Sie hängt, leuchtet, flattert. Außenwerbung ist ein Millionengeschäft. Doch nun tobt in Berlin ein Kampf um ihre Zukunft. Um Geld, Einfluss, Zuständigkeiten – und die Frage: Wer darf die Stadt gestalten?
Sie haben keinen Bock mehr. Solange das Gesetz ihr Problem nicht regelt, müssen sie eben selbst ran. Auch wenn das, was sie gleich machen werden, illegal ist. Denn die 16 jungen Frauen und Männer, die an diesem kaltgrauen Sonntag in einem kleinen, schlecht beheizten Projektraum in Prenzlauer Berg im Stuhlkreis sitzen, haben heute genau ein Ziel: Sie wollen Adbuster werden, wollen Werbung, so die wörtliche Übersetzung, zerschlagen.
„Weil in ganz viel Werbung Rassismus oder Sexismus steckt.“ „Weil Werbung visuelle Umweltverschmutzung ist.“ „Weil die Stadt uns gehört und nicht irgendwelchen Unternehmen.“ „Weil es gruselig ist, mit welchen Tricks Werbung uns manipuliert.“ „Weil der dauerhafte Konsumappell nervt.“
Guerilla
Adbuster wollen Werbung in Zeiten, in denen allerorts was hängt, wirbt und blinkt, mit kreativen Mitteln umgestalten. Sie verleihen Plakaten mit kleinen Veränderungen eine neue Bedeutung. „So kannst du kritische Informationen verbreiten und die Menschen zum Nachdenken anregen“, hatte die Organisation, die nicht namentlich genannt werden will, im Netz über den Anti-Werbeworkshop informiert. Aktivismus, irgendwo zwischen Straßenkunst und Kommunikationsguerilla. Zielgruppe 16- bis 26-Jährige, keine Kosten, Kurs ausgebucht. Ein kleiner Trend zum Werbegegner in Zeiten, in denen Außenwerbung boomt.
Wo man auch hinschaut, hängen, flattern und leuchten Bilder und Zeichen. In Berlin zeigt sich, was der Fachverband Außenwerbung (FAW) mit Zahlen belegt: Innerhalb der vergangenen fünf Jahre haben sich die Umsätze deutschlandweit nahezu verdoppelt. Allein in Berlin bebunten 20.643 Flächen die Stadt. 272 Millionen Euro wurden hier im vergangenen Jahr durch Plakatwerbung erlöst, macht 18,5 Prozent des deutschen Plakatwerbeumsatzes. Mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Kein Adblocker, kein Abschalten.
Mittendrin statt nur dabei.
»Welcome to Hell«
Der Seminarleiter, von Beruf Vollzeitaktivist, hat einen guten Draht zur Druckerei und Originalplakate mitgebracht. Fünf an der Zahl, jedes einzelne „irgendwie problematisch“. Zumindest alle Anwesenden sind sich da einig. Dazu buntes Papier, Farbeimer, Stifte, Scheren, ein paar Tuben Kleber und Tesafilm. Wichtig sei es, den Tipp gibt es noch vorab, die Veränderung farblich und stilmäßig anzupassen. Den Duktus der Werbemacher aufzunehmen. Manchmal reiche ein Buchstabe oder ein Wort, um auf eine unausgesprochene Wahrheit aufmerksam zu machen.
Also los. Was anstellen mit einer halbnackten Heidi Klum, die in einer Muschel stehend für ihre Show wirbt? Norwegerpulli drüber, eine noch schlankere Taille oder doch ein paar extra Pfunde? Alles machbar. Am Ende werden es die Teufelshörner. Zufriedener Blick aufs Ergebnis. „Germany’s Next Topmodel. Donnerstag 20.15 Uhr. ProSieben.“ Aus „Welcome to Paradise“ wird „Welcome to Hell“. Daneben Plakate mit den neuen Titeln „Wachsende Ungerechtigkeit zu Aldipreisen“ und „Lidl schont nicht“.
