Artikel teilen
teilen
Artikel teilen
teilen

Die Gedanken waren frei

Erinnerungen trügen, Papier bleibt. Wie haben vier Frauen aus Ost und West den Mauerfall erlebt? In ihren Tagebüchern finden sich die Antworten.
Erinnerungen trügen, Papier bleibt. Wie haben vier Frauen aus Ost und West den Mauerfall erlebt? In ihren Tagebüchern finden sich die Antworten.

Der menschliche Geist ist ein unzuverlässiger Zeuge. Er vergisst, er verdrängt, er formt und färbt. Das gilt um so mehr für Zeiten geschichtlicher Umwälzungen. Was habe ich gedacht, als 1989 die Mauer fiel? Was gehofft? Vieles gerät in der Rückschau durcheinander.

Tagebücher aus solchen Zeiten sind deshalb mehr als persönliche, sentimentale Begleiter, sie sind immer auch ein Stück Zeitgeschichte.

Im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen und im Berliner Tagebuch- und Erinnerungsarchiv in Treptow lagern diese Erinnerungsstücke. Tausende Dokumente, die von Schicksalen, Tränen und Träumen berichten. In Zusammenarbeit mit den Archiven haben wir einige dieser Dokumente ausgewählt und uns mit den Autorinnen über ihre Aufzeichnungen unterhalten. Durch Klicken auf eines der Portraits gelangen Sie direkt zu den Gesprächsprotokollen:

Es sind nicht nur schöne Erinnerungen, die in den Gesprächen hochkamen. In den Interviews, die wir persönlich und per Telefon führten, berichten die Autorinnen von Freude, von durchwachten Nächten vor dem Fernseher, vom ersten Döner.

Sie erzählen aber auch von verlorener Arbeit, verlorenen Freunden und Entfremdung. Sie erzählen vom Leben. So wie es damals war.

„Man ging in etwas Fremdes“

Berlin, den 3.12.89. „Neue Bilder im Kopf – Schlemmerläden, Glitzer, Flimmer, bunte Bilder, vor der Berliner Gedächtniskirche ein Bettler, er hält ein Stück Pappe in den Händen. Darauf steht: Ich habe Hunger. Bitte um eine kleine Spende. An anderer Stelle, mitten im Menschengewühle ein Krüppel. Man mag nicht hinschauen, so schaudert es einen. Vor dem bunten Budentreiben eine alte, dicke Dame. Sie hat um sich hängend Pappschilder, darauf steht „Rettet den Sex – Erst ficken, dann arbeiten“. Einige exaltierte Frauen diskutieren mit ihr. Und weiter an anderer Stelle, ein Marktschreier. Er spuckt und droht und schreit. Es geht um die Rettung der Seele, vor Konsumtion und Überfluss. Daneben ein Pfarrer. Er verteilt lächelnd und sich bedankend Handzettel. Ich hole mir auch einen. Überhaupt – Losungen, Flugblätter – Zeitungen – werden an allen Ecken verteilt. Die DDR-Bevölkerung ein neues Publikum. Vieles ist noch unfassbar. Man versteht es noch nicht. Man weiß es noch nicht einzuordnen. Hinter die Fassaden des Glanzes und des Lichtes schauen, nur so kann man sich dieser Stadt, diesem westlichen Teil einer Stadt, nähern. Als wir durch die Grenzanlage zurückgehen, erst einmal Erleichterung. Und auch Gefühl der Sicherheit. Die Bettler, Herumlungernden und schäbigen Typen – jagen einem Angst ein. Man ist ihnen schutzlos ausgesetzt. Keine Transportpolizei auf den Bahnhöfen der U- und S-Bahn. Das ist das Reich der Schutzlosen. Heute-Kommentar (im ZDF) (19.18 Uhr) „In der DDR ist Revolution. Eine gewaltlose Revolution. Und deshalb so beeindruckend. Nicht Staatsmänner machen hier Geschichte, sondern das Volk ...“ Von Karin Manke-Hengsbach. Foto: Mike Wolff

Frau Manke-Hengsbach, Sie haben die Wendezeit als DDR-Bürgerin in Berlin erlebt. Wovon haben Sie geträumt?

Wir haben alle mit der Hoffnung gelebt, dass es anders wird, dass endlich Schluss ist mit der DDR. Wir wollten freier sein. Wir haben ja alle nicht ehrlich gelebt.

Wie meinen Sie das?

