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Die Opfer des
rechten Präsidenten
Die rassistischen und homophoben Aussagen des brasilianischen Präsidenten provozieren Übergriffe im Land. Fünf Berichte.
Die Opfer des
rechten Präsidenten
Die rassistischen und homophoben Aussagen des brasilianischen Präsidenten provozieren Übergriffe im Land. Fünf Berichte.

Die rassistischen und homophoben Aussagen des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro provozieren Übergriffe im Land. Fünf Berichte.
Die rassistischen und homophoben Aussagen des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro provozieren Übergriffe im Land. Fünf Berichte.

Es passierte dort, wo Marcello Santanna sich sicher fühlte: auf dem Weg nach Hause. Einfach so schlug der Busfahrer zu. Weil Marcello einen Mann küsste.

Lange galt Brasilien als vorbildlich, wenn es um die Rechte der LGBTQI-Community ging. Seit 2013 gibt es die Ehe für alle, gleichgeschlechtliche Paare dürfen Kinder adoptieren, trans Personen können ihr Geschlecht anpassen lassen.

Doch seit vergangenem Jahr fürchten Schwule und Lesben im Land um ihre Rechte. Auch in der afrobrasilianischen Community haben viele Angst. Denn in den sozialen Medien häufen sich Berichte von Übergriffen – auf Schwarze, Homosexuelle, trans Personen. Seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten ist vieles anders.

Wir haben mit fünf Menschen in Sao Paolo gesprochen, die Opfer solcher homophoben oder rassistischen Attacken wurden. Das sind ihre Geschichten:

Jair Bolsonaro, im Oktober 2018 zum Präsidenten des größten Landes Lateinamerikas gewählt, seit Januar 2019 im Amt, hat mehrfach Homosexuelle attackiert. „Wenn ich sehe, wie sich zwei Männer auf der Straße küssen, werde ich sie schlagen“, sagte Bolsanoro vor Jahren in einem Interview. Einmal erklärte er, einen toten Sohn würde er einem schwulen vorziehen. Auch Schwarze und Ureinwohner Brasiliens hat er beleidigt. „Sie tun nichts. Ich glaube, sie taugen noch nicht einmal zur Fortpflanzung“, sagte er beim Besuch eines Quilombo, einer traditionellen Siedlung von Afro-Brasilianern.

Solche Worte bleiben nicht ohne Folgen. Selbst in São Paulo, der Zwölf-Millionen Metropole, die als kulturelle Hauptstadt Brasiliens gilt, liberal und weltoffen. Jedes Jahr ziehen hier bei der weltweit größten Pride-Parade mehrere Millionen Menschen über den Boulevard „Avenida Paulista“.

Es gibt keine verlässlichen Statistiken

Doch allein im ersten Quartal 2019 sind im Vergleich zum Vorjahr die gemeldeten Fälle von Übergriffen auf LGBTQI in São Paulo um 24 Prozent gestiegen. Und die Dunkelziffer ist weit höher, denn viele Betroffene melden die Vorfälle nicht.

Seit Mai 2019 gilt per oberstem Gerichtsentscheid Homophobie offiziell als Verbrechen. Trotzdem werden Übergriffe und Beleidigungen solcher Art meist nicht korrekt eingeordnet. Dabei ist Brasilien das Land mit der höchsten Mordrate an Personen der LGBTQI-Community – und das bereits seit einigen Jahren: 2019 wurden 124 trans Personen getötet. 82 Prozent von ihnen waren schwarz.

Die Mehrheit der Brasilianer, 54 Prozent, identifiziert sich als schwarz oder People of Color. Auch die Angaben zu rassistischen Übergriffen sind lückenhaft. Oft wertet die Polizei sie nicht als rassistisch. Aber 75 Prozent der Mordopfer sind schwarz.

Menschenrechtler wie Thiago Amparo befürchten, dass sich die Lage verschlimmern könnte. Amparo unterrichtet an der Fundação Getulio Vargas-Hochschule in Sao Paulo und beobachtet die Lage in Brasilien unter anderem in Zusammenarbeit mit der Oxford University in England. „Unter Bolsonaro haben rassistische und LGBT-feindliche Kommentare sowie seine Demontage von Antidiskriminierungsmaßnahmen Angst ausgelöst“, sagt Amparo. Bereits während des Wahlkampfes von August bis Oktober 2018 waren die gemeldeten Fälle von Diskriminierungen in São Paulo um 75 Prozent gestiegen.

