Berlin ist unfreundlich. Nicht nur an der Theke oder bei der Arbeit. Nicht nur als Klischee. Sondern im Straßenverkehr. Das zeigt eine großangelegte Umfrage von dem Berliner Startup FixMyBerlin und dem Tagesspiegel Innovation Lab. Schon jetzt haben sich mehr als 16.000 Berlinerinnen und Berliner an der Umfrage beteiligt und darüber Auskunft gegeben, was sie im Berliner Verkehr am meisten stört. Und wie sie sich die Straßen der Zukunft wünschen.
Hauptziel des Straßenchecks ist es, mithilfe von computergenerierten Straßenentwürfen herauszufinden, welche Straßengestaltung Berlin zu einer lebenswerteren Stadt machen würde. In der Erhebung können Sie bewerten, welche Straßen sich besser anfühlen würden – und welche besonders unsicher. Hunderttausende dieser Simulationen wurden bereits bewertet.
Das Projekt kommt zu einer Zeit, in der die Umgestaltung Berlins zu einer umweltfreundlicheren und lebenswerteren Stadt geplant wird. Wir wollen ermöglichen, dass dabei diejenigen einbezogen werden, die hinterher auf diesen Straßen unterwegs sind: Die Berlinerinnen und Berliner. Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Es haben zwar sehr viele Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen und allen Bezirken daran teilgenommen und wir haben in der Auswertung berücksichtigt, welches Verkehrsmittel sie nutzen. Dennoch werden Faktoren wie etwa Einkommen, Bildung oder Herkunft nicht berücksichtigt. Die Umfrage vermittelt dennoch ein spannendes Stimmungsbild. Einige Tage können Sie noch an der Umfrage teilnehmen:
Die Auswertung der beliebtesten Lösungsvorschläge für die Zukunft der Straßen haben wir in einem weiteren Artikel ausgewertet. Hier werten wir einige allgemeinere Fragen aus, die Auskunft darüber geben, was die Menschen im Verkehr allgemein besonders stört. Eine rotierende Auswahl davon wurden allen Teilnehmenden angezeigt. Und zwar:
Die Umfrageergebnisse wurden danach analysiert, welche Antwortmöglichkeiten am häufigsten angegeben wurden. Darüber hinaus haben wir analysiert, ob die Antworten anders ausfielen, wenn es ein Auto im Haushalt gibt oder nicht. Und ob es Unterschiede nach Alter, Bezirk oder Geschlecht gab. Das interessanteste Ergebnis zog sich übrigens durch alle Umfragen: Es gibt kaum Unterschiede nach Geschlecht bei den Antworten. Die Berlinerinnen und Berliner stört auf der Straße zumeist dasselbe.
Auf die Frage „Was nervt Sie am meisten im Straßenverkehr?” erhielt die Antwortmöglichkeit „Aggressives Verhalten anderer” die höchste Zustimmung. Knapp 68 Prozent der Teilnehmenden sind anscheinend der Meinung, sie sollten respektvoller miteinander umgehen. Spannende Gegenfrage wäre, ob es wirklich nur die anderen 32 Prozent der Menschen sind, die ihre Aggressionen im Verkehr auslassen. Interessanterweise sind sich die Menschen mit Auto und diejenigen, die kein Auto im Haushalt haben dabei einig. Das deckt sich mit der Tagesspiegel-Umfrage im Rahmen des Projekts Radmesser 2018. Auch dort bewertete die absolute Mehrheit (77 Prozent) den Umgang im Straßenverkehr als aggressiv.
Bei den anderen Antworten spielte es eine größere Rolle, welches Verkehrsmittel man benutzt. Und auch, wie oft man es benutzt. So ärgern sich Teilnehmende, die täglich Auto fahren, am meisten über das hohe Verkehrsaufkommen und die vielen Staus (39,1 Prozent). Fun Fact: Sie sind es natürlich selbst, die den vielen Verkehr erst verursachen. Die täglichen Fahrradfahrer und –fahrerinnen nervt der Zustand der Straßen und Radwege überdurchschnittlich (31,4 Prozent).
