An einem Tag im Mai steht Stephan von Dassel vor der Weltzeituhr am Alexanderplatz. Es regnet, der Wind weht kalt, hinter dem Bürgermeister von Mitte lärmen Schüler. Er will endlich positive Nachrichten verkünden für einen Platz, der Kriminalitäts-Schwerpunkt ist, größter Verkehrsknoten Berlins mit rund 440.000 Umsteigern täglich, Touristen-Magnet, Treffpunkt von Obdachlosen, Junkies. Eine Konsummeile, auf der aber niemand gerne Zeit verbringt.
Dassel wird erzählen, wie sich der neue Alexanderplatz-Beauftragte bewährt hat, eine Art Chaos-Abarbeiter, der helfen soll, die vielen Schichten an Problemen, die diesen Ort überlagern nach und nach abzutragen.
Doch zunächst zeigt der Bezirksbürgermeister auf die Fast-Food-Ketten direkt neben dem Bahnhof und spricht über: Ratten.
Die Rattenplage am Alexanderplatz ist nicht gravierend – steht aber in ihrer Unlösbarkeit stellvertretend für ein viel größeres Problem: Das Koordinierungs-Chaos. Dieses wiederum ist wohl verantwortlich für die Unbeliebtheit des Alex, ein Ort ohne Halt, riesig und wuselig, voller Geschichte, und doch in der Wahrnehmung der Menschen irgendwie bedeutungslos geworden.
Das bestätigt eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Tagesspiegels, in der fast 74 Prozent der Befragten angaben, dass sie „gar nicht gerne“ oder „weniger gerne“ an den Alexanderplatz kommen. 30 Jahre nach dem Mauerfall spielte es keine messbare Rolle, ob die Befragten in Ost- oder West-Berlin leben.
Das Image des Platzes ist bezirksübergreifend negativ. 20 Prozent verbinden mit dem Alex „Konsum“, 17 Prozent „Chaos“. Nur rund 11 Prozent gaben an, der Platz stehe für „Identität“. Anders gesagt: Den allermeisten Berlinern ist der Alex egal.
Die Umfrage, bei der sich rund 4000 Berlinerinnen und Berliner beteiligten, ergab zudem, dass der Alexanderplatz vor allem ein Umsteigeort ist, aber kein Platz, an dem die Berliner verweilen. Jeder vierte Berliner meidet den Alex offensichtlich komplett, 26 Prozent gaben an, sich nie zwischen Fernsehturm und Weltzeituhr aufzuhalten.
Stephan von Dassel guckt jetzt unglücklich durch den Nieselregen. Ratten gibt es an vielen Orten der Stadt, am Alex lassen ihre unterirdischen Gänge Bodenplatten wippen, Pflasterungen absacken, Menschen stolpern. Der Bezirksbürgermeister sagt: „Daran sieht man, dass ein kleines Problem oft massive Auswirkungen hat.“
Die Rattenplage ist ein Grundproblem für Dassel. Es wäre längst gelöst, wenn sich die verschiedenen Interessengruppen nicht ständig gegenseitig die Schuld geben würden. Es streiten sich unter anderem die Bahn, Gewebetreibende sowie verschiedene Ämter des Bezirks und der Senatsverwaltung.
Diese Uneinigkeit, ein Mix aus Bürokratie-, Kompetenz- und Interessensstreitigkeiten, ist das Sinnbild für alle Probleme am Alexanderplatz. Dabei wollte man schon vor mehr als zwei Jahrzehnten daran etwas ändern. Im Jahr 1993 wurde der Sieger eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs gekürt. Doch bis heute passierte – wenig.