Als Präsident ernannte Bolsonaro einen Rassisten zum Leiter der Palmares-Kulturstiftung, deren Aufgabe die Förderung der afro-brasilianischen Kultur ist. Mit seiner Politik zur öffentlichen Sicherheit versucht er seit Amtsantritt, der Polizei neue Befugnisse einzuräumen. „Bolsonaros Sicherheitspolitik konzentriert sich darauf, die Polizei zum Töten zu befähigen“, sagt Amparo.

An seinem ersten Tag strich Bolsonaro LGBTQI-Rechte als konkreten Bereich aus dem Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte. „Zum ersten Mal seit der Demokratisierung unseres Landes ist der Hass eine staatliche Politik“, sagt Amparo. Die hasserfüllten Worte haben Folgen. In fünf Protokollen erzählen sie selbst, welche Übergriffe sie erleben mussten.

„Er traf mich mitten im Gesicht“

Marcello Santanna, 23 Jahre, Schauspieler

Im diesem Park geht Marcello Santanna trainieren. Nur wenige Kilometer entfernt attackierte ihn ein Busfahrer. Foto: Patrícia Monteiro

Es war ein schöner Abend. Gemeinsam mit meiner Cousine war ich in der Nähe der Avenida Paulista im Zentrum São Paulos tanzen. Früh am nächsten Morgen nahmen wir den Bus zurück in den Osten der Stadt. Seit 20 Jahren fahre ich mit dieser Linie, ich bin in dieser Gegend aufgewachsen.

Wir waren zu dritt, ein gemeinsamer Freund war noch dabei. Meine Cousine ist lesbisch, unser Freund ebenfalls schwul, und wir waren glücklich, dass wir zusammen ausgehen konnten – im Gegensatz zu anderen Leuten, die ihre Sexualität verstecken müssen.

Ich war schon ausgestiegen

Im Bus saßen wir zu dritt nebeneinander, alberten herum, spielten am Handy. Irgendwann gab unser Freund mir einen Kuss auf den Mund. Kurz danach fing meine Nase an zu bluten. Das Blut tropfte auf meine Jacke, und er begann liebevoll, es mir aus dem Gesicht zu wischen. Ich bedankte mich mit Küssen bei ihm für seine Fürsorge.

Plötzlich stoppte der Bus. Der Fahrer forderte mich und unseren Freund schreiend auf, das Fahrzeug zu verlassen. Zunächst wiedersprach ich. „Ich habe für die Fahrt bezahlt“, sagte ich und fragte ihn, warum ich gehen sollte. Als der Busfahrer aufstand, entschied ich mich, keinen Stress zu provozieren. Wir waren nur eine Haltestelle von meiner Wohnung entfernt. Also ging ich zur Tür. „Es ist ok, ich gehe ja“, rief ich zum Fahrer, hob die Hände und stieg aus.

Seine Faust traf mich mitten im Gesicht. Er schlug so schnell und unerwartet zu, dass ich nicht reagieren konnte. Meine Cousine und unser Freund waren in der Zwischenzeit auch ausgestiegen und kamen zu mir. Blut lief mir über das Gesicht. Der Fahrer drehte sich um, ging zum Bus und fuhr weiter.

Der Fahrer kann nicht gefeuert werden

Mit dem nächsten Bus fuhren wir zum nahen Polizeirevier. Nachdem ich dort die Anzeige aufgegeben hatte, fuhren die Polizisten mich ins Krankenhaus.

Da kamen die unerträglichen Schmerzen. Die Aufregung ließ nach, ich begann zu weinen. Meine Klamotten waren voller Blut. Meine Nase war gebrochen. Doch es waren nicht die physischen Schmerzen, die mich fertig machten. Zwei Wochen nach dem Vorfall habe ich eine Therapie begonnen. Ich konnte kaum rausgehen, nicht mehr Bus fahren.

Weil der Fahrer bei einem Subunternehmen angestellt ist, kann er nicht gefeuert werden. Die Polizei klassifiziert den Fall nicht als Homophobie. Dazu hätte der Fahrer mich als schwul beleidigen müssen. Deswegen führen wir einen zweiten Prozess gegen den Staat wegen Unterlassung. Der Busfahrer behauptet übrigens, dass er mich geschlagen hat, weil wir Sex im Bus hatten.

