Spricht man Menschen in Berlin auf E-Scooter an, bekommt man in der Regel zwei Reaktionen. Entweder: „Geil! Endlich gibt’s das auch hier.” Oder: „Wann kommen die wieder weg? Als wär’ die Stadt nicht schon voll genug!” Nur wenn man Glück hat, wird es irgendwann differenzierter. Dann wird diskutiert, ob E-Scooter Autofahrten ersetzen können oder eher Leute vom Radfahren und Laufen abhalten, ob sie manche Wohngebiete besser an den ÖPNV anbinden oder lediglich eine weitere Möglichkeit sind, Profite auf öffentlichen Flächen zu generieren.
Fast nie geht es um folgende Fragen: Wie verhalten sich eigentlich andere Verkehrsteilnehmer gegenüber den E-Scootern? Und können sich die Rollerfahrer überhaupt so verhalten, dass sie den Verkehr nicht behindern? Ob das Miteinander funktioniert, hängt schließlich auch von den geltenden Regeln auf der Straße ab. Sind die so gestaltet, dass sich die motorisierten Tretroller überhaupt sinnvoll in den Verkehr einfügen können?
Wir haben nachgemessen. Dazu haben wir Radmesser-Sensoren verwendet, die das Tagesspiegel Innovation Lab 2018 entwickelt hat, um zu messen, wie eng Autofahrerinnen und -fahrer in Berlin Fahrräder überholen. 100 Freiwillige haben sich damals an dem Experiment beteiligt, legten 13.300 Kilometer in der ganzen Stadt zurück und erhoben damit 16.700 Mal den Überholabstand. In 56 Prozent der Fälle überholten Autos, Laster und Motorräder mit weniger als den vorgeschriebenen 1,50 Metern Sicherheitsabstand. Jetzt wollten wir wissen: Wie sieht das bei den E-Scootern aus?
Also warm eingepackt und los damit! Knapp drei Wochen lang sind fünf von uns mit E-Scootern zur Arbeit gefahren und zurück. Auf dem Weg zeichneten die Sensoren auf, wie viel Abstand Autos, Laster, Busse und Motorräder halten, wenn sie uns auf der Straße überholen. Damit die Ergebnisse nicht durch die Stadtteile gefärbt werden, in denen wir leben, haben wir außerdem ein paar Schlenker durch andere Teile der Stadt gemacht, wie die Karte zeigt:
Wie viel Abstand müssen Autos halten, wenn sie E-Scooter überholen? „Es gilt die gleiche Regelung wie auch bei Radfahrern” sagt Hauptkommissar Oliver Woitzik, Fachstab Verkehr bei der Berliner Polizei. Wer auf der Straße Leute auf Scootern überholt, muss also mindestens eineinhalb Meter Abstand halten. Dabei ist unerheblich, ob die Scooter auf der Autospur fahren oder auf Fahrradschutzstreifen am Straßenrand.
Beides fühlt sich anfangs recht wacklig an auf den batteriebetriebenen Geräten. An das Fahrgefühl gewöhnt man sich mit der Zeit. Die Stadt sieht vom Roller anders aus: Hängt man sonst leicht gebeugt über den Fahrradlenker, streift hier der Blick über manch Zäune und Mauern, die vorher wenig einsehbar waren. Weil man steht, schaut man von etwas weiter oben als zu Fuß, kann sogar über die meisten Autos blicken, „sogar als normalgroße Frau”, wie die Kollegin sagt. Dass viele Touristen Berlin auf diese Weise erkunden, versteht man jedenfalls schnell. Und das Ausleihen ist unkomplizierter als beim Bike- oder Carsharing.
Nur sehr kalt wurde es auf den Rollern im herbstlichen Berlin. Im Vergleich zum Fahrrad muss man sich ja nicht anstrengen. Man steht vor sich hin und rollt voran. Um einiges länger dauerten die fünf bis acht Kilometer Arbeitsweg auch. Die Scooter sind auf 20 km/h gedrosselt. Trotzdem kamen letztlich 410 Kilometer Strecke zusammen. Dabei wurden wir insgesamt 1590 Mal eindeutig messbar überholt.