Drei Monate nach seinem Auftritt an der Weltzeituhr sitzt Stephan von Dassel in seinem Büro. Er wirkt ratlos, wenn es um die Frage geht, ob dieser Platz noch einmal neu erfunden werden könne, um ihn den Menschen zurückzugeben, die auf ihm verweilen oder Identität aus ihm schöpfen sollen. Dassel sagt mit ironischem Unterton: „Wir haben ja keinen Alex-König!“
Es gebe niemand, der über alle Interessensgruppen stehe und ein Machtwort sprechen könnte. Er grinst gequält. Stattdessen hat er ja seinen Koordinator eingesetzt, Stephan Richter, doch bis dieser, das sagt Dassel auch, als Ansprechpartner vom Senat anerkannt werde, brauche man einen langen Atem. Denn: „Die vielen Zuständigkeiten am Alex sind die größte Herausforderung.“ Es klingt nach: unlösbar.
Herausfordernd hat Julia Erdmann diesen Platz schon als 14-jährige Teenagerin empfunden, als sie mit ihren Eltern zum ersten Mal in Ost-Berlin an der Weltzeituhr stand und dachte: „Viel Stein!“ Nun ist sie 43 Jahre alt, Architektin, Stadtgestalterin und Gründerin des co-kreativen Netzwerks JES. Das, was sie tut, nennt sie Socialtecture: eine neue Denkrichtung, die Architektur um die soziale Dimension bereichert. Es geht darum, gemeinsam etwa mit Eigentümern, Entwicklern, Verwaltungen und Investoren Quartiere und Innenstädte menschenfreundlicher zu gestalten.
Sie zuppelt ihren blauen Sommermantel zurecht und macht sich auf zu einem kritischen Spaziergang, für den sie extra aus Hamburg nach Berlin gereist ist. Warum ist der Alex so furchtbar, Frau Erdmann?
Es ist ein Mittwochmittag im Juli, es ist heiß, der Platz ist voll mit Menschen, Straßenbahnen, Fressbuden, Autos. Erdmanns Hauptkritik am Alex kann sie schnell formulieren: Der Aufbau! Es entstehe kein „Zimmergefühl“. Der Platz franse aus. Die meisten europäischen Plätze seien klar eingefasst, wie ein rechteckiges oder quadratisches Zimmer. Wäre der Alex ein Raum, fehlte ihm eine Wand und er wäre fürchterlich unaufgeräumt.
Erdmann schaut Richtung Park Inn und Primark. Dort türmen sich hohe Gebäude in zweiter Reihe hinter niedrigeren. „Nach Osten fließt er irgendwie so weg.“ Dazu die schiere Dimension. Vom einen Ende des Platzes seien die Gesichter der Menschen auf der anderen Seite nicht erkennbar. Dadurch fühlten sich Besucher klein und ausgesetzt, bedroht und anonym. Erdmann blickt zum Saturn-Gebäude, sie sieht spiegelnde Fenster und glatten Stein als Fassade. Ein Löschwasseranschluss vermittelt den Eindruck, man sei hier aus Versehen am Hinterausgang gelandet. Sie sagt:
Spiegelnde, glatte Fassaden stoßen die Sinne ab, der Blick gleitet ab wie Regentropfen von einer Scheibe.
Ein Biomarkt hat seine Schaufenster auf etwa 50 Meter Länge mit Folie abgeklebt. Problematisch, meint Julia Erdmann. „Die meisten Gestalter haben gar nicht auf dem Schirm, wie wichtig Erdgeschosse sind.“ Die Menschen gehen daran vorbei, nehmen sie unwillkürlich wahr.