Ich war damals im Berliner Haus für Kulturarbeit angestellt und habe immer mehr mitbekommen: Da stimmt was nicht. Wir haben unter anderem Moderatoren ausgebildet, die dann aufpassen mussten, was sie sagen. Unsere Direktoren, das waren sozusagen die Kapitalisten der DDR, waren auch gar keine Kulturmenschen. In Wirklichkeit haben die nur in ihren Büros gesessen und gebechert. In der DDR hatte jeder seine Pulle im Schrank. Einmal hatte ich einen Westjoghurtbecher als Stifthalter auf dem Schreibtisch, da wurde ich schon angezählt. Am 4. November war ich bei der Demonstration am Alex. Das war für mich das größte Ereignis. Da habe ich nur noch geheult. Man konnte dieses Glück kaum fassen.

Neben Euphorie und Glück liest man in ihren Erinnerungen auch immer von Unsicherheit und Angst.

Bei den Demonstrationen am Alexanderplatz gab es plötzlich Plakate, auf denen Politiker mit Eselsohren zu sehen waren. Die Leute haben sich öffentlich lustig gemacht. Das ist heute nichts Besonderes, aber damals gehörte unglaublicher Mut dazu. Ich hatte zu der Zeit einen guten Bekannten, der mich unglaublich enttäuscht hat, weil er sich als Oberleutnant freiwillig für die Demos in Leipzig gemeldet hat. Ich wusste ja, dass der da rumprügelt.

Sie haben auch in Berlin Ausschreitungen befürchtet.

Wenn ich nur an den 4. November denke, da stand Mensch an Mensch. Da hätte ja nur mal jemand ausflippen müssen. Wir hatten ja keine Erfahrung mit so etwas, wir kannten das nur aus dem Westfernsehen.

Sie denken an die Straßenschlachten der Studentenbewegung oder an die Chaostage in Hannover.

Ja, genau. Wir hatten Angst, dass man jetzt in etwas hineingerät, was man sich nicht vorstellen kann.

Wie haben Sie die Tage nach dem 9. November erlebt?

Es war eine Phase der Verunsicherung und Irritation. Das Ende der DDR war ein Zusammenbruch unseres Alltags. Von einem Tag auf den anderen stimmte alles nicht mehr. Bei aller Freude merkten wir, da ist etwas, das in unser Leben einbricht, das unser Leben zerstören könnte. Es hatte etwas von Krieg. Ich hab damals in der Warschauer Straße in Friedrichshain gewohnt. Von einer Nacht auf die andere war der Bäcker mit Leucht- und Westreklame behangen, wo vorher alles trist war.

Ein hochbegabter Puppenspieler, den ich als Kulturtante betreut hatte, mussten plötzlich in der S-Bahn für ein paar Euro Quatsch machen. Das war schon ein Schock. In der DDR wurden die ja alle versorgt. Da gab es Gelder für. Für mich war es ein großer Prozess der Trauer, zu sehen, wie meine Leute, die so viel konnten, auf einmal nichts mehr wert waren. Das hat mir sehr weh getan.

Welche Folgen hatte die Wende für Sie persönlich?

Der einzige Verlust, aber der war ein großer, muss ich zugeben, war, dass ich meinen Uniabschluss nicht mehr machen konnte. Ich hatte nach einer Buchhändlerlehre an der Humboldt-Universität Ethnologie studiert. Plötzlich waren alle Professoren abgesetzt und es hieß: April, April. Die vier Semester, die ich studierte hatte, damit konnte ich nichts mehr anfangen. Das war sehr ärgerlich.

Wie empfanden Sie den ersten Kontakt mit den Westdeutschen?

Mitunter hat man sich gefühlt wie im Zoo. Ich hab damals in der Leipziger Straße gearbeitet, und wir sind dann, als der Checkpoint offen war, immer in der Mittagspause rüber und haben da unseren Döner geholt. Den kannten wir vorher nicht. In der Nähe stand auch einer der großen Supermärkte. Dort waren von einem Tag auf den anderen alle Ostprodukte aus- und Westprodukte eingeräumt worden. Ich stand da und war völlig überfordert. Es gab vorher nur eine Sorte Joghurtbecher. Und ich gucke wahrscheinlich so baff, weil ich nicht weiß, was ich nehmen soll, und während ich da stehe, filmt mich ein Kameramann vom Fernsehen. Da war ich wirklich sauer. Wir waren keine Dämels! Wir waren einfach anders, weil wir nicht dieselben Möglichkeiten hatten.

