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Niemals vergessen!

An welchen Orten Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. DIE KARTE WIRD ZUR ZEIT NICHT MEHR AKTUALISIERT.
An welchen Orten Berlin der Opfer des Nationalsozialismus gedenkt. DIE KARTE WIRD ZUR ZEIT NICHT MEHR AKTUALISIERT.

Es ist Donnerstag, der 02. Mai 1996, als der Name von Lina Friedemann wieder in Kreuzberg auftaucht. Einst muss er hier auf einem Türschild gestanden haben, nun prangt er in eingeschlagenen Lettern auf einer quadratischen Messingtafel mit abgerundeten Ecken. Eingelassen im Gehweg auf einem angegossenen Betonwürfel mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern.

Im Metall sind nur wenige Worte zu lesen: „Hier wohnte Lina Friedemann - Jg. 1875 – Deportiert am 15.08.1942 nach Riga.“ Es ist der erste Stolperstein, der in Berlin verlegt wird.

Was nicht mehr auf die Messingplatte passte, aber auf der Homepage stolpersteine-berlin.de zu lesen ist: Noch am Tag ihrer Ankunft in Riga wurde Lina Friedemann gemeinsam mit ihrem Bruder Willy von den Nationalsozialisten ermordet. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihre Schwestern Selma, Ella und Sophie angesichts der drohenden Deportation bereits Suizid begangen.

Hier in der Oranienstraße 157 wohnten sie gemeinsam in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Vielleicht wunderten sich die Nachbarn, als die Friedemanns verschwanden. Vielleicht schauten sie weg. Vielleicht waren sie auch froh, dass ihr Haus nun „judenrein“ war. Sicher ist nur: Die Friedemanns gerieten in Vergessenheit. So wie Millionen von NS-Opfern.

Steine im Weg

Seit 1992 versucht das Projekt Stolpersteine des Kölner Bildhauers Gunter Demnig die Erinnerung an NS-Opfer wach zu halten. Es sind die Namen und Lebensdaten von Juden, Sinti und Roma, Opfern der „Euthanasie“-Morde, Homosexuellen, politisch und religiös Verfolgten und sogenannten „Asozialen“, die er in Gehsteigen vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der Betroffenen verankert.

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Am 29. Dezember 2019 verlegte Demnig in Memmingen den 75.000. Stolperstein. In Berlin sind es bis heute 8182 Steine. Zudem existieren zahlreiche weitere dezentrale Erinnerungsorte. Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz stellt der Tagesspiegel auf einer interaktiven Karte eine Übersicht der Gedenkorte für NS-Opfer in Berlin zusammen.

Eine Karte des Gedenkens

Dazu hat das Projekt Stolpersteine Berlin der Redaktion eine Datenbank aller verlegten Stolpersteine zur Verfügung gestellt. Außerdem haben die lokalen Tagesspiegel-Bezirks-Newsletter Leute ihre Leserinnen und Leser dazu aufgerufen, wenig bekannte Erinnerungsorte mitzuteilen. Auf folgender Karte finden Sie beides.

Klicken Sie auf einen der Stolpersteine oder Gedenkorte für mehr Information. Sie können außerdem nach Adressen suchen oder weiter in die Karte hineinzoomen.

Die Karte wird zur Zeit nicht mehr aktualisiert. Neue Gedenkorte werden bis auf weiteres nicht mehr ergänzt.

Stolpersteine finden sich mittlerweile in 23 europäischen Ländern. Es ist das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Schon seit den ersten Verlegungen gibt es auch Kritik am Projekt: Hausbesitzer fürchten um die Wertminderung ihres Eigentums. Andere fühlen sich an den öffentlichen Pranger gestellt, weil sie in einst enteigneten Häusern wohnen. Vielfach herrscht Angst vor rechtsradikalen Übergriffen. Auch in Berlin wurden Stolpersteine wiederholt entwendet oder mit Farbe beschmiert.

Die Kritik an den Steinen

Und es gibt auch jüdische Stimmen, die sich gegen diese Form des Gedenkens aussprechen. Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens, gilt als vehementeste Gegnerin in Deutschland. Für sie sind Stolpersteine eine unwürdige Form des Gedenkens, da auf den Namen ermordeter Juden mit Füßen „herumgetreten“ werde. Vereinzelt beschreiben auch Angehörige von Überlebenden diese Empfindung der Entwürdigung. Solche Einwände müssen ernstgenommen werden. Erst recht, weil in den vergangenen Jahren immer wieder Formen des Missbrauchs bekannt wurden. So nutzt das Computer-Rollenspiel Pokémon Go Stolpersteine als Orientierungsmarken.