Es ist nicht nur enges Überholen, das während der Testfahrten die Nerven strapaziert. Dazu kommt ein Gefühl von teils aggressiver Ablehnung durch die anderen Verkehrsteilnehmer. Die Fußgänger sind friedlich, schließlich halten wir uns bei dem Test an die Verkehrsregeln und fahren nicht auf Fußwegen. Von Radfahrern kommen abfällige Blicke, genervtes Schnauben. Einige Autofahrer (ja, ausschließlich Männer) werden ausfällig.
Seit Mitte Juni 2019 dürfen die E-Scooter in Deutschland auf die Straße. Möglich wurde das durch eine Verordnung des Verkehrsministeriums. Davor gab es ein jahrelanges Hin- und Her, das im Wesentlichen darum kreiste, dass die Scooter in Deutschland keine geeignete Fahrzeugklasse hatten. Also wurde eine neue geschaffen. In der Verordnung wurden technische Kriterien für Zulassung und Betrieb der Geräte geregelt. Viele Fahrzeugdetails, vor allem aber die dafür geltenden Verkehrsregeln, wurden jedoch nicht geklärt. Die Bundesregierung will bis Ende 2019 in einer Novelle der Straßenverkehrsordnung einiges konkretisieren.
Auf der Straße sind die Scooter trotzdem schon. Die schlimmste Fahrt erlebt die Kollegin. Als sie über die Potsdamer Straße fährt, kurbelt zuerst ein Taxifahrer sein Fenster herunter: „Fahr doch mal vernünftig, Alte!“ Auf der Martin-Luther-Straße folgt ein Kastenwagen mit Handwerkern: „Schlampe, fahr doch rechts“, schreit einer aus dem Fenster. Auch der Rest von uns wird bedrängt, geschnitten, angeschnauzt und angehupt, wenn wir versuchen, uns ans Gesetz zu halten.
Wie sich schnell zeigt, sind einige Regeln derart unklar oder unsinnig, dass sie kaum einhaltbar sind. Vier Probleme fallen besonders auf:
Insbesondere den Fakt, dass E-Scooter nicht auf der Busspur fahren dürfen, versteht von uns niemand. Denn da Scooter auch nicht auf dem Gehweg fahren dürfen, müssen sie auf Straßen mit Busspuren auf der rechten Spur neben der Busspur fahren. Mitten auf der Hauptstraße – rechts donnern die Taxis und Busse vorbei, links die Autos. Dazu kommen die Motzereien und Beleidigungen der Autofahrer. Sie wissen schlicht nicht, dass man so fahren muss, wie man fährt.
Nach der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung besteht die Möglichkeit, einzelne Strecken für die E-Scooter freizugeben. Dann müsste zu Beginn der freigegebenen Busspuren ein Hinweisschild angebracht werden – ähnlich wie es bei Fahrrädern der Fall ist. In Berlin müsste das die Verkehrslenkung anordnen, die der Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr unterstellt ist. Die sagt: „Der Umgang damit ist in Prüfung.”
Deutlicher äußert sich die BVG: „Sollten die Busspuren in Berlin freigegeben werden, dann würden wir protestieren“ sagt Pressesprecherin Petra Nelken am Telefon. Stattdessen verweist sie darauf, dass es Busfahrern gestattet sei, die Polizei zu rufen, falls E-Scooter die Busspur benutzen. „Wenn wir zu den Radfahrern noch die E-Scooter dazulegen, würden wir die Busspur lahmlegen“, sagt Hauptkommissar Woitzik.
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wollte das zunächst in die Neuauflage der Straßenverkehrsordnung aufnehmen, die Ende des Jahres in Kraft treten soll. Im ersten Entwurf war festgehalten, dass Busspuren mit einem Schild auch von den sogenannten “Elektrokleinstfahrzeugen” befahren werden dürfen. Die Regelung wäre dann die gleiche wie bei Fahrrädern. Nun ist die Freigabe von Bussonderfahrstreifen für Elektrokleinstfahrzeuge nicht mehr im Entwurf der StVO-Novelle enthalten – „als Ergebnis der Abstimmungsprozesse”, wie es vom Bundesverkehrsministerium heißt. Öffentliche Verkehrsbetriebe in ganz Deutschland hatten Scheuers Vorschlag kritisiert.