„Niemand kam mir zu Hilfe“

Fernanda da Silva, 35 Jahre, arbeitslos, sammelt Recyclingmaterial auf der Straße

Fernanda da Silva lebt in den Favelas im Süden São Paulos. Foto: Patrícia Monteiro

Fernanda da Silva, 35 Jahre, arbeitslos, sammelt Recyclingmaterial auf der Straße

Ich wollte Eis für meine beiden Kinder kaufen. An diesem Montag im März waren wir bei einer Klinik gewesen, die kostenlos Medikamente verteilt. Ich hatte gerade Geld von der Sozialhilfe bekommen, und so ging ich mit meinem siebenjährigen Sohn und meiner dreijährigen Tochter auf dem Rückweg zu McDonald’s gegenüber, wo das Eis aus einem Fenster heraus verkauft wird. 50 Cent sollte eines kosten. Ich bestellte zwei.

Plötzlich kam ein Sicherheitsbeamter aus dem Restaurant und schrie mich an. „Du Affe, hör auf zu betteln.“ Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich das Eis bezahlen wolle. Er schrie weiter: „Dreckiger Affe, du belästigst hier die Menschen, die in Ruhe essen wollen.“ Ich fing an zu weinen, meine Kinder weinten auch. Die Menschen, die draußen an den Tischen saßen, schauten einfach nur zu. Niemand kam mir zu Hilfe. Ich hatte kein Telefon dabei, um die Polizei zu rufen.

Die Polizei ist keine Hilfe

„Leg dich nicht mit mir an“, schrie der Mann. „Weißt du, wo ich wohne? Ich weiß, wo du wohnst.“ In unserer Gegend gilt diese Aussage als Todesdrohung. Meine Kinder versteckten sich hinter mir, während ich nur dachte: „Gleich schlägt er mich.“

Irgendwann schritten doch Passanten ein und riefen die Polizei. Als die nach langem Warten endlich kam, ein Weißer und ein Schwarzer, redeten sie den Vorfall klein. „Gehen Sie nach Hause“, sagten sie, „ruhen Sie sich aus.“

Zum Glück kamen in diesem Moment zwei junge weiße Frauen hinzu, die erklärten, dass es sich ganz klar um Rassismus gehandelt habe. Eine weitere Streife hielt an, diese Polizisten glaubten mir – auch dank Priscilla, eine der beiden Frauen. Sie erzählte, was passiert war, wollte für mich aussagen. Gemeinsam gingen wir zur Wache. Die Anzeige gegen den Sicherheitsmann läuft wegen Rassismus, rassistischer Gewalt und Todesdrohung. Bei dem Polizisten geht es um Unterlassung. Ohne eine weiße Zeugin hätten sie mir bestimmt nicht geglaubt.

Auf der Straße aufgewachsen

Priscilla hat den Fall auf Facebook veröffentlicht, woraufhin sich zwei Anwälte meldeten. Der Prozess steht noch aus.

Ich bin stolz darauf, schwarz zu sein. Und ganz ehrlich, betteln wäre immer noch besser gewesen als stehlen. Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Als ich neun war, starb mein Vater beim Carandiru-Massaker, nach einem Häftlingsaufstand im Gefängnis von São Paulo töteten Polizisten bei der Niederschlagung 111 Gefangene.

Meinen Kindern bringe ich bei, dass jeder sich so lieben sollte, wie er ist. Nach dem Vorfall haben wir viel darüber geredet, was passiert ist. Jedes Mal, wenn meine Tochter McDonald’s im Fernsehen sieht, sagt sie: Schau, Mama, das ist doch da, wo du beleidigt wurdest. Sie hat immer noch Angst vor Sicherheitspersonal in Läden. Sie ist klug, aber sie versteht noch nicht ganz, was Rassismus ist. „Ich bin gerne schwarz“, sagte sie mir letztens. „Dann sehen wir nicht so schnell alt aus.“

„Er hat mich geoutet“

Cláudia Ferreira Mac Dowell, 53 Jahre, Staatsanwältin

Mac Dowell vor dem Gebäude der der Staatsanwaltschaft in São Paulo Foto: Patrícia Monteiro

Beim Prozess im November 2019 standen zwei Polizisten vor Gericht. Sie wurden beschuldigt, zwei Jungs, die ein Auto gestohlen hatten, getötet zu haben statt sie zu verhaften. Ich vertrat die Staatsanwaltschaft.