Die zusammenhangslose Gestaltung wirkt sich auf die Besucher aus: Es liegt Müll herum, die beigen Bodenplatten sind schmuddelig, überall klebt Kaugummi, die Alexwache muss gegen Kriminalität auf dem Platz vorgehen, der Ort gilt abends und nachts als unsicher. Manche Ecken hier bezeichnet Erdmann als „Angst-Raum.“
Und mit solch drastischen Einschätzungen ist sie nicht alleine, wie verschiedene Akteure im Video erzählen:
Julia Erdmann sagt: „Ich beobachte, dass dort, wo Menschen Liebe spüren, sie sich selbst auch liebevoll verhalten”, sagt Erdmann. Ein Extrembeispiel für das Gegenteil am Alex sei der Durchgang zwischen Galeria Kaufhof und Deko-Shop Flying Tiger an der nordwestlichen Ecke des Platzes. Dort ist es dunkel und eng: „Man meint, gleich fällt einem die Decke auf den Kopf.“
Ein Unort, der Menschen abschrecke. So ist das hier am Alex. In Venedig würden die Menschen den Markusplatz wie einen Freund behandeln, sagt Erdmann, weil sie sich willkommen fühlten. „Da wird nicht in die Ecke gepinkelt.“
Steffen Hauff möchte reden, über vollgepinkelte dunkle Ecken, Menschenmassen, tote Räume, Fest- und Fressbuden, über verwirrende Architektur. Er will sich auch zu Heimatgefühlen, Statussymbolen und Geselligkeit äußern. Diese Widersprüche kann er beschreiben, denn der 30-Jährige wohnt am Alexanderplatz. Rathausstraße, unweit vom Fernsehturm.
Aus Hauffs Wohnzimmer im 13. Stockwerk eines Wohnkomplexes, der sich vom Roten Rathaus Richtung Bahnhof Alexanderplatz zieht, blickt er direkt aufs Dach des Roten Rathaus, Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters, und weit darüber hinaus. Hier zu wohnen, sei für ihn ein Statussymbol. Ursprünglich kommt Hauff, der mit Vater und Schwester ein Logistik-Unternehmen betreibt, aus Wandlitz, seit 2011 ist er am Alex. Ganz freiwillig.
Seine Nachbarschaft ist vielfältig, viele ältere Leute wohnen hier schon seit DDR-Zeiten, und manche sehnen sich zurück in eine Zeit, als der Alex ein Vorzeigeplatz war. Hauff selbst, der in kurzer Hose und Shirt am Küchentisch sitzt, liebt diesen Ort – genauso wie er ihn hasst.
Dann verlässt er ausnahmsweise einmal die Wohnung für einen Rundgang zum Alex, auf den er „sonst nie geht“. Hauff geht zum Volleyball-Feld in der Nähe des Neptunbrunnens, weil er dorthin manchmal mit seinem Hund Elvis, einem braunen Zwergpinscher, geht. Am Brunnen sitzen Jugendliche, drei ältere Leute rufen über einen Verstärker „Jesus rettet euch“ über den Platz.
Auf der Wiese vor dem Sportplatz liegen Obdachlose und schlafen. „Komm mal abends hierher, das ist der Horror“, sagt er. Im Sommer rieche es nach Kloake. Harke man das Volleyball-Feld, finde man Drogen-Spritzen. Neben dem Sportfeld sitzen zwei Mütter, ihre Kinder spielen im Sand.
Vom Neptunbrunnen läuft Hauff am Fernsehturm vorbei auf den großen Alexanderplatz und schüttelt den Kopf. „Totale Unstrukturiertheit, das macht einen ganz wuschig“, sagt Hauff und grübelt. Der schwarze Gebäudekomplex am Bahnhof ist für ihn sinnbildlich. „Da standen früher große alte Bäume. Haben sie alles abgesägt für ein Haus mit schwarzen Fenstern. Da wirst du doch doof.“
Gibt es auch etwas Schönes am Alex? Hauff schweigt. Eine Polizeistreife läuft an ihm vorbei zur nahegelegenen Alex-Wache. Da fällt ihm ein: „Shoppen?“
Es läuft viel schief am Alex, architektonisch, organisatorisch, kulturell. 45 Prozent der Befragten sagen, der Platz stehe für „Kriminalität“. Beim Blick in die aktuelle Statistik finden sich folgende Fakten: 3176 Delikte allein im ersten Halbjahr 2019. In absoluten Fallzahlen ist der Alexanderplatz damit mit großem Abstand der gefährlichste Ort Berlins, wahrscheinlich sogar Deutschlands. Und das, obwohl die Polizei hier Ende 2017 eine mobile Kombiwache eingerichtet hat und den Platz seitdem rund um die Uhr bestreift.