„Lärm” und „Luftverschmutzung” im Straßenverkehr beschäftigen vor allem diejenigen, die kein eigenes Auto haben. Sie gaben diese Faktoren häufiger an als die Autofraktion. Vielleicht nehmen letztere den Lärm und Gestank weniger wahr, der von ihrem Gefährt ausgeht.
Statistiken, inwieweit das aggressive Verhalten im Straßenverkehr tatsächlich zugenommen hat, gibt es leider nicht. Bei Taten wie Beleidigungen, Körperverletzung und Nötigung – Folgen von aggressivem Verhalten – wird nur bei letzterem vermerkt, ob sie im Straßenverkehr begangen wurden. Und natürlich werden nicht alle Beleidigungen angezeigt.
Menschen mit eigenem Auto gaben an, seltener beleidigt zu werden. Und nicht nur zwischen Autobesitzern und Nicht-Autobesitzern gibt es Unterschiede. Es kommt auch darauf an, in welchem Stadtteil die Teilnehmenden leben. In Steglitz-Zehlendorf gaben über 30 Prozent an, vergangenes Jahr nie beleidigt worden zu sein. In Friedrichhain-Kreuzberg sieht es anders aus. Dort gaben die meisten Teilnehmenden besonders oft an, an, dass sie im vergangenen Jahr häufig beleidigt wurden.
Das legt nahe, dass man auf dem Rad besonders oft beleidigt wird. 94 Prozent der Teilnehmenden aus Friedrichshain-Kreuzberg, die täglich Fahrradfahren, wurden laut Umfrage im vergangenen Jahr im Straßenverkehr beleidigt. Bei den täglichen Auto-Usern waren es 39 Prozent.
Auch an dieser Frage zeigt sich, wie Probleme im Verkehr unterschiedlich wahrgenommen werden – je nach bevorzugtem Verkehrsmittel. Vor allem beim Überholabstand gibt es große Unterschiede. Wer täglich mit dem Rad fährt, empfindet die engen Überholmanöver als besonders schlimm. Wer ein eigenes Auto besitzt, stört sich hingegen besonders am Ignorieren von Ampeln, ein Verstoß, der wahrscheinlich häufiger auf dem Rad als im Auto begangen wird.
Beim Falschparken hingegen sind beide Gruppen vereint. Wer sich dem Verkehr in den Weg stellt, nervt besonders.
Da es unwahrscheinlich ist, dass sich Berlin in den nächsten Jahren plötzlich kollektiv besänftigt, wird sich der tägliche Straßenkampf wohl noch verschärfen. Denn der Druck auf die Infrastruktur steigt. Mehr Autos, mehr Fahrräder, mehr Menschen. Der öffentliche Raum wird davon nicht größer. Man kann ihn nur umverteilen. Um etwa breitere Radwege zu bauen, damit sich Autos und Fahrräder weniger in die Quere kommen, müsste anderen Platz weggenommen werden. Aber wem?
Interessanterweise waren sich dabei alle relativ einig. Der Platz soll bei den Autospuren und den Parkplätzen eingespart werden. Hier sind die Autobesitzer und -besitzerinnen wesentlich großzügiger, als manch erhitzte Debatte vermuten lässt. Über 50 Prozent der Teilnehmenden, denen ein eigenes Auto zur Verfügung steht, wollen Platz bei Autospuren und Parkplätze sparen.
Dem entgegen steht eine Umfrage des ADAC von Juli 2019, laut der 46 Prozent der Befragten sagen, dass Parkraummangel für sie eine ernste Belastung ist.
Die Detailanalyse zeigt: Umso mehr die Teilnehmenden Fahrrad fahren, öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder zu Fuß gehen, desto häufiger wollen sie vor allem bei den Parkplätzen sparen.
Wer täglich Auto fährt, wünscht sich dagegen besonders häufig, dass alles so bleibt, wie es ist. Besonders häufig übrigens in Reinickendorf: Dort haben sich die Teilnehmenden häufiger als in den anderen Bezirken gewünscht, dass es so bleibt, wie es ist. Das könnte am Alter der dortigen Bevölkerung liegen. Je älter die Teilnehmenden, desto häufiger der Wunsch, es möge sich doch bitte nichts ändern.