Wer hier ist, der hat ein linkes Selbstverständnis. Der hat genug von Sexismus, Rassismus, Klassizismus und Kapitalismus, will die Welt gerechter machen. Gutmenschen, würde sagen, wer es böse meint. „Leute, die das kritische Denken noch nicht verlernt haben“, sagt der Workshopleiter. Mitmach-Voraussetzung. Er habe nun mal keine Lust Teilnehmern zu erklären, warum der Klimawandel blöd sei und warum er Sexismus falsch finde. Punkt. Erkannt werden will er nicht. Das will hier keiner. Was sie alle wollen, ist ein Ende der Omnipräsenz von Werbung im öffentlichen Raum. Man müsse sich doch nur mal vorstellen, sagt einer der Teilnehmer, „wie geil das sein könnte, wenn Menschen selbst ihre Stadt gestalten“.
Wem gehört die Straße?
Der Kampf um Berlin ist eröffnet. Und die angehenden Adbuster stehen mit ihrer Kritik nicht alleine da. Was sie durch illegalen Protest anprangern, will eine Initiative auf legale Weise lösen. „Berlin Werbefrei“ will Außenwerbung stark eindämmen und hat Anfang des Jahres ein Volksbegehren gestartet. Sie wollen den öffentlichen Raum zurückerobern und von Konzernen befreien, wollen die Stadt schöner machen, wie sie sagen. Ihnen gegenüber steht der Senat, der in den kommenden 15 Jahren 350 Millionen durch die Vergabe von Werbeflächen einnehmen will. Außerdem die Berliner Werbebranche mit rund 26.500 Arbeitsplätzen. Mehrere Fronten sind da. In diesem Kampf, der sich um die Frage dreht, wem die Stadt gehört und wer sie gestaltet.
Die Reklamebilder prägen das Bild der Stadt. Auf Litfaßsäulen und Plakatwänden, an Haltestellen und an den Hochhausfassaden. Mercedes leuchtet an der Warschauer Brücke, vor dem Berliner Dom prangten bereits halbnackte Hintern, vor dem Palais rekelte sich einst Madonna. Riesenposter, groß wie ein Fußballfeld, verhüllen ganze Häuser. Selbst die Charité wurde über Jahre verhängt. All das, damit jeder weiß, welches Getränk Flügel verleiht und welches Abwehrkräfte aktiviert, damit klar ist, was Kinder froh macht und wohin man geht, wenn’s gut werden muss. Die Top-Werber: ein Sammelsurium aus örtlichen Unterhaltungsveranstaltungen, Unilever und Coca-Cola.
„Die Unternehmen erhoffen sich Multiplikationseffekte. Sie hoffen, dass der ,Berlin-Faktor’ ein bisschen auf sie abfärbt“, sagt Jochen Gutzeit, Hauptgeschäftsführer des FAW, und meint damit das „Hippe“, das „Kreative“ der Stadt. Allein aufgrund der Vielzahl von Menschen sei Berlin zudem ein attraktiver Standort. Die Top-Lagen: City West, Ku’damm und City Ost, Alexanderplatz. Hier wohnen nicht nur Leute. Hier kommen Politiker her, Geschäftsleute und Touristen. Volltreffer, wenn sich in der Erinnerung an Berlin das Bild der Stadt mit der Werbung für eine Marke verbinden.
Ordnungstrieb
Berlin-Mitte, Münzstraße / Ecke Almstadtstraße. Wo heute eine Bronzesäule an den einstigen „Pionier der öffentlichen Kommunikation“, den „König der Reklame“ erinnert, wurde im Jahr 1855 erstmals versucht Außenwerbung zu strukturieren: Die bundesweit erste Annoncier-Säule wurde errichtet. Ihr Begründer Ernst Theodor Amandus Litfaß hatte die Idee aus Paris und London kopiert, um dem Kommunikationsbedürfnis der zunehmenden Industrialisierung einen Raum zu geben.
Aus dem Ordnungstrieb des patriotischen Bürgers heraus wollte er wildes Zettelkleben verbannen. Eine Konzession des Polizeipräsidenten erlaubte ihm die Aufstellung von zunächst 150 „Annoncier-Säulen“. 100 neue Säulen wurden errichtet, 50 bereits existierende Brunnen und Pissoirs zum Zwecke der Plakatierung mit Holz verkleidet.