Der Erfolg der Alex-Wache sei, „dass die subjektive Sicherheit zugenommen hat“, sagt Robin Gottschlag, Polizeihauptkommissar und stellvertretender Leiter der Wache. Noch nie habe er so viel Dankbarkeit für seine Arbeit erhalten. In Wirklichkeit ist die Wirkung der Wache umstritten. 2018 ging die Zahl der Delikte am Alex zurück, zuletzt stieg sie aber wieder an.
Selbst der Hauptkommissar, 35 Jahre alt, in Köpenick geboren, findet, der Alex müsste schon aufgrund seiner Historie viel mehr gewürdigt werden. Er sagt einen Satz mit Pathos:
Die vielen kleinen Beben, die von diesem Epizentrum ausgehen, spüren Gottschlags Leute direkt in ihrem klimatisierten Container, 70 Quadratmeter; drei Arbeitsplätze hat die Landespolizei dort, Ordnungsamt und Bundespolizei je einen. Es ist eng. Ständig kommen Leute von draußen rein.
2400 Anzeigen haben die Beamten im vergangenen Jahr aufgenommen und 24.000 Auskünfte erteilt. „Fast alles touristische Fragen“, sagt Gottschlag und wie auf Kommando erscheinen zwei US-Amerikaner und wollen den Weg zu ihrem Hotel wissen. Gottschlag hilft in akzentfreiem Englisch.
Ein bärtiger Mann mit Leinenhemd und Sandalen will sich selbst anzeigen, weil er einen Unbekannten „geschubst“ habe, der direkt neben ihm urinierte. Der diensthabende Polizist blickt hilflos zu Gottschlag.
Ein paar Minuten später hat sich der Bärtige umentschieden. Er will jetzt doch den Pinkler anzeigen, „wegen Einschränkungen gegen meine Menschlichkeit“. Die Streifenpolizisten der Alex-Wache sollen vor allem Präsenz zeigen. „Das alte Cop-System. Man kennt seinen Kiez, die Leute kennen ihren Polizisten“, sagt einer der Beamten. Sie kennen auch die zahlreichen Obdachlosen die zum Alexanderplatz gehören wie die Touristen.
Der Alexanderplatz ist ein Hotspot bei den Minderjährigen und jungen Menschen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist. Diese Gruppe ist gar nicht gut auf die Polizei zu sprechen. Rose beispielsweise, 22 Jahre alt, der jeden Tag und bei jedem Wetter am Alex ist, sagt, dass trotz der Wache die Spannungen unter den einzelnen Gruppen am Platz gestiegen seien. Alle seien jetzt viel aggressiver, die K-Popper, die Emos, die Araber, die Punks oder Hip-Hopper.
Rose gehört keiner Gruppe an, er hat Kontakte zu allen – tanzen, Gras ticken, Musik, mit jedem findet er ein Gesprächsthema. „Niemand will in der Nähe der Wache chillen, ständig fühlt man sich beobachtet.“
Zwei 15-jährige Mädchen fahren mit einem geklauten E-Roller, den sie, wie eine sagt, „gezockt“ habe, über den Platz; eine schreit, weil es ihr zu schnell ist, und springt ab. Sie lachen. Eine dritte schaut zu. Sie kommen schon seit einem Jahr an den Alexanderplatz – fast jeden Tag.
