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Survivors
Die Überlebenden des Holocaust
Survivors
Die Überlebenden des Holocaust

Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Fotograf Martin Schoeller 75 Holocaust-Überlebende porträtiert. Dabei erlebte er Überraschungen.
Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Fotograf Martin Schoeller 75 Holocaust-Überlebende porträtiert. Dabei erlebte er Überraschungen.

Diese Begegnungen waren dann doch etwas sehr Besonderes für ihn. In vielen emotionalen Momenten seien alle Beteiligten in Tränen ausgebrochen: „Ich als Erster. Ich bin nah am Wasser gebaut“, erzählt Fotograf Martin Schoeller, ein Star seiner Branche, von den Begegnungen mit 75 Holocaust-Überlebenden. Sie hat er zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz für die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Nahaufnahmen porträtiert. Und, fast unglaublich – in anderen Momenten haben sie sogar miteinander gelacht.

Für seine sogenannten Close-Ups, Nahaufnahmen, ist der Deutsche, der in New York lebt, berühmt. Für Schoeller halten praktisch alle still, die Rang und Namen haben. Barack Obama, Angela Merkel, Mark Zuckerberg, Angelina Jolie, Julia Roberts, George Clooney, Andre Agassi und Jogi Löw sind nur einige. Ob Celebrity oder Survivor – für ihn mache es keinen Unterschied, wen er fotografiere: „Ich behandele alle gleich“, sagt der jugendlich wirkende 51-Jährige mit den an den Schläfen langsam ergrauenden Rasta-Locken beim Besuch in Berlin.

„So ehrlich wie möglich”

Staatschefs, Hollywoodschauspieler, Ausnahmeathleten, Obdachlose, Drag Queens: Schoeller fotografiert sie frontal, immer mit dem gleichen Abstand zu seinem Objektiv. Er kommt ihnen allen nah, sehr sehr nah – so wie sie dem Betrachter nahe rücken. Nun also Holocaust-Überlebende.

Die Super-Nahaufnahmen, sein Lebensprojekt, schrecken manchen durchaus ab. „Dieses sture Katalogisieren, das ist nicht der humanste Weg, Menschen zu fotografieren“, sagt auch Schoeller über seinen speziellen Stil. Doch hält er sich zugute, dass seine Fotos „so ehrlich wie möglich“ seien, ohne Retusche, auf Augenhöhe. „Es gibt keine ehrlichen Fotos. Alle Fotos lügen“, nimmt Schoeller allen die Illusion, sie selbst oder der Fotograf könnten die Eitelkeit komplett abschütteln. Aber er sieht sich als „humanitären Fotografen“: Er hält Momente der Verletzlichkeit fest, ohne die Porträtierten bloßzustellen.

Eines seiner Vorbilder ist sein legendärer Vorgänger beim Magazin „New Yorker“, der Porträt-Gigant Richard Avedon. Schoeller empfindet sich selbst als wohlwollender im Umgang mit seinem Gegenüber. Avedon sei „manchmal fast gemein. Wenn er mich porträtieren würde, sähe ich wahrscheinlich aus, als käme ich gerade aus der Psychiatrie“.

Meir Brand
geboren 1936 in Bochnia, Polen
Nach dem Entkommen aus dem Ghetto floh Brand nach Budapest, wo er vom zinonistischen Untergrund versteckt wurde. Er sollte im „Kastner-Zug“ in die Schweiz fahren, doch die Rettung – Rudolf Kastner hatte SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann im Gegenzug Laster versprochen – lief schief. Brand kam erst einmal nach Bergen-Belsen. Foto: Martin Schoeller

Keine ganz leichte Ausgangsposition für das Vorhaben. Und natürlich sind Holocaust-Überlebende nicht das erste Mal vor einer Kamera. Aber Schoeller fand, er könne noch einmal einen anderen Blick auf ihre Gesichter werfen – bevor es sie nicht mehr gibt und sie ihre Geschichten nicht mehr selbst erzählen können. Die Verantwortlichen von Yad Vashem ließen sich auf die Idee ein, die Martin Schoeller und der Vorsitzende des deutschen Freundeskreises von Yad Vashem, Kai Diekmann, nachts in einer Bar in New York, entwickelt hatten.

„Dass so etwas nie wieder passiert”

In gewisser Weise ist es die Rückkehr zu einem Thema, das seine Schulzeit geprägt hat. „Als Jugendliche hat uns das Thema Aufarbeitung mit der vollen Kraft getroffen. Auf dem Gymnasium ging es um nichts anderes. Im Deutschunterricht, in Englisch, Französisch und natürlich Geschichte ging es nur um die Nazizeit“, erinnert sich Schoeller. „Ich habe das Gefühl, wir haben nie über die Römer oder die Griechen oder andere Länder geredet.“

Er sei mit dem Schuldbewusstsein aufgewachsen, „als würde man immer wieder eins über den Kopf kriegen“. Er habe sich trotzdem weiter für das Thema interessiert. Später, erzählt er, ist er nach Auschwitz und Buchenwald gefahren. Er habe sich immer gefragt, „wie konnte es kommen, dass Menschen aus meinem Land all diese furchtbaren Verbrechen begehen“.