Länger als einige Minuten hält es keiner von uns aus, so zu fahren. Dann wechseln wir auf die Busspur. Würde nun ein Unfall passieren, bekäme man dann eine Teilschuld? Urteile zu Unfällen mit Beteiligungen von E-Scootern gibt es bisher noch keine. Dieter Müller, Verkehrsrechtsexperte von der Hochschule der Sächsischen Polizei, befasst sich seit der Einführung der E-Scooter mit den rechtlichen Grundlagen. „Tatsächlich würde der Fehler des E-Scooter-Fahrers zu einer Schadensbeteiligung führen.“ Das heißt, die Versicherung würde zwar grundsätzlich zahlen, aber nicht den ganzen Schaden. Den Rest müsste dann wahrscheinlich der Rollerfahrer übernehmen.
Für den Verkehrsrechtler liegt die Gefahr für E-Scooter-Fahrer im fehlerhaften Verhalten der Auto- oder Busfahrer. Denn faktisch bestünde ein Überholverbot für Autos, wenn man sich an die vorgeschriebenen Überholabstände hält. „Dies müsste durch die Polizei einfach besser überwacht werden.” Die Berliner Polizei kontrolliert die Überholabstände auch nach den Ergebnissen aus den Radmesser-Erhebungen 2018 nicht.
Ähnlich unsinnig geregelt ist das Verhalten an Ampeln. Wenn dort Autos warten, dürfen Fahrräder rechts vorbeifahren bis zur Ampel. Das ergibt auch Sinn, denn sonst müssten sie sich einordnen und würden zwischen den Autos feststecken, wenn die bei Grün losfahren. Weil E-Scooter offiziell Motorfahrzeuge sind, dürfen sie das nicht. Sie müssen sich einordnen. An Ampeln mit viel Verkehr ist das schwer – und fühlt sich gruselig an.
Probleme gibt es auch beim Abbiegen. Den Arm rauszustrecken fühlt sich wegen der Lenkung und der kleinen Rollerräder instabil an. Viele Anbieter empfehlen deswegen: „Ein Zeichen mit dem Fuß geben ist schnell gelernt und man steht weiterhin sicher auf dem Roller”, sagt Jashar Seyfi, General Manager bei Lime Deutschland. Er glaubt, dass sich dies durchsetzen wird. Ähnlich äußert sich der Deutschland-Manager von Bird:
Im Gesetz steht etwas anderes. „Sind an einem Elektrokleinstfahrzeug keine Fahrtrichtungsanzeiger vorhanden, so muss wer ein Elektrokleinstfahrzeug führt, die Richtungsänderung so rechtzeitig und deutlich durch Handzeichen ankündigen, dass andere Verkehrsteilnehmer ihr Verhalten daran ausrichten können.” Das Bundesverkehrsministerium schweigt zu der Problematik trotz Nachfrage. Bei dem Scooter-Anbieter Tier heißt es: „Wir arbeiten an einer Lösung für Blinker.”
Neben den ungelösten Verhaltensregeln verdeutlichen die Tests mit den Scootern vor allem eines: Die schleppende Umsetzung besserer Infrastruktur. Da man verpflichtet wird, immer auf dem Radweg zu fahren, kann man nicht einmal bei schmalen, holprigen Radwegen auf die Straße ausweichen. Auch dort nicht, wo man das mit dem Fahrrad explizit darf. Oft muss man aufpassen, den Lenker nicht zu verreißen, wenn mal wieder eine Baumwurzel den Radweg kreuzt. Nun könnte man in die Seitenstraßen ausweichen, wo selten Radwege angelegt sind. Pech nur, wenn die mit Kopfsteinpflaster gedeckt sind.
Auf den Radschutzstreifen am Straßenrand ist es ähnlich. Alle paar hundert Meter müssen eingesunkene Gullideckel umkurvt werden. Dazu kommt das Laub. Konsequent geräumt wird es nicht. Wehe, man muss auf den Blättern plötzlich bremsen. Die kleinen Scooterräder fliegen dann schneller irgendwohin, als man reagieren kann. Auch nach oben gibt es Probleme. Viele Bäume und Sträucher sind nicht geschnitten. Also flatscht einem ab und zu ein Zweig ins Gesicht. Im Vergleich zum Fahrrad ist der Kopf noch höher.