Werbung für Orchesteraufführungen, öffentliche Verordnungen, Heiratsankündigungen adliger Herrschaften und Theaterprogramme sollten künftig nicht mehr an Mauern und Häuserwänden, sondern eben daran kleben. Passend dazu das Leierkastenloblied, eigens von Litfaß in Auftrag gegeben. „Heut sind die Ecken reiner, piekfeiner, ja piekfeiner, denn Litfaß kam aus seiner, ja seiner Eck’ heraus.” Der Mann hatte die Stadt im Griff.
Da weiß man, was man hat.
Zeitreise: Die Geschichte der Berliner Werbung
Von Hausbemalung, über fliegende Werbung bishin zu öffentlichen Toiletten. In Berlin wurden über die Jahrzehnte immer wieder neue Werbeformen ausprobiert. Wie Werbung die Stadt verändert hat – und die Stadt die Werbung.
Der Druckereibesitzer Ernst Litfaß stellt in der Münzstraße in Berlin die deutschlandweit erste Litfaßsäule auf. Als Reaktion auf die sich ausbreitende Wildplakatierung hatte er den Behörden vorgeschlagen, im ganzen Stadtgebiet Plakatsäulen zu installieren, um das Kommunikationsbedürfnis der Stadt zu strukturieren. Gegen Entgelt werden Poster und Bilder aufgehängt. Der „Säulenheilige“ und „König der Reklame“ wird so zu einem der ersten Werbeprofis in Deutschland und macht Außenwerbung zum Geschäftsmodell.
Außenwerbung etabliert in Deutschland einen neuen Markt
Neben den Litfaßsäulen gibt es immer mehr Werbeflächen. In Frankfurt gründet sich die Deutsche Städtereklame und entwickelt die DIN-Formate. In vielen Städten stellt das Unternehmen jeweils pro 1000 Einwohnern eine Werbesäule auf. Auch an Bushaltestellen und Bahnhöfen wird geworben. Erste Großflächentafeln hängen in Städten.
Während der NS-Zeit wird Produktwerbung verboten, umso mehr prägt Propaganda das Bild der Städte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das „Plakatierungswesen“ in Deutschland neu geordnet.
Der Wandel nach dem Kriegsende vollzieht sich schnell. In der DDR wird Außenwerbung durch die 1946 gegründete DEWAG zentral gelenkt, in der BRD übernimmt die Deutsche Städtereklame eine führende Position. In den kommenden Jahren entwickeln sich Verbandsstrukturen. 1949 gründet sich der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft e. V. Seit 1963 ist der Fachverband Außenwerbung e.V. als Interessenvertretung für Außenwerber in Deutschland aktiv.
1946
Die Idee der Stadtmöbel
Ein neues Werbeparadigma entsteht
In Frankreich entwickelt Jean-Claude Decaux die Idee der Stadtmöblierung und legt so den Grundstein für ein neues Außenwerbeparadigma. Sein Unternehmen JC Decaux will Service-Einrichtungen mit Werbung kombinieren und so öffentlich-private Partnerschaften etablieren. Unternehmen erbringen Dienstleistung, wie die Wartung von Bushaltestellen, und erhalten dafür Werberechte der Stadt.
Werbende Unternehmen, Medien und Agenturen schaffen mit dem Werberat eine Autorität, die das kommerzielle Werbegeschehen ordnend begleitet. Verbraucher sollen sich auch dann gegen anstößige Inhalte wehren können, wenn Anzeigen, Spots, Plakate oder Online-Werbemittel rechtlich nicht zu beanstanden sind. Der Werberat soll als Konfliktmanager zwischen Verbrauchern und Unternehmen vermitteln, Unternehmen gegebenenfalls öffentlich rügen. Top-Beschwerdegründe seit der Gründung? Der Vorwurf der Herabwürdigung und Diskriminierung von Frauen.
Der Unternehmer Hans Wall gründet aus seinem Metallbaubetrieb heraus die Wall AG und etabliert von Karlsruhe aus die Idee der Stadtmöblierung in Deutschland. 1984 gewinnt die Firma in Berlin die Ausschreibung für BVG-Wartehallen und verlegt ihren Unternehmenssitz nach Berlin. Sie bringt das Geschäftsmodell rund um die Stadtmöbel in die Hauptstadt und führt das City-Light-Poster-Format ein. Später folgen Citytoiletten und die Instandhaltung von Brunnen.
1984
Die drei Konkurrenten
Nach der Wende teilen drei große Player den deutschen Werbemarkt unter sich auf.