Es gibt noch eine andere Lösung, wie sich Platz sparen ließe. Nicht durch weniger Verkehr, sondern durch weniger Fahrzeuge. Denn ein großer Teil der zurückgelegten Fahrtstrecken in Berlin sind inzwischen sogenannter “Parksuchverkehr”, also Leute, die schon angekommen sind, aber keinen Ort finden, ihr Auto abzustellen. Würden mehr Leute auf ein eigenes Auto verzichten, würde also Parkfläche gespart werden und damit auch die Parkplatzsucherei weniger werden. Denn ein Sharing-Fahrzeug wird häufiger bewegt und steht demnach auch weniger in der Gegend herum.
Die Idee sagt offenbar vielen in Berlin zu. Besonders den Jüngeren.
Große Unterschiede gibt es allerdings bei der Frage, welche Sharing-Angebote als nützlich empfunden werden. E-Tretroller sind laut der Umfrage das unbeliebteste Sharing-Angebot. Die einzige Gruppe, die auffällig häufig sagt, sie findet “keine” Sharing-Angebote sinnvoll sind diejenigen, die angaben, nie mit den Öffentlichen zu fahren (23,7 Prozent), gefolgt von denen die nie Fahrrad fahren (18,7 Prozent).
Allerdings beschränken sich die Sharing-Angebote meist auf die Innenstadtbezirke. Unsere Umfrage ergibt: Das sollte sich ändern. Und die Berlinerinnen und Berliner sehen hier die Politik in der Pflicht, dafür zu sorgen.
Gerade in Pankow, Lichtenberg und Spandau gaben besonders viele an, dass die Stadt die Sharing-Angebote unterstützen sollte. Dort, wo die Angebote bereits verfügbar sind, dominiert derweil die Diskussion um den Platz. Dass spezielle Stellplätze auf der Fahrbahn geschaffen werden, halten noch viele für sinnvoll. Die Idee, dass die Gehwege damit vollgestellt werden, gefällt kaum jemandem.
Und wer ist jetzt schuld an dem ganzen Dilemma? Hier herrscht größtenteils Einigkeit: Die Politik. Ob Auto- oder Fahrradfahrer, männlich oder weiblich, jung oder alt. Man gibt sich nicht gegenseitig die Schuld, sondern unseren gewählten Vertreterinnen und Vertretern.
Im Vergleich zur Politik kommen alle anderen gut weg. Am häufigsten werden die Autofahrenden von den Nutzerinnen und Nutzern der öffentlichen Verkehrsmittel als Sündenbock angegeben (23 Prozent). Selbst die Autofahrenden geben häufiger ihren Mit-Autofahrenden die Schuld als den Fahrradfahrenden.
Das könnte etwas mit der Klimadebatte zu tun haben. Der motorisierte Individualverkehr ist laut Bundesumweltamt der drittgrößte Verursacher von CO2 in Deutschland. Um den Verkehr klimafreundlicher zu gestalten wünscht man sich allerdings weniger oft Strafen als Anreize, das Auto stehen zu lassen.
Beachtlich ist auch, dass knapp 50 Prozent die Besteuerung großer Autos als gute Maßnahme für eine klimafreundliche Stadt empfindet. Selbst unter den Autobesitzerinnen und -besitzern sind es über 40 Prozent, die das befürworten. Vor allem die Teilnehmenden aus Friedrichshain-Kreuzberg, Charlottenburg-Wilmersdorf und Neukölln fänden das eine sinnvolle Lösung. In Friedrichshain-Kreuzberg schneiden außerdem Tempolimits und Citymaut besonders gut ab. Die Randbezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Spandau wünschen sich hingegen noch wesentlich häufiger besseren öffentlichen Nahverkehr.
Die einzigen, die sich übrigens wesentlich seltener einen besseren öffentlichen Nahverkehr wünschen, sind diejenigen, die ihn nie benutzen.
Mehr als 16.000 Berlinerinnen und Berliner haben sich bisher am Straßencheck beteiligt. Dieser Artikel ist ein erster Zwischenstand. Dafür wurden die Antworten auf die allgemeinen Fragen der Umfrage ausgewertet. Es wurden nicht alle Umfragen allen Teilnehmden angezeigt, sondern rotiert. Auch die Reihnenfolge der Antworten wurde zufällig bestimmt, damit die Antwortmöglichkeiten weiter oben nicht bevorzugt werden. Zudem musste nicht jede dieser Eingangsfragen beantwortet werden, um in der Umfrage fortzufahren.