Für die überholenden Autos hingegen machen die Linien der Radwege auf der Straße kaum einen Unterschied. Sie halten dort gerade einmal durchschnittlich 2,3 Zemtimeter mehr Abstand. Eine genauere Analyse der Daten zeigt, dass die Linien sogar einen stabilisierenden Effekt haben: Dort, wo Schutzstreifen auf die Fahrbahn gemalt sind, ist die Verteilung der Überholabstände spitzer. Das bedeutet, mehr Leute halten einen ähnlichen Abstand, während auf Straßen ohne Schutzstreifen eine größere Bandbreite an Abständen gehalten wird. Autofahrerinnen und- fahrer orientieren sich offenbar nicht an den Fahrrädern, sondern an der Linie. Und weil die aufgezeichneten Streifen zu schmal sind, wird auch zu eng überholt. Es ist die Art des Straßenbaus, die zum engen Überholen verleitet.
Genau ein Jahr nach der großangelegten Radmesser-Erhebung hat sich weder im Verhalten der Autofahrer noch bei den Radwegen sonderlich viel geändert in Berlin. Dort, wo nicht zufällig einer der neuen Pollerwege gebaut wurde, wird weiterhin viel zu oft und viel zu eng überholt. Ob man mit dem Fahrrad oder auf einem E-Scooter unterwegs ist, ändert daran nichts. In den nächsten Jahren werden zu den Scootern eine ständig steigende Zahl an E-Bikes, E-Skateboards, Lastenräder und sonst was kommen. Sie alle sollen sich die gleichen Wege teilen.
Nur leider gibt es dafür bislang weder die passenden Regeln noch die nötige Infrastruktur.
Gemessen haben fünf Mitglieder des Tagesspiegel Innovation Lab. Sie sind mit den E-Scootern ihren Arbeitsweg zur Redaktion am Anhalter Bahnhof gefahren und wieder zurück. Damit sich die Messungen nicht nur auf die Stadtteile konzentrieren, in denen diese fünf Personen wohnen, wurden gezielt zusätzliche Fahrten durch andere Stadtteile unternommen. Dabei wurde die vier Fahrer und die Fahrerin insgesamt 1590 Mal eindeutig messbar überholt. Unklare Fälle wurden aussortiert.
Gemessen wurde mit E-Scootern des Anbieters Lime. Sie wurden dem Tagesspiegel auf Anfrage kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Anbieter hat keinen Einfluss auf die Analyse oder die Berichterstattung genommen. Die verwendeten Scooter sind auf eine Maximalgeschwindigkeit von 20 km/h gedrosselt.
Gemessen wurde mit Sensoren auf Basis von Ultraschall und Bilderkennung. Die verwendeten Sensoren wurden im Rahmen des Projekts Radmesser 2018 im Tagesspiegel entwickelt. Die Sensoren wurden unterhalb des Lenkers an der Lenkstange des Rollers angebracht. Sie bestehen aus jeweils drei Ultraschallsensoren, zwei links, einer rechts. Diese messen durchschnittlich circa 20 Mal die Sekunde, je dichter ihnen etwas kommt, desto häufiger.
Gemessen wird von der Mitte des E-Scooters, wo der Sensor befestigt ist, bis zur Seitenwand des Fahrzeugs, das links vorbeifährt. Als Sicherheitsabstand zwischen zwei Fahrzeugen gilt die Distanz von der Außenkante des einen Fahrzeugs bis zur Außenkante des zweiten Fahrzeugs. In diesem Fall ist das die Distanz vom Lenkerende des E-Scooters bis zum Beginn des Rückspiegels des Autos. Von den gemessenen Abstandswerten wird deshalb die halbe Breite des Scooterlenkers abgezogen. Weiterhin ziehen wir einen Wert von zehn Zentimetern von den Messergebnissen ab, um den rechten Außenspiegel der überholenden Fahrzeuge zu berücksichtigen.
Der Sensor kommuniziert über Bluetooth mit einer eigens für die Messungen entwickelten App. Das Smartphone ist mit einer Halterung an der Lenkstange angebracht. Registrieren die Sensoren einen Überholvorgang, sendet er ein Signal an das Smartphone. Die App macht dann ein Foto von dem überholenden Objekt. Mithilfe der Bilder und der gemessenen Abstände wird ausgewertet, ob ein echter Überholvorgang vorlag.
Wo es welche Straßenarten und Radwege gibt, ist einem Datensatz der Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr, Stand Frühjahr 2018, entnommen. Außerdem wurde eine Schnittstelle des Geodatendienstes Here verwendet, mit dem die Geokoordinaten der Smartphones den korrekten Berliner Straßen zugeordnet werden.
Noch mehr Informationen dazu, wie die Radmesser-Sensoren funktionieren, finden Sie hier.