Bei aller Kritik bietet der verwundbare, dezentrale Charakter der Stolpersteine heute aber auch Ansätze für Antworten auf die aktuellen Herausforderungen der Erinnerungspolitik: Wie kann das „Niemals vergessen!“ jenen Generationen vermittelt werden, die Jahrzehnte nach der Shoah geboren wurden? Und das in einer Zeit, in der nur noch einige wenige Überlebende berichten können.

Mahnung im Alltag

Statt einer isolierten Erinnerung an abgesonderten Mahnmalen und Gedenkstätten holen die Stolpersteine die Mahnung aus der Vergangenheit in den Alltag, erzeugen historische Einbrüche in die oft geschichtsvergessene Fassade einer beschleunigten Gegenwart. Sicherlich birgt die tagtägliche Begegnung die Gefahr der Abstumpfung, doch durch die Konfrontation mit den Namen der NS-Opfer werden die Schicksale der Menschen konkret vor Augen geführt, die einst Nachbarn in dieser Gegend waren. Und die auch verschwanden, weil ihre Nachbarn es geschehen ließen.

Menschen, die in den Konzentrationslagern auf eine eintätowierte Nummer reduziert wurden, haben zumindest wieder einen Namen und eine lokale Verortung. Die anonyme Masse der Zahlen in Vernichtungsstatistiken kann so ein Stück weit durchbrochen werden. Angehörige von Holocaust-Opfern regen inzwischen selbst Stolperstein-Verlegungen an oder stiften diese, damit sie einen Ort zum Erinnern haben.

Es wird nie eine Art des Gedenkens geben, die dem Menschheitsverbrechen auch nur annähernd gerecht wird. Dafür sind die Unfassbarkeit, die Grausamkeit der Ereignisse, die monströsen Ausmaße zu groß. Doch viel gefährlicher als die Fallstricke des gesellschaftlichen Ringens um Gedenkformen ist, wenn das Vergessen um sich greift. Deswegen dürfen Stolpersteine auch keine Schlusspunkte hinter die Auseinandersetzung der NS-Mordmaschinerie setzen. Vielmehr sind sie eine Aufforderung für die tagtägliche Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ursachen des Naziterrors und ihren Konsequenzen für unser heutiges Zusammenleben. Nicht nur in Kreuzberg oder Berlin. Sondern jeden Tag an vielen Orten.

Gedenkorte für die Opfer des Nationalsozialismus
Mehr über das Projekt

Das Vorhaben

Am Montag, den 27. Januar 2020 jährt sich zum 75. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz. Auch in Berlin fielen zahlreiche Menschen dem Nationalsozialismus zum Opfer. An vielen Orten erinnert jedoch heute nichts mehr an die Juden, Homosexuellen, Sinti, Roma, politisch und religiös Verfolgten, die dort einst lebten. Doch in der ganzen Stadt haben sich in den Jahrzehnten kleinere und größere Initiativen zusammengefunden, um das Vergessen zu verhindern.

Von vielen dieser Bemühungen und Gedenkorte erfahren leider nur wenige. Um vor allem diese weniger bekannten Gedenkorte in Berliner Kiezen zeigen zu können, haben wir die Leserinnen und Leser unserer Leute-Newsletter aus den zwölf Berliner Bezirken um Hinweise gebeten und viele erhalten.

Team

Michael Gegg
Webentwicklung und Datenanalyse
Michael Gegg arbeitet beim Tagesspiegel als Redakteur für Softwareentwicklung. Er hat Daten gesammelt und ausgewertet und die Karte programmiert.
Markus Hesselmann
Recherche
Markus Hesselmann verantwortet die Leute-Newsletter aus den Berliner Bezirken. Für dieses Projekt hat er Hinweise der Newsletter-Leserinnen und -Leser ausgewertet und Gedenkorte recherchiert.
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Manuel Kostrzynski ist der Art Direktor Digital beim Tagesspiegel. Für dieses Projekt hat er sich um die Gestaltung gekümmert.
David Meidinger
Webentwicklung
David Meidinger arbeitet beim Tagesspiegel als Redakteur für Softwareentwicklung. Er hat die interaktive Karte entwickelt.
Hannes Soltau
Text
Hannes Soltau ist Kulturredakteur beim Tagesspiegel und verfasste diesen Text.
Helena Wittlich
Recherche
Helena Wittlich ist Redakteurin im Tagesspiegel Innovation Lab. Sie hat Bilder und Ortsangaben der Gedenkorte recherchiert.
Veröffentlicht am 25. Januar 2020.