In meinen 27 Jahren am Gericht hatte ich nie zum Thema gemacht, dass ich lesbisch und mit einer Frau verheiratet bin. Ein Anhänger unseres Präsidenten hat mich zu einem Outing im Gericht gedrängt. In einem Prozess, in dem es um Polizeigewalt gehen sollte – nicht um Homosexualität oder meine Ehe.

Er sprach mich direkt an

An diesem Tag begann der Anwalt der angeklagten Polizisten, zu Beginn seines Plädoyers seine Gedanken zu Homosexuellen zu äußern. Er lobte Putin dafür, dass er den LGBTQI-Paraden in seinem Land ein Ende gesetzt habe. Dann schaute er mir in die Augen. Blickte auf meinen Ehering. „Oh, die Staatsanwältin ist verheiratet, sie ist also ein Familienmensch. Unser Präsident Jair Bolsonaro steht für die Werte der Familie ein.“ Es war sofort klar, dass er darauf anspielte, dass ich mit einer Frau verheiratet bin.

Er sprach weiter diekt zu mir und schaute mich die ganze Zeit an. Jeder könne in seinen eigenen vier Wänden schwul oder lesbisch sein, er sei nicht grundsätzlich dagegen. Ein Problem sei es, wenn Kinder es sähen. Das sei ein schlechtes Vorbild. Deswegen sei er gegen jene, die Paraden veranstalten. „Die LGBT-Bewegung geht zur Paulista Avenue und steckt sich Kruzifixe in den Anus und die Vagina.“

Ich war schockiert. Aber ich war dort in meiner Funktion als Staatsanwältin, deswegen habe ich zunächst nichts erwidert.

Wir sollten Respekt einfordern

Erst am Ende, als die beiden Angeklagten leider freigesprochen wurden,
habe ich das Wort ergriffen: „Ich danke dem Herrn Anwalt für seine Aufrichtigkeit, so laut und klar seine mittelalterlichen Gedanken zu äußern. Vor allem Menschen wie ich, Homosexuelle in einer gewissen Position, mit einem kleinen bisschen Macht, haben die Pflicht, in diesen Momenten für unsere Rechte einzustehen. Wir werden sie immer wieder einfordern und nicht respektieren, dass Menschen wie Sie diese missachten.“

Auch wenn ich mein ganzes Leben lang lesbisch war, bin ich nie als Aktivistin aufgetreten. Ich habe zwar nie versteckt, wer ich bin, aber war immer sehr zurückhaltend, habe mich in meinem professionellen Umfeld nicht geoutet. Ich bin sehr schüchtern. Jetzt habe ich beschlossen, offener damit umzugehen.

Mein Chef hat den Anwalt angezeigt

Ich bin sehr froh, dass anschließend so viele Leute zu mir kamen und mir ihre Unterstützung zusicherten. Meine Frau – wir sind seit 2014 verheiratet – glaubt, dass die Offenheit Vor- und Nachteile hat. Es ist toll, ein Vorbild zu sein. Aber man macht sich natürlich angreifbar.

Mein Vorgesetzter, sowas wie der Oberstaatsanwalt, hat den Anwalt wegen homophober Beleidigung angezeigt, auf strafrechtlicher wie auf zivilrechtlicher Ebene. Etwa einen Monat später hatten wir eine große Solidaritätsdemonstration im Gericht mit mehr als 200 Leuten, Staatsanwälten, Richtern, Anwälten und Familienangehörigen. Deswegen hatte ich im Prozess diesem Anwalt gedankt. Er hat mich geoutet, ich musste reagieren. Und wir haben reagiert. Lauter als je zuvor.

„Scheiß-Schwuchtelchen“

Iara Martinho, 22 Jahre, Modedesign-Studentin

Iara Martinho in ihrer Wohnung im Norden der Stadt. Hier fühlt sie sich sicher. Foto: Patrícia Monteiro

Ich habe mich immer darauf verlassen, dass ich zu jener Gruppe trans Frauen gehöre, die nicht auf den ersten Blick erkannt werden. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, habe ich eher Machismo oder Chauvinismus erlebt – Männer, die ihr gesteigertes Selbstwertgefühl zur Schau stellten. Deswegen hatte ich keine Angst, Opfer eines transphoben Übergriffes zu werden.