Ströer wird als Vorreiter des heutigen Unternehmens Ströer SE gegründet und ist vor allem in den neuen Bundesländern aktiv. Gemeinsam mit JC Decaux, das mittlerweile auch in der Bundesrepublik aktiv ist, und Wall tragen sie in den Folgejahren maßgeblich zur Entwicklung des Mediums und zur Digitalisierung bei. Rund ein Jahrzehnt später wird Ströer den Zuschlag für das 1922 als Deutsche Städte-Reklame gegründete Unternehmen „Deutsche Städte Medien“ und die „Deutsche Eisenbahn-Reklame“ bekommen. Dadurch stärkt das Unternehmen seine Marktposition und hält bis heute bundesweit das Recht zur Werbung an den Fern- wie S-Bahnhöfen.
1990
Fusion zu Giganten
Aus Drei mach Zwei. JC Decaux übernimmt im September 2009 die Firma Wall. Den deutschen – und auch den Berliner Werbemarkt – teilt sich die Firma weiterhin vor allem mit dem Großkonkurrenten Ströer. Während JC Decaux / Wall vor allem auf öffentlichem Grund aktiv ist, konzentriert sich Ströer vermehrt auf Werbeflächen auf privatem Grund.
Das Recht, auf öffentlichem Straßenland zu werben, hat der Senat in einer umfassenden Ausschreibung neu vergeben. Das Prinzip der Stadtmöblierung wird ad acta gelegt, stattdessen zahlen die Unternehmen dem Senat Geld für das Recht zu werben.
Den weltweit ersten digitalen Werbe-U-Bahnhof gibt es in Berlin. Nach Zustimmung der Denkmalschutzbehörde sowie der BVG rüstet Wall als Vorreiter der deutschen wie internationalen Außenwerbung im Sommer 2010 den U-Bahnhof Friedrichstraße auf ausschließlich digitale Werbeflächen um. Die Flächen hinter den Gleisen präsentieren neben Werbeinhalten auch nicht-werblichen Content wie Veranstaltungshinweise, Werbung für gemeinnützige Projekte oder auch von Wall produzierte Info-Reihen wie Gebärdensprachkurse.
Es gibt durchaus Szenarien, in denen jeder Mensch durch die Technologie, die er bei sich trägt, gläsern wird. Auch werbetechnisch wird das genutzt. „Es werden natürlich Versuche unternommen, die darauf abzielen, dass ein Plakat auf die Person die davorsteht angepasst wird“, sagt Sascha Raithl, Professor für Marketing an der FU Berlin. Bisher sei die Technologie noch sehr teuer. Mit der Zeit werde sich das ändern.
2025?
Mehr als 170 Jahre später hat man Ordnung zumindest nicht mehr. Die Stadt spricht Litfaß’ einstigen Bemühungen Hohn. Der Wunschtraum einer aufgeräumten Stadt: gescheitert. An 3,7 Millionen Einwohnern. Und wahrscheinlich auch an den all so oft unklaren Zuständigkeiten, den komplizierten Verwaltungsstrukturen. Nicht nur, dass Chaos herrscht. Es weiß noch nicht einmal jemand, wie groß das Chaos eigentlich ist.
Offiziell liegt das Werbemonopol mittlerweile bei der Stadt. Das Recht, auf öffentlichem Straßenland zu werben, hat der Senat erst kürzlich in einer umfassenden Ausschreibung neu vergeben. 30 Prozent weniger Großwerbeflächen und gut zehn Prozent weniger Vitrinen soll es ab 2019 von Seiten des Landes geben.
Alle zuständig – aber keiner war’s
Das Puzzle aller Werbeteile zusammenzusetzen ist dennoch kompliziert. Die Frage, wo genau, wie viel geworben wird, kann und will in dieser Stadt, so scheint es, keiner beantworten. Der Senat selbst liefert nach einigen Wochen und mehrfacher Nachfrage eine Liste der von ihm genehmigten Flächen auf öffentlichem Grund. Eine Liste der Werbeflächen auf privatem Grund ist auf Landesebene nicht vorhanden, „da für die gegebenenfalls nötige Sondernutzungserlaubnis die Bezirke zuständig sind.