Karin Manke-Hengsbach heute...
... und damals. Fotos: Mike Wolff

Im Eintrag vom 3. Dezember 1989 schreiben Sie von einem Besuch an der Gedächtniskirche. Sie sehen Bettler, eine Frau mit einem Schild, auf dem „Rettet den Sex!“ steht. Ihre Irritation ist mehr als deutlich.

Mich hat das richtig erschüttert. Ich dachte, was es alles gibt, was die sich alle trauen, dürfen die das? Also, wir waren vielleicht schon ein bisschen primitiv. Aber wir wussten es nicht besser. Heute könnte man sich schämen, dass man sich so komisch verhalten hat, dass man so prüde war. Dabei war kein Ostler prüde. Jeder hatte seine Affären. Das war bekannt. Allerdings sprach man nicht darüber.

Am Ende fliehen Sie fast zurück nach Ost-Berlin. Sie schreiben: „Als wir durch die Grenzanlage zurückgehen, erstmal Erleichterung“.

Ich bin auch erst spät rüber, ich hatte Angst. Mindestens eine Woche hat es gedauert. Und es war ja auch alles anders, die Geschäfte waren anders, die Leute sind anders gegangen, das ganze Leben war anders. Man ging in etwas Fremdes. Im Westteil war nichts Vertrautes. Dann war man zurück, und da war alles altbekannt. Aber das hat sich ja dann wie gesagt auch in einem Monat verändert.

Das Leben im Westen war anders, haben Sie gesagt. Wie meinen Sie das?

Man musste mehr aufpassen. Bei uns hat man sich zum Beispiel nicht beklaut. Als ich das erste Mal vom Ostbahnhof in den Westen fahren wollte, drängelte sich jemand an mich. Ich überlegte noch, warum schiebt der so? Später wusste ich, warum. Alles weg. Ausweise, Karten. Ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.

Haben Sie dann schnell Leute aus dem Westen kennengelernt?

Ja, übers Radio wurden damals Kontakte vermittelt. Ich habe mich da gemeldet. Spontan. Man hat damals ja vieles spontan gemacht. Bei meinem ersten Besuch in Köln hat mich meine neue Bekannte, mit der ich immer noch befreundet bin, dann ihren Freundinnen vorgestellt. Dabei war eine, die immer Weltreisen machte, und die hat uns eingeladen auf ein Glas Sekt. Klingt doch gut, dachte ich. Doch dann hat sie uns stundenlang Dias gezeigt. Wissen Sie, wie langweilig das ist, wenn man da immer nur hinguckt? Und dann ein Glas Sekt! Buchstäblich ein Glas Sekt! Das wäre für einen DDR-Bürger nicht möglich gewesen. Da wäre der Tisch gedeckt gewesen, und wenn die nichts gehabt hätten, dann hätten sie Schmalzstullen hingelegt.

Sind die Unterschiede geblieben?

Ja, ein bisschen.

Frau Manke-Hengsbach, seit 2012 leiten Sie das Berliner Tagebuch- und Erinnerungsarchiv. Wie kam es dazu?

1993 habe ich beim Heimatmuseum Treptow angefangen und habe dabei viel mit Zeitzeugen gearbeitet. Die Leiterin hatte aber immer nur ihre Ausstellungen zur Stadtgeschichte im Sinn und hat sich für viele private Sachen, die die Leute zu erzählen hatten, nicht interessiert. Ich bin dann zu all den Leuten hier in Johannisthal und Umgebung, die um die 80 und 90 Jahre alt waren. Die konnten dann endlich mal erzählen. Ich hab Massen von Material bekommen. Briefe, Dokumente, die haben ihre Schubkästen geleert und sich gefreut, dass sich mal endlich jemand für ihre Leben interessiert.

Sie machen das allein?

Ja, wir haben zwar den Verein, viele sind aber nur zahlende Mitglieder. Auf Dauer ist das keine wirkliche Lösung.

Unterstützt Sie der Bezirk nicht?

2006 habe ich das Bundesverdienstkreuz bekommen, aber vom jetzigen Bezirksbürgermeister kommt nichts. Ich glaube, der kriegt jetzt von mir nochmal einen Brief …

Wenn Sie Ihre Aufzeichnungen von 1989 lesen, erkennen Sie die Person, die das geschrieben hat, wieder?

Ja. Ich war halt schon sehr geprägt durch meine Kindheit.

War die der Grund, aus dem Sie angefangen haben, Tagebuch zu schreiben?