Dann kam der 6. August 2019. Ich hatte mit meiner Mutter und meiner Tante gerade ein Stoffgeschäft im Zentrum von São Paulo verlassen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. „Scheiß-Schwuchtelchen“ raunte eine Stimme in mein Ohr.

Ich drehte mich um und blickte in die Augen eines jungen Mannes. „Was ist dein Problem?“ Die Frage beantwortete er mit einem Schlag ins Gesicht. Meine Mutter und meine Tante zogen mich weg, während sie nach Hilfe und der Polizei riefen.

Die Polizei half nicht

Eine Passantin wies sie auf einen Polizisten hin, der höchstens zehn Meter entfernt stand. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihm erzählte, was passiert war. „Was hast du vorher gemacht, dass er dich geschlagen hat?“, fragte er. Es kam aus dem Nichts, sagte meine Mutter, zeigte auf den Ort, wo der Mann mich geschlagen hatte. Der Angreifer war nicht mehr da. „Wir werden die Augen offenhalten“, sagte der Polizist. Der Vorfall interessierte ihn nicht.

Wir sollten zu einer Wache gehen und Anzeige erstatten, meinte er noch. Doch wie hätten wir den Typen finden sollen? Ich hatte keine Energie mehr und bin nach Hause gegangen, fühlte mich richtig beschissen und gedemütigt. Und wünschte mir so sehr, nicht ich selbst zu sein, damit ich nicht solche Situationen erleben muss.

Anzeige habe ich auch im Nachhinein nicht erstattet. Heute würde ich den Typen wohl nicht mehr wiedererkennen. Meine Freunde hatten überlegt, ob sie ihn suchen und zusammenschlagen sollten. Aber das ist es nicht wert.

Homophobe Stimmen werden lauter

Es war das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Dabei hat es Homophobie und Transphobie in Brasilien immer gegeben. Doch vor zehn Jahren wurden Stimmen in Politik und Medien lauter, die dies verurteilen. Viele Homophobe verstummten. Mit Jair Bolsonaro als Präsident hat sich das wieder geändert. Durch seine Äußerungen glauben jene, die verstummt waren, es sei in Ordnung, so zu denken. Nun haben sie keine Angst mehr zu hetzen.

Meine Freunde haben mir Kraft gegeben, die Attacke zu verarbeiten. Trotzdem gehe ich immer noch nicht gerne ins Zentrum, bleibe lieber in meinem Viertel. Hier bin ich aufgewachsen, fühle mich sicher.

Für viele gibt es nur Mann und Frau

Meine Mutter hat mich von klein auf unterstützt. Sie sagt, ich hätte schon mit zwei Jahren zu ihr gesagt: „Mama, ich bin ein Mädchen.“ Oft hat sie sich eingemischt, wenn Leute komisch schauten. Nun rät sie mir, auf Beleidigungen lieber nicht zu reagieren. Ich denke auch, dass man nur etwas sagen sollte, wenn man in einer Gruppe ist. Aber nach der Attacke mache ich es selbst dann nicht mehr.

Sie beleidigen uns, weil wir uns nicht wehren. Und wehren wir uns, werden wir angegriffen, manchmal sogar getötet. Es ist absurd. Lange hat die Gesellschaft daran gearbeitet, dass wir unser Geschlecht, unsere Sexualität in mehr Kategorien ausdrücken können als Mann und Frau. Und doch sind wir am Ende für die meisten das Gleiche: Scheiß-Schwuchteln.

„Der Mann stach plötzlich zu“

Juarez Xavier, 60 Jahre, Journalismus-Professor an der Staatlichen Universität São Paulo

Juarez Xavier auf dem Dach der Staatlichen Universität in São Paulo. Foto: Patrícia Monteiro

Als ich im November von einem Arzttermin nach Hause lief, sah ich diesen Mann, wie er mit etwas auf mich zeigte. Vielleicht ein Autoschlüssel, dachte ich. Als er dann die Straße überquerte, rief er mir von weitem zu: „Du Affe.“

Ich ging zu ihm und stellte ihn zur Rede. Der Mann zog ein Taschenmesser, stach plötzlich zu. Er erwischte mich am Arm und Rücken, doch ich spürte die Stiche nicht. Zum Glück mache ich seit vielen Jahren Capoeira, eine brasilianische Kampfkunst, so konnte ich ihn zu Boden ringen.