Auf der Karte können Sie sehen, in welchen Postleitzahlgebieten die meisten Werbeanlagen stehen. Die Zahlen beziehen sich dabei nur auf Anlagen auf öffentlichem Boden. Über die Flächen auf Privatgrund hat anscheinend niemand einen Überblick…
Die Bezirke selbst müssen auf Nachfrage zunächst einmal herausfinden, wer zuständig ist, und teilen mit: „Eine separate Erfassung von Werbeanlagen in einer Liste erfolgt nicht.“ Die einzelnen Akten zusammenzufassen sei aufgrund fehlender Kapazitäten nicht möglich. Die Empfehlung: „Vielleicht wenden Sie sich diesbezüglich eher an die Firmen Wall und Ströer.“
Neben unzähligen kleinen Firmen für Plakatwerbung sind sie in Berlin, was den Vertrieb der Werbeflächen angeht, die zwei großen Player: Wall auf öffentlichem Grund, zum Beispiel Toiletten, und Flächen der BVG. Großkonkurrent Ströer auf Privatgrund und Flächen der Deutschen Bahn. Früher allein analog, heute zunehmend auch digital. Ihre Werbestandorte preisgeben, wollen beide Firmen nicht, schieben sich jeweils die Schuld zu.
Extrablatt! Auf der Suche nach der Liste
Es scheint wie eine einfache Frage: Wo wird in Berlin wie viel geworben? Doch sie führt in eine Odyssee zwischen Senatsverwaltung, Bezirken und Konzernen. Hier das Ergebnis Berliner Art:
Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz
„Auch sind auf dieser Liste nur die Werbeanlagen auf öffentlichem Straßenland aufgeführt, nicht jedoch Werbeanlagen auf privatem Grund (wozu auch das Gelände der Deutschen Bahn oder BVG gehört). Über die Werbeanlagentypen, die nicht in Liste sind, gibt es auch keine gesammelten Aufstellungen, da für die ggf. nötige Sondernutzungserlaubnis die Bezirke zuständig sind und dort keine entsprechenden Listen geführt werden.“
Charlottenburg-Wilmersdorf
„Wir haben dazu leider gar nichts.“
Friedrichshain-Kreuzberg
„Eine Liste über genehmigte Flächen auf privatem Grund gibt es nicht, da hier nur im Einzelfall das Stadtentwicklungsamt genehmigen muss. In den meisten Fällen reicht die Genehmigung durch den Eigentümer der Fläche.“
Lichtenberg
„Wir verfügen nicht über eine entsprechende Liste.“
Marzahn-Hellersdorf
„Eine eigene Auswertung aller Einzelfälle, wann wer wo welche Aufstellung beantragt hat, wurde und wird jedoch nicht geführt, so dass die von Ihnen gewünschte Aussage nicht getroffen werden kann.“
Mitte
„Die Erhebungen würden aufwendige Einzelauswertungen bedeuten, da nur einzelfallbezogene Genehmigungen erteilt werden. Ich bitte um Verständnis.“
Neukölln
„Nach Rücksprache mit dem Stadtentwicklungsamt verfügen wir leider über keine Übersicht aller vom Bezirk genehmigten Werbeflächen (auf privaten u. öffentlichen Flächen). Ich bedauere, Ihnen keine andere Antwort auf Ihre Anfrage übermitteln zu können.“
Pankow
„Ihre Fragen würden äußerst umfangreiche Recherchen im Straßen- und Grünflächenamt, Fachbereich 1 erfordern, die personell nicht leistbar sind, auch aufgrund der derzeit hohen Arbeitsanforderungen.“
Reinickendorf
„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass eine solche Liste in unserem Bezirksamt nicht existiert. Der Bezirk sieht nicht den Handlungsbedarf eine solche Liste zu erstellen. Vielleicht wenden Sie sich diesbezüglich eher an die Firmen Wall und Ströer.“
Schöneberg
„Leider wurde Ihre Anfrage versehentlich nicht weitergeleitet. Ich bitte dies zu entschuldigen.“
Spandau
„Mir ist keine Gesamtliste des Bezirks bekannt, um unerlaubt angebrachte Werbung identifizieren zu können. Diese würde auch aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten keinen Sinn machen.“
Steglitz-Zehlendorf
„Nach meinen Recherchen existiert so eine Liste im Bezirksamt nicht. Grund dafür ist, wie am Telefon schon vermutet, die unterschiedliche Zuständigkeitsverteilung je nach Werbeart im gesamten Bezirk.“