„Irgendjemand den man kennt, ist immer da“, sagt eines der Mädchen. Sie übernachtet zwar nicht hier, zu Hause fühlt sie sich am Alex trotzdem. „Ich habe hier alles, was ich brauche. Jeden Tag kommt ein Bus mit Sozialarbeitern, da lade ich mein Handy auf, hole Essen, im Kaufland schließe ich meine Sachen ein.“
Für die jungen Obdachlosen ist der Alex ein idealer Ort. Die Masse an Menschen ermöglicht kuschlige Anonymität. Ein Ort der Freiheit. Damit stehen sie im krassen Widerspruch zu dem, was am Alexanderplatz vor allem zählt: gelenkter Konsum. Es geht nicht um Gemütlichkeit oder Aufenthaltsqualität, es geht darum, Geld zu machen.
Einer, der das immer wieder kritisiert, hat eine sehr persönliche Affinität zu diesem Platz: Der Architekt und Universitätsprofessor Hans Kollhoff, der 1993 den städtebaulichen Wettbewerb gewann. Heute sagt er: „Man muss diese verdammte Shopping-Center-Ideologie zügeln, die dabei ist, den Alexanderplatz zu zerstören.“
Die gediegene, mit Stuckfassaden veredelte Fasanenstraße, Nebenstraße des Ku‘damms, könnte zum Alexanderplatz nicht gegensätzlicher sein. Hier hat Hans Kollhoff sein Büro. Das marmorne Treppenhaus, über das es betreten wird, ist halb so hoch wie der Fernsehturm.
Der Alexanderplatz lässt Kollhoff bis heute nicht los. Damals, 1993, lieferten er und Helga Timmermann einen Entwurf mit dreizehn 150 Meter hohen Türmen. Eine sogenannte Stadtkrone aus Wolkenkratzern sollte Berlin wieder eine Mitte geben.
Doch musste erst das Abgeordnetenhaus den Senat im Mai 2014 auffordern, endlich Bebauungspläne umzusetzen, vorhandene Blockaden zu durchbrechen und neu zu denken. Der Beschluss umfasste einen wichtigen Satz: „Der Alexanderplatz bleibt weiterhin Hochhausstandort.“
Im Jahr 2000 wurde für den Kernbereich des Planungsgebietes am und um den Alexanderplatz mit den Bebauungsplänen für sieben von insgesamt zehn Hochhäusern Baurecht geschaffen.
2015 startete ein aufwändiges Workshopverfahren mit vielen gesellschaftlichen Gruppen wie Bürgern, Eigentümern, Nutzern, Politikern und Verwaltungsangestellten. Am Ende beinhaltete der nun überarbeitete Masterplanentwurf von Kollhoff insgesamt neun Turmhochhäuser, wie es amtsdeutsch heißt: das Park Inn Hotel und acht neu zu errichtende Gebäude.
26 Jahre nach dem gewonnenen Wettbewerb wird also ein Teil von Kollhoffs Vision wahr. Schon damals ging es in seinem Masterplan darum, „den Alexanderplatz überhaupt als Platz in Erscheinung treten zu lassen“. Denn das war er für Kollhoff nie. „Erst war das ein Ochsenmarkt und dann eine riesige Kreuzung.“ Und zu DDR-Zeiten habe man noch mehr abgerissen, so dass mehr „windiger, trostloser Raum“ entstanden und bis heute geblieben sei.
Später sei nur „dem Prinzip von Kaufhäusern und, noch extremer, Shopping-Centern“ gehuldigt worden. Das regt ihn auf:
So entstehe am Fuß des Kaufhofs nichts, was den Platz beleben könnte: „Kein Café, kein Restaurant, keine Bar.“
Es ist die Grundkritik am Platz, die auch architektonische Laien teilen, vermutlich alle, die diesen Platz besucht und versucht haben, draußen oder im Erdgeschoss ein gemütliches Plätzchen zum Verweilen zu finden.