Heute, mit dem wiederaufkeimenden Antisemitismus in Europa, fühle er sich mehr denn je aufgerufen, alles zu tun, dass so etwas wirklich nie wieder passiere. „Und ich habe auch eine Jüdin geheiratet“, sagt Schoeller lachend. Das habe er zunächst aber gar nicht gewusst, als er die gebürtige Ukrainerin kennenlernte. In deren Familie – „die Oma war eine große Kommunistin“ – habe die Religion keine Rolle gespielt. Inzwischen habe er auch einen jüdischen Sohn.

Mit dem mobilen Studio nach Jerusalem

Ursprünglich wollten sie für das Projekt Überlebende auf der ganzen Welt besuchen, das ließ sich dann aber nicht realisieren. Schließlich packte Schoeller in seinem New Yorker Studio 200 Kilo Ausstattung zusammen und flog für zwei Wochen nach Israel. In einem ruhigen Raum in der Gedenkstätte Yad Vashem traf er 75 ältere Herrschaften, geboren in vielen verschiedenen Ländern, nicht nur in Deutschland.

Alle, die kamen, hatten sich schön zurecht gemacht. Sie waren von Mitarbeitern der Gedenkstätte auf ihn vorbereitet worden, die Überlebenden kannten seine Bücher, seine Art, Porträts zu fotografieren. Eine Stunde Zeit hatten sie für jeden eingeplant.

Teamwork. Der Fotograf Martin Schoeller und sein Team bei den Aufnahmen in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Foto: Martin Schoeller Studio

Doch dann erlebte er allerhand Überraschungen, es wurde „ein sehr emotionales Erlebnis“, sagt er in der Rückschau. „Ich wollte die Menschen auch interviewen“, erzählt Schoeller; denn in aller Regel spricht er mit den Menschen, die er fotografiert, weil er ihre Geschichten kennenlernen möchte. Aber auch, weil es sie ablenkt und auch so dieses ehrlichste aller Fotos entstehen kann.

„Das hat doch schon mein Leben ruiniert”

Am Ende schrieb das Leben das Drehbuch. „Manche wollten unbedingt ihre Geschichten mit mir teilen, bei andern habe ich auch ein bisschen nachgebohrt“, schildert Schoeller die Tage in Jerusalem. Er erfuhr: Viele hatten auch 75 Jahre danach noch nie darüber geredet. Einige von ihnen taten es nun plötzlich während der Aufnahmen. Schoeller sagt: „Sie hatten wohl das Gefühl, jetzt ist die allerletzte Gelegenheit, noch etwas zu teilen.“

Ihre Geschichten haben ihn besonders berührt. Die, die bisher geschwiegen hatten, wollten ihre Familie nicht belasten; so haben sie es ihm in Yad Vashem erzählt. „Sie sagten, das hat doch schon mein Leben ruiniert. Ich will nicht, dass diese schlimmen Erlebnisse auch noch das Leben meiner Kinder und Enkel ruinieren. Mit dem Argument sagten sie, sie wollten nur alles vergessen.“

„Für sie war Deutschland das tollste Land Europas, welch wahnsinnige Ironie“

Diejenigen, mit denen er sprach, waren zwischen 80 und 99 Jahre alt. Anders als sonst verzichtete Schoeller deshalb diesmal oft auf Musik, die normalerweise während seiner Aufnahmen läuft. Und er machte meist 20 bis 30 und nicht 50 bis 60 Bilder, aus denen er das eine aussuchte; er wollte die Konzentration der Überlebenden nicht zu sehr strapazieren. Schoeller ist beeindruckt von ihnen: „Wie jung sie aussehen!“

Und auch damit hätte er nicht gerechnet: „Es ist verrückt. So viele haben Deutsch gesprochen.“ Denn auch für viele Juden aus Bulgarien, Rumänien, Polen oder der Ukraine, „für sie war Deutschland das tollste Land Europas, welch wahnsinnige Ironie“. Also hätten auch ihre Kinder Deutsch lernen sollen.

Hannah Goslar-Pick
geboren 1928 in Berlin, Deutschland
Sie wurde auf der Flucht in Amsterdam die beste Freundin von Anne Frank. Beide sahen sich im KZ Bergen-Belsen noch einmal heimlich wieder; Anne war dort „ein gebrochenes Mädchen“. Soldaten der Roten Armee befreiten Goslar-Pick auf dem Transport nach Theresienstadt am 23. 4. 1945 – während sie schlief.