Treptow-Köpenick
„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass aus personellen Kapazitätsgründen in dem zuständigen Fachamt, die Beantwortung Ihrer Fragen derzeit nicht möglich ist.“
BVG
„Das sind interne Daten, die wir nicht herausgeben. Listen von Werbeflächen sind nur über die Wall AG zu erhalten.“
Deutsche Bahn
„Leider können wir Ihnen den Gesamtumfang der Werbeflächen in Berlin oder anderswo nicht nennen, da es sich um unternehmensinterne Daten handelt. Ich möchte Ihnen aber noch diese Informationen geben: Die Firma Ströer ist bundesweit Vermarkter aller Werbeflächen, die im Besitz der Deutschen Bahn sind, also inklusive der Berliner S-Bahn.“
Ströer
„Zu Ihrer Anfrage kann ich Ihnen mitteilen, dass wir grundsätzlich keine Betriebsinterna herausgeben. In Berlin hält Wall den Stadtvertrag, die damit einhergehend deutlich präsenter im öffentlichen Raum vertreten sind.“
Wall
„Da die Werberechte für Berlin kürzlich erst neu vergeben wurden und wir gerade dabei sind, mit dem Land wie dann mit den einzelnen Bezirken die Neupositionierung aller Standorte zu besprechen, betrachten wir es als wenig sinnvoll hier über ein Bild zu sprechen, was bereits ab dem nächsten Jahr nicht mehr Bestand haben wird, insbesondere weil wir zu 2019 einen Teil unseres Portfolios an andere Anbieter abgeben werden.“
Natürlich. Wer will schon in Zeiten der Neuausschreibung, in denen sich parallel auch noch ein Volksbegehren breitmacht, der böse Werber sein. „Wir sind der Premiumanbieter, Ströer der Massenanbieter. Das Drama spielt auf dem Privatgrund“, sagt Wall.
„In Berlin hält Wall den Stadtvertrag, die damit einhergehend deutlich präsenter im öffentlichen Raum vertreten sind“, sagt Ströer. Eine Auskunftspflicht haben beide nicht.
Berlin, du bist so wunderbar.
Werbetour mit Werber
Zurück zur Münzstraße: morgens halb 10 in Deutschland. Zahlen will die Firma Wall zwar nicht nennen, dafür aber zu einer Stadttour einladen. Die Firma will zeigen, was ihr am Herzen liegt, will deutlich machen, wie sich die Debatte aus ihrer Sicht gestaltet. Immerhin würden sie ja als Synonym für Werbung wahrgenommen.
Als Repräsentant vor Ort: Patrick Möller, Geschäftsführer Städtemarketing und Service, 80er Jahre Drahtgestell-Brille, dazu Jackett und Sneakers. Nicht ganz entschieden, ob Typ lässiger Kumpel oder seriöser Geschäftsmann, wird er heute für die Werbung werben. Zumindest für die, die an seinen Werbeträgern hängt. Dafür geht es einmal durch Berlin, über die Warschauer Straße bis zum Kurfürstendamm. Fahrtzeit knapp zwei Stunden. Pressesprecherin, schwarzer Mercedes und Chauffeur inklusive.
Los geht’s am Litfaß-Denkmal, wo Möller seine Firma zum Erben des einstigen Werbepioniers erklärt. Wall hat sein Prinzip weiterentwickelt, hat die Idee der Stadtmöbel nach Deutschland gebracht und so bereits 1984 in Berlin die Verbindung von Werbung mit öffentlichen Dienstleistungen geschaffen. Der jahrelange Deal: saubere Toiletten und intakte Brunnen gegen das Recht zu werben.
Extrablatt! Das sagt die Neuausschreibung des Senats
Im kommenden Jahr beginnt ein neues Kapitel der Berliner Außenwerbung. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz hat die Werberechte auf öffentlichem Straßenland erstmals in der jüngeren Geschichte der Stadt neu ausgeschrieben und ab 2019 für 10 beziehungsweise 15 Jahre vergeben. Dann gilt: Stadtmöblierung adé. Der jahrelange Deal „Dienstleistung gegen Werberecht“ wird ad acta gelegt. Stattdessen will das Land von den Vertreibern der Werbeflächen in den kommenden 15 Jahren rund 350 Millionen Euro einnehmen, die dann im Gesamthaushalt unter anderem für den Betrieb von Brunnen und Toiletten zur Verfügung stehen sollen.