Wahrscheinlich. Ich hatte keine besonders schöne Kindheit. Ich wurde 1946 geboren. Meine Eltern hatten den Krieg hinter sich und die nationalsozialistische Erziehung: Disziplin, Ordnung, Strenge! Das war eine schlimme Zeit, als Mädel sowieso. Man durfte nicht heulen, keine Schmerzen zeigen. Meine Mutter hat sich überhaupt nicht um mich gekümmert, hat sich nur in der Küche verkrochen. Mit meinem Vater musste ich immer Karten spielen. Das hasse ich bis heute! Ich wollte viel lieber Schulaufgaben machen. Und lesen, lesen, lesen. Aber das wurde mir verboten.

Das Schreiben war ein Ventil?

Eine absolute Flucht war das. Ich Erfurt gab es eine tolle Bücherei. Der Bibliothekarin dort habe ich eigentlich mein ganzes Leben zu verdanken. Mit 13 oder 14 hat sie mir „Das Tagebuch der Anne Frank“ gegeben. Da habe ich sofort gemerkt, das ist es. Dann habe ich selbst angefangen zu schreiben. Ich habe einfach ein Schulheft genommen.

Als mein Vater das in die Hände bekam, haute er es mir um die Ohren, weil ich teures Papier vergeudet hätte, das für die Schule gedacht war. Dann haben meine Eltern das Tagebuch vor meinen Augen zerrissen. Wahrscheinlich waren sie auch wütend, weil ich natürlich auch reingeschrieben hatte, welche Probleme sie mir bereiteten. Ich habe mich da halt voll an die Vorgaben von Anne Frank gehalten. Und da bin ich eigentlich mein Leben lang bei geblieben.

Eigentlich?

Ich hatte dann nochmal eine Phase, wo ich unterbrechen musste. Da habe ich den falschen Mann geheiratet. Passiert manchmal. Der hat meine Tagebücher alle vernichtet, verbrannt. Er wollte, dass ich sozusagen unbeleckt in die Ehe gehe. Spinner. Mir tut es leid um die Erinnerungen. Ich hätte gerne nochmal gelesen, was ich damals so gedacht habe zwischen 15 und 18. Wir haben geheiratet, da war ich 21. Naja, es ging dann nicht gut mit der Ehe. Und als ich mich habe scheiden lassen, habe ich wieder viel geschrieben.

Bis heute?

Ja, aber nicht mehr so intensiv. Es gibt andere Möglichkeiten. Heute schreibe ich eher Briefe. Aber wenn etwas Zeitgeschichtliches passiert, dann halte ich das fest. Sachen zur Klimadebatte oder aus der Politik. Ich bin 73, da ist das nicht mehr so ein Bedürfnis, seinen ganzen Seelenschleim aufzuschreiben. Aber mein Anspruch ist immer noch: Ich halte das, was passiert, fest. Ganz ehrlich und offen.

Karin Manke-Hengsbach, 73, wurde in Erfurt geboren und leitet heute das Berliner Tagebuch- und Erinnerungsarchiv in Johannisthal/Treptow

„Dieser Stolz ist geblieben“

„Donnerstag, 9.11. „Gerade den Rest der heutigen Pressekonferenz mit Schabowski gesehen. Ab sofort sind für die ,ständige Ausreise‘ alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und W.-Bln. geöffnet, damit die CSSR nicht mehr so belastet wird. Heute allein wieder 11 000 Menschen abgehauen. In diesem Jahr insgesamt schon über 250 000, also eine Viertelmillion! – Ich bin ganz kaputt u. habe Kopfschmerzen. Die Woche war sehr aufregend, die Arbeit anstrengend (Kowalski, Händel, Italienische Kantaten).“ Freitag, 10.11. Früh 6.30. Ich höre im Radio, dass die Grenze auch für Reisende im Moment völlig offen ist!! Bis zum Reisegesetz. Irre!!!! Ist die Mauer so gut wie weg? Sonnabend, 11.11. Ja, sie ist so gut wie weg. Tausende reisten heute über alle Grenzübergänge, um nun endlich einmal zu sehen, wie es „drüben“ aussieht. Es mutet an wie Sciencefiction. Kilometerlange Staus von Trabbis auf einem Tagesausflug nach Helmstedt, tanzende DDR-Leute auf dem Ku’damm. Blumen für die Grenzsoldaten. Man denkt noch, es ist alles nur ein Traum. Gestern Mittag im RB hörte ich Rufe u. Pfiffe u. das Getöse einer großen Menschenmenge am Brandenburger Tor, u. das Herz blieb uns stehen, weil ich Angst hatte, alles gerät außer Kontrolle und unsere Leute werden aggressiv. Mit Lianne habe ich mich dann kurz entschlossen auf den Weg gemacht, u. wir waren wild entschlossen, uns beruhigend in die Menge zu werfen. Das war dann aber zum Glück nicht nötig. Diesseits des B. Tors nur ca 200 strahlende friedliche Menschen, jenseits aber die Mauer über u. über besetzt von zumeist jungen Leuten, die winkten, pfiffen u. schrien. Eine nicht ganz einfache Situation für die VP. In der Nacht soll es dann doch sehr schwierig geworden sein, u. jetzt können wir nur hoffen, daß drüben keine Berufsrandalierer unserer neugewonnenen Freiheit Schaden zufügen. Die Menschen hier sehen auf einmal ganz anders aus: strahlende, freundliche Gesichter, jeder spricht mit jedem. Es ist dies wirklich ein historischer Moment. (...) Auf einmal ist man wieder richtig stolz, ein DDR-Bürger zu sein.“ Von Hildegard Miehe. Foto: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen

Die Wende habe ich verschlafen. Ich war damals zum Arbeiten in Berlin. Abends kam ich erledigt und kaputt vom Schneideraum des Klassiklabels Eterna ins Hotel, das große am Alex. In den Nachrichten habe ich gerade noch Schabowski gesehen. Ich habe das aber nicht ernst genommen. Ich habe gedacht, ja, dann kann ich ja irgendwann beantragen, auch mal nach Westdeutschland zu fahren und bin ins Bett gegangen. Erst als ich am nächsten Morgen aufgewachte, hab ich im Radio von dem Wahnsinn erfahren.

Die Wochen davor hatte es ja schon überall gebrodelt. Die Demonstrationen … Ich habe in Dresden erlebt, wie die Züge von der Prager Botschaft nach Westdeutschland fuhren. Wir lebten damals in einem Zustand permanenter Aufregung. Man wusste nicht, wo das alles hinführt. Manchmal musste ich eine Tablette nehmen, um schlafen zu können.

„Ich hatte keine Eile“

Ich bin dann vom Hotel zur Arbeit. Na ja, so richtig gearbeitet haben wir nicht an dem Tag. In der Mittagspause ging ich zum Brandenburger Tor, und da habe ich das dann gesehen: Die Leute auf der Mauer, der blaue Himmel, irre. Rüber bin ich aber nicht. Ich hatte keine Eile. Ich wusste, es kann jetzt nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Erst zwei Wochen später, als ich wieder dienstlich in Berlin war, bin ich über die Grenze, und habe mir den „VEB Deutsche Schallplatten“ , in dem ich arbeitete, einmal von der anderen Seite angesehen. Die kannte ich bis dahin nur als Spiegelbild in den Fenstern des Reichstages.

Hildegard Miehe heute...
... und damals. Fotos: privat

Später bin ich mit einem Kollegen den Ku’damm entlanggebummelt. Ich habe vieles wiedererkannt. Es sah dort ja oft noch aus wie vor 1961. Damals war ich oft in West-Berlin. Ich hatte dort Bekannte und einen Cousin. Vom Begrüßungsgeld habe ich den ersten Döner meines Lebens gegessen. „Auf einmal ist man wieder richtig stolz, DDR-Bürger zu sein“, notierte ich damals in mein Tagebuch.

„Das große Nichts“

Die DDR war ja so ein verdruckstes Land. Wer aufmuckte, der wurde bestraft. Und dass die Leute selber gesagt haben: „Das wollen wir nicht mehr!“, das hat mich beeindruckt. Dieser Stolz ist geblieben, auch wenn ich heute, wenn ich an Dresden denke, an die AfD und den ganzen Mist, manchmal glaube, dass man eigentlich keinen Grund hat, stolz zu sein. Das stimmt mich alles eher traurig.

Es ist im Osten natürlich etliches schief gelaufen.

Es ist viel zerschlagen worden damals, und es haben sich auch viele Westdeutsche Sachen unter den Nagel gerissen. Wir waren ja auch viel zu blöd. Wir wussten gar nicht, wie das alles funktioniert. Da ist viel Unrecht passiert.