Die Umfrage ist nicht repräsentativ. Es haben zwar sehr viele Berliner aus unterschiedlichen Altersgruppen und aus allen Bezirken daran teilgenommen und wir haben in der Auswertung berücksichtigt, welches Verkehrsmittel sie nutzen. Dennoch werden Faktoren wie etwa, Einkommen, Familienstand, Herkunft oder Bildungsstand nicht berücksichtigt und es handelte sich um eine reine Online-Befragung.
Noch kann jeder am Straßencheck teilnehmen.
In dieser Auswertung nicht enthalten ist der Hauptteil des Straßenchecks. Darin konnten Berlinerinnen und Berliner mit Hilfe von Bildern von unterschiedlichen Straßengestaltungen angeben, wie sie bestimmte Verkehrslösungen wahrnehmen. Diese Antworten werden in den kommenden Monaten ausführlich von Fixmyberlin und Forschenden ausgewertet. Wir werden die wichtigsten Ergebnisse daraus dann veröffentlichen.
Der Straßencheck will herausfinden, wie die Straßen für alle Menschen sicherer werden können. Mit Hilfe von Bildern bewerten die Teilnehmenden, wie sicher sie sich im Straßenverkehr fühlen. Die Bilder sind 3D-Modelle, in denen dutzende Faktoren und Möglichkeiten des Straßenbaus unterschiedlich kombiniert werden. Das soll ausschließen, dass Straßenabschnitte deswegen anders bewertet werden, weil man sie kennt. Es ermöglicht zudem, verschiedene Möglichkeiten der Straßengestaltung zu simulieren, die es noch nicht oder nur selten auf Berliner Straßen gibt.
So soll analysiert werden, welche Infrastruktur sich auch aus der Sicht der Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer wirklich sicher anfühlt. Dabei kann die Straße aus mehreren Perspektiven betrachtet und bewertet werden – aus dem Auto, vom Rad, oder zu Fuß.
Seit im Juni 2018 das Berliner Mobilitätsgesetz in Kraft getreten ist, soll die Verkehrsplanung den Fußverkehr, Bus, Bahn und den Radverkehr stärker berücksichtigen. Dafür werden Straßen umgestaltet. Doch bisher ist unbekannt, welche Arten von Straßen, Wegen und Kreuzungen für alle Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen am besten sind. Denn Erhebungen gibt es dazu kaum. Mit der Umfrage können sich alle Berliner Bürgerinnen und Bürger am Prozess beteiligen. Je mehr sich beteiligen, desto genauer die Rückschlüsse.
Die Ergebnisse der Umfrage werden auf tagesspiegel.de und unter fixmyberlin.de veröffentlicht. Sie werden außerdem aufbereitet und der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz zur Verfügung gestellt. Außerdem stehen die Daten Forscherinnen und Forschern zur Verfügung. Auch für die Forschung und Planungen in anderen Städten sollen die Ergebnisse der Umfrage grundlegende Erkenntnisse liefern.
Die Umfrage wurde in einer Kooperation von FixMyBerlin und dem Tagesspiegel entwickelt. Die Gestaltung der Umfrage wurde durch zahlreiche Expertinnen und Experten aus der Unfall- und Verkehrsforschung begleitet. Die Senatsverwaltung für Verkehr, Umwelt und Klimaschutz hat die Umfrage ebenfalls fachlich begleitet. Die Umfrage wurde durch den ADFC und den ADAC unterstützt, indem sie mit aufgerufen haben, daran teilzunehmen.
Gefördert wird das Projekt durch Mittel des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans 2020 sowie durch die Berliner Senatskanzlei. Bei der redaktionelle Berichterstattung durch den Tagesspiegel ist dabei schriftlich festgelegt, dass sie unabhängig stattfindet. Sie wird nicht durch Förderer oder das Kooperationsunternehmen bestimmt oder beeinflusst.