Der Angriff kein Rassismus?

Im Krankenhaus nähten die Ärzte die Verletzungen mit mehreren Stichen. Selbstverständlich habe ich ihn angezeigt. Doch in der Anklage steht nichts von versuchtem Mord und Rassismus. Das versuche ich gerade mit meinem Anwalt, mit der Hilfe von Zeugen durchzusetzen. Der Typ, ein 30-Jähriger, wurde mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er eine Kaution von umgerechnet 220 Euro bezahlt hat. Er behauptet, schizophren zu sein. Auf seinen Profilen in den sozialen Netzwerken konnte man einiges an rassistischen Posts finden. Die hat er alle gelöscht.

Es war nicht das erste Mal, dass ich als Affe beleidigt wurde. 2015 hatten einige Studenten frauenverachtende und rassistische Sprüche an die Wände in den Toiletten der Universität geschrieben, unter anderem auch „Juarez, du Affe“. Aber es war das erste Mal, dass mich jemand tatsächlich körperlich angegriffen hat.

Rassisten sind Feiglinge

Das hat mich total erschrocken. Es ist nicht ungewöhnlich, als Schwarzer auf der Straße beleidigt zu werden. Aber Rassisten sind normalerweise Feiglinge. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er ein Messer zieht. Er hat nur aufgehört zuzustechen, weil ich ihn gestoppt habe. Wahrscheinlich hätte er nichts getan, wenn ich nicht auf seine Beleidigung reagiert hätte. Aber damit hätte ich mich noch schlechter gefühlt als mit den beiden Stichwunden.

Rassisten werden sich nicht ändern, ihre Haltung nicht überdenken. Doch sie sollten dafür bestraft werden. Menschen müssen miteinander klarkommen und sich gegenseitig respektieren. Wir werden bis zur letzten Instanz gehen, um diesen Typen zu bestrafen.

Die Angst der schwarzen Gesellschaft

Es ist anstrengend, die ganze Zeit beweisen zu müssen, ein Mensch zu sein, nur weil man schwarz ist. Vorurteile gegenüber Afro-Brasilianern existieren hier seit dem 19. Jahrhundert. Die Eliten im Land bauten ihre Macht durch die Ausbeutung von Schwarzen auf. Im Laufe der Zeit wurde das Thema politisch.

In der schwarzen Community herrscht eine konstante Angst, dass einem etwas auf der Straße passieren könnte. Mütter erinnern ihre Söhne daran, ihre Ausweise mitzunehmen, wenn sie rausgehen. Nicht wegen einer möglichen Verhaftung – sondern damit die Mütter sie identifizieren können, falls sie ermordet werden.

Bolsonaro ist nicht konservativ

Mit Bolsonaro als Präsident haben die Rassisten im Land jegliche Scham verloren. Brasilien wird zum Epizentrum von Gewalt gegen Schwarze, Frauen, Arme und Menschen aus der LGBT-Community. Wir haben nun einen Justizminister, der ein neues Gesetz erlassen will. Das soll es der Polizei erlauben zu töten, sobald es eine Konfrontation im öffentlichen Raum gibt. So lässt sich jeder umbringen, der anderer Meinung ist.

Die Medien verschlimmern die Lage noch. Sie nennen Bolsonaro einen Konservativen, dabei ist er rechts. Man sollte seine Worte nicht bloß Hassrede nennen. Aufgrund von ihnen werden Menschen in den Straßen getötet.

Über das Rechercheteam

Benedikt Brandhofer
Design & Bildrecherche
Benedikt Brandhofer arbeitet als UX/UI Designer für verschiedene Firmen. Momentan glänzt er außerdem als Praktikant im Tagesspiegel Innovation Lab.
David Meidinger
Webentwicklung
David Meidinger arbeitet im Tagesspiegel Innovation Lab als Redakteur für Softwareentwicklung. Er hat diese Website entwickelt.
Patrícia Monteiro
Fotos
Patrícia Monteiro ist freie Fotografin und gebürtig aus São Paulo. Sie hat die Fotos gemacht und in den Gesprächen übersetzt.
Helena Wittlich
Recherche & Text
Helena Wittlich ist Redakteurin im Tagesspiegel Innovation Lab. Sie hat die Gespräche geführt und aufgeschrieben.
Veröffentlicht am 20. Februar 2020.