Für mich persönlich hatte der Fall der Mauer erstmal schwierige Konsequenzen. Kurz vor meinem 50. Geburtstag wurde Eterna dicht gemacht. Danach das große Nichts. Der Kollegenkreis war weg, auch mein Selbstwertgefühl, weil ich dachte: Was ich kann, wird nicht gebraucht. Ich hatte Kirchenmusik studiert, jahrelange Berufserfahrung als Schnittmeisterin und wurde dann eingestuft als Bürohilfskraft. Ich habe eine ABM gemacht, einen Computerlehrgang, noch eine ABM. Dann wieder lange nichts. Furchtbar.

„Ich bin schon immer viel Fahrrad gefahren“

Psychisch gerettet hat mich eine Ausbildung für die Telefonseelsorge. Das war ehrenamtlich, aber eine anspruchsvolle Tätigkeit, und ich habe dabei ganz viele Menschen kennengelernt. Ende der 90er Jahre bekam ich dann nochmal zwei 35-Prozent-Stellen in den Büros zweier Kirchgemeinden in meiner Ecke hier in Dresden, so dass ich mich noch durchretten konnte.

Trotzdem habe ich mir die DDR nie zurückgewünscht. Das hat nicht nur, aber doch auch mit dem Reisen zu tun. Ich bin schon immer viel Fahrrad gefahren und so träumte ich einmal, ich stünde mit meinem Fahrrad auf der Brooklyn Bridge. Nach New York bin ich nun nicht mehr gekommen, aber doch nach London. Die Reise hatte mir meine Schwester im Westen, die mich in den schweren Jahren immer unterstützt hat, zum 50. Geburtstag geschenkt. Und als ich dann über die Tower Bridge ging, dachte ich, jetzt musst du nicht mehr nach New York fahren. Der Traum hatte sich erfüllt.

Hildegard Miehe, 78, wurde in Torgau geboren und lebt in Dresden. Zur Wendezeit arbeitete sie als Schnittmeisterin beim Klassiklabel Eterna.

„Wir hatten Angst, dass das in Gewalt enden könnte“

12.11.89 „Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit“ Rousseau. Die Grenze zw. BRD+DDR ist offen, auf der Mauer tanzen die Leute: Schöne, rührende Bilder im Fernsehen; man muss sich vorstellen, wie undenkbar das bis vor kurzem war, um ein Gefühl für das Sensationelle, für den geschichtlichen Moment zu bekommen. Wie merkwürdig willkürlich, theaterhaft ein Zwang, der plötzlich so ohne Weiteres aufgegeben werden kann. Warum wollen alle „zu uns“? Nur weil es verboten war, aber auch, weil es hier Dinge gibt (Bananen!), in Berlin zwei Straßen weiter, die sie so lange – aus reiner Willkür? – entbehrt haben. Realität, so scheint es, ist eine willkürliche Festsetzung. Aber ist der Überfluss hier „normal“,das, was sich von selbst einstellt, wenn man es nicht verhindert?“ Von Sabine Brandenburg-Frank. Foto: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen

Frau Brandenburg, in Ihren Tagebüchern schrieben Sie eher selten über Politik. Die Wende allerdings nimmt viel Platz ein.

Ich war auch erstaunt, wir sehr mich das beschäftigt hat, aber man hat damals ja auch mit Gänsehaut vor dem Fernseher gesessen. Man muss sich vor Augen führen, wie verrückt das eigentlich war. Wie wenig man sich das vorher hatte vorstellen können, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie epochal dieses Ereignis war. Für uns, die wir immer BRD-Bürger waren, war das Thema Wiedervereinigung eigentlich tabu. Die Teilung war die Strafe für die Verbrechen der Nazi-Herrschaft. Das galt als Status quo, der sich niemals ändern wird. Und wenn doch, dann wäre es eher negativ gewesen, glaubten wir.

Wieso negativ?

Die Leute, die das im Westen propagiert haben, standen ja eher am rechten Rand.

An einer Stelle schreiben Sie: „Auch die Veränderungen ,drüben‘ sind zweischneidig, können jeden Moment ins Katastrophale umkippen. Erstaunlich, wie friedlich bis jetzt alles ging“. Woher kam die Sorge vor Ausschreitungen?

Neben der Freude spürten wir auch Angst. Angst, dass das alles in Gewalt enden könnte, von welcher Seite aus auch immer. Ich bin 1957 geboren. Meine Generation hatte noch die Bilder vom Einmarsch der Russen 1968 in Prag im Kopf. Auch 1989 hat man gedacht: Naja, so einfach wird das weder die DDR-Regierung noch die Sowjetunion passieren lassen. Da kommt dann vielleicht ein Panzer angefahren und setzt alles wieder auf Null. Das war eigentlich unglaublich, dass das so friedlich und toll vonstatten ging.