Kollhoffs Vision ist durchaus „ein Platz für die Massen“, für attraktive Events zum Beispiel und nicht für billige Buden. Jetzt kommen zwar massenhaft Touristen, aber den allermeisten Berlinern ist der Platz ein Gräuel. Zu DDR-Zeiten waren die Menschen noch stolz auf den Fernsehturm oder die Weltzeituhr, sie kamen dorthin, trafen sich dort, träumten sich vielleicht auch fort. Doch selbst diese Funktion hat der Platz verloren.
Türme allein werden diesen Platz nicht gemütlicher machen. Hans Kollhoff weiß, dass die Wolkenkratzer-Vision nicht automatisch neue Identität schafft. Und selbst wenn, welche würde es sein? Sind nicht die Hochhäuser und das Areal drumherum demnächst nur exklusive Zonen für exklusive Kundschaft?
Kollhoff sagt: Doch, der Alex habe das Zeug, „ein Franz-Biberkopf-Platz“ zu sein. Der aber war in Alfred Döblins Romans ein Vertreter der „kleinen Leute“, ohnmächtig im Getriebe einer schneller und erbarmungsloser werdenden Industriewelt – chancenlos den Kräften des Stärkeren ausgeliefert. Ein trauriger, sympathischer Verlierer.
Passt das zusammen? Luxushochhäuser und gleichzeitig ein Platz für ein schnelles Bier und eine Wurst; ein Ort im Schatten der Türme für die vom Alltag Versehrten und ausgebrannten Großstädter? Passen Renditeinteressen von Investoren und die Sehnsucht nach einer neuen alten Stadtidentität rund um den historischen Kern Berlins zusammen?
Die ersten Hochhäuser der neuen Zeit stehen im Umfeld des Alex oder sind im Bau. Das Grandaire in der Voltairestraße gehört dazu. Im Wohnturm wird eine knapp 54 Quadratmeter große Wohnung, zwei Zimmer, für 399.500 Euro verkauft.
Die Capitol Tower, deren Bau eigentlich schon im August hätte starten sollen, werden rund 377 Wohnungen fassen von 30 bis 250 Quadratmetern. Es wird pompös.
Steffen Hauff zahlt für seine Mietwohnung im 13. Stock der Wohnungsbaugesellschaft WBM 950 Euro warm, in den Dachgeschossen der neuen Berlin-Visionäre können es für einen ähnlichen Blick bis zu zwei Millionen Euro Kaufpreis sein.
Die Baugrube für den Turm des amerikanischen Projektentwicklers Hines, einen weiteren Hausriesen, ist noch nicht geschaffen, weil die BVG Angst hat, dass ihr U-Bahntunnel unter dem Gebäude volllaufen oder absacken könnte. Ebenso noch nicht am Start sind die Hochhäuser, die die TLG Group am nordöstlichen Rand der Alexanderstraße plant. Hier wird die Baugenehmigung im nächsten Jahr erwartet.
Auch Covivio, ein französischer Investor, wartet noch auf die Baugenehmigung, der Vorbescheidsantrag ist bereits in Arbeit, heißt es aus dem Bezirksamt Mitte. Das Hochhaus entsteht auf dem Gelände, auf dem jetzt bereits das Park Inn steht.
Auf einer Gesamtfläche von rund 60.000 Quadratmetern sollen Büroflächen, Coworking Spaces, Einzelhandel, aber auch Wohnungen und eine Kita entstehen. Covivio verspricht Gastronomie sowie einen „Garden Club“ mit Terrasse. In einer Mitteilung des Konzerns heißt es, statt Mononutzung gehe es um „die urbane und erlebbare Stadt für Bewohner, Nutzer und Besucher“. Der Grundgedanke der Community sei „Leitbild der Entwicklung“.