Den Mann, der schon so viele Menschen vor seiner Mittelformat-Kamera hatte, haben die Geschichten der Überlebenden berührt. Wenn er „so harmlos“ nachfragt, wie er es nennt, reden sie. Auch mit Hannah Goslar-Pick aus Berlin hat er Deutsch gesprochen. „Sie war die Freundin von Anne Frank und hat dann erzählt: die Anne und ich …“ – Schoeller stockt und spricht erst einmal nicht weiter.

Er hat so unglaubliche Geschichten gehört – und so viele von einem unerschütterlichen Lebenswillen. Yona Benson berichtet ihm, wie sein Vater ausgehungert und von Zwangsarbeit gezeichnet in Estland in seinen Händen starb und er allein zurückblieb.

Unfassbares

Marta Wise aus Bratislava, die Mengeles Baracken überstand, erzählt vom Horror, als zwei KZ-Aufseher ein Kind packten und es vor ihren Augen buchstäblich auseinanderrissen. Berthe Badehi sagt mit fester Stimme, sie wolle heute keinen Tag ihres Lebens vergeuden. Für die Französin begann die Flucht in der Erinnerung mit einem gepackten Koffer – als ginge es in die Ferien. Sie überlebte bei einer christlichen Familie, deren Sohn Marcel „für die nächsten 70 Jahre“ ihr großer Bruder wurde.

Marta Wise
geboren 1934 in Bratislava, Tschechoslowakei (heute Slowakei)
Marta lernte mit ihrer Schwester in Auschwitz den gnadenlosen Lagerarzt Josef Mengele kennen und erlebte bestialische Szenen. Für sie war Mengele ein „Monster“. Beide Mädchen sind auf einem Foto mit Befreiten hinter Stacheldraht zu sehen. Für Schoeller war es ein besonderer Moment: Mit ihr wurde ein Bild aus einem seiner Schulbücher lebendig.

Mit einigen Frauen und Männern entwickelte sich in der kurzen Zeit eine intensive Beziehung. Die Nähe, man meint sie im Video vom „Making-of“ zu spüren: Wenn Schoeller, selbst kein Hüne, vorsichtig den gebeugten Yona Benson verabschiedet, den er um fast anderthalb Köpfe überragt, wenn Yaakov (Jacki) Handeli aus Thessaloniki sich zum Abschied mit ausgebreiteten Armen bedankt „for the way you are“. Einige Überlebende gehen mit einem Lachen, umarmen den Fotografen – es ist eine Verbindung entstanden.

Eine der Porträtierten zuckte am Ende aber doch zusammen: als ihr bewusst wird, dass der freundlich lächelnde Fotograf ein Deutscher ist. Ob sie es vorher verdrängt hatte oder vergessen, Martin Schoeller kann es nicht sagen.

Survivors
Mehr über das Porträt-Projekt

Das Buch

Die Fotos der Überlebenden sind als Buch unter dem Titel „Survivors. Faces of Life after the Holocaust“ im Steidl-Verlag erschienen. Mit Vorworten von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck, Avner Shalev, Aufsichtsratsvorsitzender der Gedenkstätte Yad Vashem, und Kai Diekmann, Vorsitzender des deutschen Freundeskreises von Yad Vashem. Das Buch kostet 28 Euro.

Die Ausstellungen

Die 75 großformatigen Porträts werden bis zum 26. April 2020 in der gleichnamigen Ausstellung in der Zeche Zollverein in Essen gezeigt. Vom 28. Februar bis 17. Mai 2020 ist eine Martin-Schoeller-Retrospektive auf 1300 Quadratmetern im NRW-Forum in Düsseldorf zu sehen.

Der Fotograf

Martin Schoeller, Jahrgang 1968, ist in München geboren, in Frankfurt/Main aufgewachsen und hat in Berlin beim Lette-Verein gelernt. Nach kurzen Stationen bei einem Stillleben-Fotografen und dem Werbefotografen Uwe Duettmann arbeitete er drei Jahre als Assistent bei Annie Leibovitz. Ein Close-Up von Vanessa Redgrave brachte nach einer Durststrecke den Durchbruch. Er wurde als Nachfolger von Richard Avedon Hausfotograf des „New Yorker“.

Inzwischen fotografiert er für viele große Magazine wie National Geographic, Time, Vogue, GQ, Esquire, Er macht Werbeaufnahmen, mit denen er gut verdient, aber auch Projekte, die ihn persönlich besonders interessieren – Bilder von Obdachlosen in Los Angeles, Drag Queens oder Bodybuilderinnen.

Team

Ingrid Müller
Text
Ingrid Müller arbeitet als leitende Redakteurin für den Tagesspiegel. Für diese Geschichte hat sie sich mit dem Fotografen Martin Schoeller getroffen.
David Meidinger
Webentwicklung
David Meidinger arbeitet beim Tagesspiegel als Redakteur für Softwareentwicklung. Er hat diese Webseite programmiert.
Veröffentlicht am 26. Januar 2020.