Sabine Brandenburg-Frank heute...
... und damals. Fotos: privat

Sie schreiben über die Wende auch aus philosophischer Sicht. „Realität, so scheint es, ist eine willkürliche Festsetzung“, notierten Sie am 12. November. Wie war das gemeint?

Ich fand es beeindruckend, dass man ein politisches System und seine ganzen Zwänge und ideologischen Vorgaben einfach so fallen lassen kann. Von jetzt auf gleich ist es dann so, als hätte es das alles nie gegeben. Etwas, nach dem viele Leute viele Jahre leben mussten oder auch wollten, ist einfach verpufft. In dem Sinne finde ich schon, dass unsere Realität, auch die politische, ein Konstrukt ist. Und ich beziehe das auch durchaus auf unser eigenes System. Stimmt es, dass alles so wird wie bei uns im Westen, wenn man es einfach laufen lässt? Konsum, Kapitalismus … Schon damals habe ich geschrieben, dass wir uns hoffentlich irgendwann mal einschränken müssen. Inzwischen sehen wir ja, dass es so nicht mehr weitergeht, wie wir wirtschaften und leben. Andererseits war auch die DDR das Gegenteil von nachhaltig, die haben ja auch die Umwelt überhaupt nicht geschont. Eigentlich war das ein Staatskapitalismus, der genauso rücksichtslos vorging oder noch rücksichtsloser.

Sind Sie gleich nach der Maueröffnung in den Osten?

Ich muss ehrlich sagen, dass ich erst vor drei oder vier Jahren das erste Mal da war. Es gab nicht so das Bedürfnis. Ich habe damals in Düsseldorf gelebt, und wir waren ja schon sehr weit weg davon, also räumlich. Die Familie meines Mannes stammt aus Glauchau in Sachsen. Da ist bis heute nicht viel Kontakt. Die Entfernung ist groß. Als eine Schwester meines Mannes nach Berlin zog, sind wir dann mal hin und haben uns dabei auch Weimar und Jena angeschaut.

Wie war ihr Eindruck?

Ich fand da keinen großen Unterschied. Das war alles so wie bei uns. Auch Dresden, sehr schön renoviert. Natürlich sind wir eher an touristische Plätze gefahren, wie es im Hinterland aussieht, weiß ich nicht.

Sabine Brandenburg-Frank, 62, lebte zur Wendezeit in Düsseldorf. Heute arbeitet sie als Winzerin und Schmuckdesignerin in Staufen.

„Der Frust im Osten hat uns die AfD beschert“

9. November 1989 (geschrieben am 21.11.89) „Novemberrevolution! Reichspogromnacht! – der November hat’s in sich. Gedenktage. In diesem Jahr liefert der November wieder Geschichte!: Massendemonstration in Ostberlin mit einer Million Menschen am 4. November – und 5 Tage später – in der Nacht vom neunten auf den zehnten November Öffnung der Berliner Mauer für freien Durchgang von Ost nach West und von hüben nach drüben. Unvorstellbar noch vor wenigen Wochen! Die ganze Nation sitzt am Fernseher und schaut zu, wie sich die Tausenden durch die bisher scharf bewachten Grenzübergänge in Berlin drängeln und wie sich Ostler und Westler weinend vor Glück um den Hals fallen. 28 Jahre lang waren die Berliner voneinander getrennt durch die Mauer und rigide Bürokratenverordnungen. Jetzt reißen DDR-Bulldozer Stücke aus der Mauer, teeren im Schnellverfahren Verkehrswege durch den Sand des Todesstreifens und geben den (fast noch dampfenden) Weg frei für die wartenden Menschenmassen. Es ist nicht zu fassen! Hier findet Revolution im Sinne von Umwälzung statt ohne Blutvergießen! Erzwungen von den Menschen auf der Straße, unter dem Eindruck des Weglaufens von hunderttausend jungen Leuten aus der DDR. Der Jubel ist groß! Auch wir vor unserem Fernsehen sind fasziniert von dem, was sich vor unseren Augen ereignet. Nur mischt sich in die Freude, die uns bewegt, die Sorge, es könnte letztendlich die D-Mark als einzig Jubilierende aus der Umwälzung in der DDR hervorgehen.“ Von Heidi Crämer. Foto: Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen

Weil mein Mann in den 60er Jahren Gemeindepfarrer in der Oberpfalz war und wir uns beide sehr für den Abbau der Spannungen zwischen Ost und West einsetzten, hatten wir damals engen Kontakt zur Christlichen Jugendarbeit Berlin. Deren Sommerlager fanden auf unserem Gemeindegrund statt. Bei den täglichen Gesprächen atmeten wir Berliner Luft und Frust aus erster Hand. 1964 gingen wir eine Partnerschaft mit einer DDR-Gemeinde ein.

