgungsauflagen aber auf die Bevölkerungszahlen und nicht auf die Fläche umgerechnet werden, fallen dünn besiedelte ländliche Gebiete weniger stark ins Gewicht.
Verstärkend kommt hinzu, dass die Bundesnetzagentur auch nicht den tatsächlichen Empfang an einem Handy misst, sondern die Sendeleistung eines Mobilfunkmastes. Ein entscheidender Unterschied – denn selbst wenn ein Anbieter am Sendemast die geforderte Geschwindigkeit für seine Kunden bereitstellt, so müssen sich alle aktiven Geräte in der Umgebung die Sendeleistung teilen. Nicht nur, wenn in der Nachbarschaft ein Fußballspiel stattfindet, sind LTE-Netze so schnell an der Überlastungsgrenze angelangt.
Verstärkt wird diese Differenz zwischen rechnerischer Abdeckung und tatsächlich vorhandener Leistung noch von einem anderen Punkt: Schon heute teilen sich die drei Netzbetreiber in auf freiwilliger Basis wichtige Mobilinfrastruktur wie Netzknoten und Funkmasten. Im Sinne eines möglichst kostengünstigen flächendeckenden Ausbaus wird dies vom BMVI ausdrücklich begrüßt, solange „auch die Kunden der anderen Betreiber mitversorgt werden“.
Wenn allerdings der Daten- und Telefonverkehr über die LTE-Hardware nur eines Netzbetreibers verteilt wird, kann ein zusätzlicher Flaschenhals für die Geräte aller Mobilfunkkunden entstehen. So ist dann die am Mast gemessene Geschwindigkeit deutlich geringer als die, die am Endgerät ankommt.
Messweise hin oder her. Wie lässt sich der Flickenteppich nun schließen? Genau ein Jahr ist es her, als der für den Mobilfunk verantwortliche Minister Andreas Scheuer (CSU) in Berlin stolz die Lösung für alle Funklöcher in der Republik präsentierte: Die gemeinsame Erklärung zum Mobilfunkgipfel.
Dazu hatte der Chef des Ministeriums für Verkehr und Digitale Infrastruktur (BMVI) die Geschäftsführer von Telekom, Vodafone und Telefónica sowie Vertreter der Länder und Kommunen eingeladen. Und einen Deal eingefädelt, der die Netzabdeckung erheblich verbessern sollte: Bis Ende 2020 sollen 99 Prozent der Haushalte in Deutschland mit einer LTE-Basisversorgung von mindestens 50 Mbit/s versorgt werden, versprachen die Konzernbosse.
Für die Zusage räumte Scheuer im Gegenzug Zugeständnisse des Staats ein: Laxere Zahlungsbedingungen bei künftigen Frequenzversteigerungen und die Mitnutzung von bundeseigenen Mobilfunkmasten. Diese waren zuvor ausschließlich für den behördeneigenen Digitalfunk genutzt worden, etwa durch die Polizei. Dazu versprach er Bürokratieabbau bei Genehmigungsverfahren der Bundesnetzagentur. Auch stellte er eine Förderung des Netzausbaus auf Bundesebene in Aussicht – „in besonders unrentabel zu erschließenden Gebieten“, heißt es in der Vereinbarung.
Genügt der Regierungskoalition die Versprechen der Konzerne vom Mobilfunkgipfel aus dem Sommer 2018? Eher nicht. In einer Hau-Ruck-Aktion entschieden sich SPD und Union kurz vor der Sommerpause in einer gemeinsamen Klausur der Fraktionsspitzen für eine „Zukunftsoffensive für eine starke Mobilfunkinfrastruktur“. Teil des Pakets: Höhere Geldstrafen, wenn Telekommunikationsanbieter mit dem Ausbau nicht hinterherkommen, sowie die Schaffung eines „Mobilfunkatlas“, der die tatsächliche Mobilfunkversorgung vor Ort anzeigt. Eilig wurden beide Gesetzesverschärfungen in das aktuelle Änderungsverfahren des Telekommunikationsgesetzes (TKG) gepresst.
Nach der Sommerpause sollen dann zwei weitere Änderungen in das TKG einfließen. Einerseits will die Regierung eine eigene Mobilinfrastrukturgesellschaft (MIG) bilden – eine bundeseigene Gesellschaft, die Funklöcher durch den Bau staatseigener Mobilfunkmasten schließen kann, etwa, wenn der Ausbau der Mobilfunkversorgung durch die Netzbetreiber wirtschaftlich nicht vertretbar ist. Hier löst Scheuer ein Verspechen an die Wirtschaft vom Mobilfunkgipfel ein. Konkrete Pläne, wie viele defizitäre Funkmasten zukünftig durch den Steuerzahler unterhalten werden sollen, gibt es noch nicht.