Würde es so kommen, könnte sich Julia Erdmann, die Stadtplanerin, damit anfreunden. Sie steht nun mit dem Rücken zu Galeria Kaufhof, vor ihr plätschert der Brunnen der Völkerfreundschaft. Ihr Blick wird durch eine Bratwurstbude und einen Crêpesstand verstellt. Es riecht nach Essen und Abgasen, der graue Steinboden ist fleckig von alten Kaugummis. Erdmann hat ihren blass himmelblauen Mantel über den linken Arm gefaltet, mustert ihre Umgebung, lächelt: „So merkwürdig es jetzt klingen mag, aber der Platz hat auch Potenzial!“
Ihre persönliche Vision ist eine demokratische: ein Platz für alle, ein wirklicher Treffpunkt, „eine Bühne für die Stadtgesellschaft“, so heterogen sie auch sein mag. Jeder sollte sich eingeladen fühlen, auf den Platz zu kommen, nicht durch Fressbuden, sondern zum Beispiel temporäre Bühnen für Konzerte, Festivals oder Freilichtkino. „Die Größe bietet ja gerade Raum für Leben.“
Regula Lüscher kann aus ihrem Büro im 14. Stockwerk in Wilmersdorf über die gesamte Stadt bis zum Fernsehturm und dem Alexanderplatz schauen. Die zierliche Frau mit dem Pagenschnitt ist die Senatsbaudirektorin, seit drei Jahren hat die gebürtige Schweizerin das Amt im Ressort von Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) inne.
Doch als Städteplanerin und Architektin beschäftigt sie der Platz und seine Zukunft schon lange, mit Hans Kollhoff hat sie sich immer wieder ausgetauscht. Dass seit seinen ursprünglichen Plänen mehr als 25 Jahre vergangen sind, stört die 57-Jährige nicht. Jedenfalls sagt sie das so. Das sei normal. Die Wirtschaft in den 90ern sei schwach gewesen, der Druck zu bauen gering. Die lange Pause also – kein Problem. „Solange es eine Planung gibt, gibt es auch eine Vision.“
Lüscher findet es gut, dass nun der Bestand aus der DDR ernst genommen und mit den Ideen von Hans Kollhoff versöhnt werde. Das Haus des Reisens wird erhalten, ebenso das Haus des Lehrers und das Haus des Berliner Verlags. Die acht Hochhäuser, die nun nach und nach entstehen, sollten ursprünglich höher als 150 Meter sein, doch nun sind sie auf 130 Meter gedeckelt, damit der Fernsehturm als Zeichen der Stadt sichtbar bleibt.
Mit Auswirkungen: Durch die Hochhäuser und die Sockelbauten werde sich der Charakter auf dem Platz endlich verändern. „Die Aufenthaltsqualität wird intimer, weil die Fläche des Platzes reduziert wird.“ Ähnlich wie Julia Erdmann ist sie davon überzeugt, dass dem Platz Wände fehlen.
Doch allein die Architektur könne den Platz nicht gemütlich machen. „Wir wollen Restaurants und Cafés, die den Platz beleben, um ihm die Anonymität und das Abweisende zu nehmen.“
Nur: Im Detail hat niemand Einfluss darauf. Denn der Gestaltungsspielraum gegenüber den Investoren ist extrem eng. Ob eine große, internationale Kette oder ein Mittelständler am Alex ein Café eröffne, habe sie nicht in der Hand. Senat und Bezirk bleiben nur Überzeugungsarbeit, dass, wie es Lüscher ausdrückt, „sich Qualität letztlich auch für Investoren auszahlt“.
Eine Zukunftsträumerin ist Regula Lüscher nie gewesen, in ihrem Job geht es um Realismus, Kompromisse - und langen Atem. Es ist nicht klar, wer am Ende dieses gefühlten Ewigkeit-Prozesses Grund zur Freude hat. Die neue Skyline, sollte sie Ende der 2020er Jahre wirklich stehen, verändert womöglich nichts Grundsätzliches. Lüscher sagt, der Alexanderplatz sei nun mal ein großstädtischer Platz mit Metropolenflair, „da dürfe es auch mal etwas ruppig sein“.
Und so wird der Alex, das sagt Lüscher selbst, bleiben, was er ist: ein urbaner, steinerner Raum.