„Wir waren junge Pfarrleute“

Im Januar 1965 erreichte uns per R-Gespräch die Bitte des Pastors unserer Partnergemeinde, er befinde sich mit seiner Familie im Auffanglager Friedberg, eine genehmigte Ausreise aufgrund einer angeblichen Krankheit. Er bat uns, ihm eine Einladung zu schicken, damit er mit seiner Familie das Auffanglager verlassen könne.

Wir ahnten nicht, dass mit unserem Telegramm die Verantwortung für diese Familie mit drei kleinen Kindern auf uns privat umverlagert wurde. Nur mit Hilfe des Chefs der Inneren Mission Nürnberg konnten wir aus dieser Falle gerettet werden.

Heidi Crämer heute...
... und damals. Fotos: privat

Die Familie lebte etwa drei Wochen auf unsere Kosten, Bohnenkaffee inklusive, den wir uns selbst nie geleistet hatten. Wir waren junge Pfarrleute, lebten mit bescheidenem Gehalt. Von einer Bewerbungsreise nach Nordrhein-Westfalen heimkehrend berichtete der Mann genüsslich, sich endlich einmal Schlafwagen gegönnt zu haben (für uns unvorstellbar!).

„Die Freude war groß“

Nach dem Mauerfall haben wir aber auch ganz andere Erfahrungen gemacht. Im Januar 1990 hatten wir Besuch von einem Pastor aus der DDR. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: „Rührend ist die verbale Unbeholfenheit des Mannes. Er scheint sich gehemmt zu fühlen im Rahmen unserer eloquenten Westlichkeit? Es war nicht verbale Unbeholfenheit, der Mann glaubte, sich entschuldigen zu müssen, dass er sich für den Sozialismus engagiert hatte.“

Vor 30 Jahren war die Freude über die Wiedervereinigung groß, auch bei uns. Groß war aber auch unser Ärger über die Heuchelei: „Widerlich in unseren Ohren ist das Jubilieren unserer Presse und unserer Politiker“, notierte ich in meinem Tagebuch.

„Auch unsere Transparente waren handgemalt“

„Wo bei unseren Großdemonstrationen gegen die Atompolitik unserer Regierung ,vorwiegend Jugendliche‘ am Werk waren und ,randalierten‘ und die Politiker ihre Ehre darin sahen, ,sich von der Straße nicht unter Druck setzen zu lassen‘, da wird im Hinblick auf die Demonstrationen in der DDR voll Begeisterung von ,handgemalten Transparenten‘ (auch unsere waren handgemalt) und von der Kreativität der Demonstranten geschwärmt.“

Ich erinnere mich, dass in der ersten Fernseh-Gesprächsrunde aktiver Gruppen der DDR der Vertreter vom Neuen Forum der einzige war, der sagte, die Öffnung der Mauer sei zu überstürzt gekommen. Dass die Wende tatsächlich zu überstürzt vollzogen wurde, dürfte heute niemand mehr anzweifeln. Der Frust im Osten hat uns die AfD beschert.

Heidi Crämer, 83, stammt aus Ravensburg und engagierte sich seit den 60er Jahren für den Abbau der Spannungen zwischen Ost und West.

Über das Rechercheteam

Moritz Honert
Interviews, Text & Recherche
Moritz Honert ist Mitglied der Sonntagsredaktion des Tagesspiegels. Als Diplom-Soziologe schreibt er vor allem über Themen aus den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft.
Hendrik Lehmann
Online-Produktion
Hendrik Lehmann leitet das Tagesspiegel Innovation Lab. Er arbeitet am liebsten zu urbanen Themen wie Digitalisierung, Verkehrswende, Klima oder der Frage, wie wir zusammenleben wollen.
David Meidinger
Webentwicklung
David Meidinger arbeitet im Tagesspiegel Innovation Lab als Redakteur für Softwareentwicklung. Er entwickelt Visualisierungen und wertet am liebsten große Datenmengen mithilfe von Maschinellem Lernen aus.
Veröffentlicht am 8. November 2019.