Andererseits hat die Koalition noch immer nicht entscheiden, wie die Vorgaben der europäischen Telekommunikationsrichtlinie umgesetzt werden. Will man eine gesetzliche enge Pflicht zur gemeinsamen Nutzung der bestehenden Infrastruktur verankern, sogenanntes National Roaming? Den Neueinsteiger 1&1 würde dies freuen – alle anderen Betreiber lehnen dies kategorisch ab. Viel Zeit bleibt nicht: Laut EU muss der Harmonisierungsprozess bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein.
Während die LTE-Lücken noch lange noch nicht geschlossen sind, soll eine neue Technologie am Horizont auch gleich die Probleme der Gegenwart mit lösen. Denn durch 5G kommen neue Frequenzen hinzu, über die Mobilfunkmasten funken können. Es gibt also mehr Kanäle, auf denen die Sendemasten über die Luft Daten übertragen können, bevor die Daten in den Leitungen unter der Erde landen.
Aber, so Brandan Gill von Opensignal, ob das wirklich den Unterschied zwischen Stadt und Land verbessert, ist bislang offen. „Das superschnelle 5G wird sich im ländlichen Räumen kaum lohnen, da es nur gut 100 Meter weit reicht“, sagt er. Denn die kürzeren Funkwellen können zwar mehr Daten in kürzerer Zeit übertragen, sind aber auch empfindlicher gegen Umwelteinflüsse. Sie reichen dadurch nicht weit, erst recht nicht bei schlechtem Wetter.
Trotzdem könnte der Ausbau der Gesamtkapazität im Netz durch 5G auch bedeuten, dass sich die Netzqualität im ländlichen Raum verbessert. Denn mit der Versteigerung der 5G-Frequenzen haben die drei Netzbetreiber und der Herausforderer 1&1 zusätzliche Versorgungsauflagen übernommen, die sich auch mit LTE-Netzen erfüllen lassen. Zwar könnten auch hier theoretische und praktische Versorgungswerte erneut weit auseinander liegen, doch feststeht, dass alle Anbieter in den nächsten fünf Jahren erheblich in einen stärkeren Ausbau von LTE-Netzen investieren müssen.
Ein böses Erwachen könnte es allerdings für Handynutzer geben, die noch auf einen günstigen Tarif setzen, der ausschließlich die Nutzung der 3G-Netze beinhaltet. Denn während LTE-Netze auch langfristig zur Mobilfunk-Infrastruktur von Deutschland gehören, könnten die Betreiber bereits im nächsten Jahr mit einem massiven Rückbau der 3G-Versorgung beginnen, um zusätzliche Mobilfunkfrequenzen für 5G-Anwendungen frei zu räumen.
Brendan Gill verweist noch auf einen anderen Effekt, der zum Problem werden können: Die Geschwindigkeitsgewinne könnten schnell aufgefressen werden, weil Leute dann noch datenintensivere Anwendungen nutzen: „Das könnte den Unterschied zwischen Stadt und Land weiter verschärfen.“ Wenn die Steigerung der Nutzung schneller ist als der Aufbau zusätzlicher Kapazitäten, führen schnellere Netze im Extremfall also sogar zu einem schlechteren Nutzererlebnis.
Zum Beispiel so: In Berlin-Mitte gibt es 5G-Masten und die Handynutzer freuen sich dort, dass man nun auch 360-Grad-Videos ruckelfrei im Bus gucken kann, Videochats mit mehreren Familienmitgliedern gleichzeitig möglich sind und es nur noch Sekunden dauert, lange Videos zu verschicken. In dem schnelleren Netz geht das alles. Fahren die gleichen Leute nun nach Mecklenburg-Vorpommern in den Urlaub oder müssen regelmäßig in Frankfurt Oder arbeiten, werden sie die schlechtere Versorgung dort noch viel stärker empfinden.
Auch in den USA dämpfte Ronan Dunne, Executive Vice President des amerikanischen Telko-Riesen Verizon, auf einer Branchenkonferenz gerade die Erwartungen gegenüber dem neuen Zukunftsstandard: In den meisten Regionen von Amerika werde die 5G-Leistung lediglich „einem guten 4G-Netz“ entsprechen, mehr sei wegen der physikalischen Begrenzung durch die verwendeten Frequenzen nicht drin. Ein Szenario, dass auch für Deutschland gelten wird: Ultraschnellen Mobilfunk wird es abseits der Städte kaum geben.
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