Die Werberechte wurden in drei Kategorien vergeben. Hinterleuchtete City-Light-Poster und -Vitrinen, dazu gehören 169 Großformate und 883 kleinere Vitrinen und Werbesäulen, werden künftig von Wall bespielt. Das ist immer noch das lukrativste Geschäft, obwohl es rund 30 Prozent weniger Großwerbeflächen und gut zehn Prozent weniger Kleinvitrinen gibt als bisher. Die rund 2500 Litfaßsäulen bewirtschaftet, anders als bisher, künftig nicht mehr Wall, sondern die ILG-Außenwerbung aus Stuttgart. An Laternen und anderen Masten, insgesamt 4100, darf die Berliner Firma Mediateam Stadtservice Plakatflächen anbieten.
Für das kleinste Los, die Werbung an rund 430 Uhren, gab es keine zufriedenstellenden Angebote, sodass die Firma Ströer vorerst weiter dafür zuständig ist. Noch offen sind die Flächen der Berliner Verkehrsbetriebe, insbesondere an Buswartehäuschen (4500 Wartehallen). Hierfür bewirbt sich ebenfalls die Firma Wall. Die Häuschen wären der letzte Rest, der Berlin von der Idee der Stadtmöblierung bleibt.
Dass die Stadt durch ihre Neuausschreibung dieses Prinzip künftig ad acta legt und von den Unternehmen nur Gelder statt Dienstleistungen verlangt, findet Möller nicht gut. „Im Sinne des Stadtbilds halte ich das für einen großen Fehler“, sagt er. Und im Sinne Litfaß’ sei es doch auch heute noch ihr Anliegen, wie damals seines, „die Stadt zu ordnen“.
Dass es derzeit eine Protestbewegung gibt, die sich auch gegen sein Unternehmen richtet, dazu will Möller sich lieber nicht äußern. „Ich sehe eigentlich nicht, dass es hier eine große Protestbewegung gibt, wenn in einer Millionenstadt 20.000 Unterschriften gesammelt werden“, sagt er. Das sei eher „so ein typisches Berlin-Ding“. „Rückeroberung und so.“ Stattdessen betont er während der Fahrt den Nutzen von Werbeflächen. Werbung sei nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Gerade beim klassischen Plakatanschlag seien die Kunden zu 90 Prozent lokal und regional.
In erheblichem Maße nutze das auch den kulturellen Einrichtungen. Der Friedrichstadt-Palast zum Beispiel, sagt er, hätte ohne Werbung längst schließen müssen. „Ohne Außenwerbung würde der Palast wohl ein Drittel seines Umsatzes verlieren. Das entspräche vier Monatsumsätzen, und das würden wir nicht überleben“, bestätigt Intendant Berndt Schmidt. Publikum lockt man nun mal auch durch Werbung. Und die vom Friedrichstadt-Palast hängt in der ganzen Stadt. 783 Plakate sind es aktuell. Viele Farben, viele Federn und Bodypainting.
The One Grand Show.
Integrationsfragen
„Die Werbeflächen von Wall sind anteilig in der Minderzahl und gut integriert“, sagt Möller. Problematisch sei etwas Anderes, und um genau das zu zeigen, hat er seine Route gewählt. Links XXL-Poster an Gerüsten, rechts Werbeflächen auf Häuserfassaden. „Alles Privatgrund“, sagt er. Poster unter Brücken, an Bauzäunen oder Wänden. „Alles Wildanschlag. Alles illegal.“
Woran er das erkennt? In der Regel könne man sagen, dass alles, was als störend empfunden wird, illegal ist, sagt er. Es gebe keine schöne oder hässliche Werbung, wenn man mal von wild geklebten Plakaten, die von Lichtmasten und Wänden abblättern oder abgefallen als Müll in den Straßen herumfliegen, absehe. Denn das sei in der Tat hässlich und müsse deshalb verschwinden. So einfach ist das – aber nur in der Theorie.
Denn wenn alle ein bisschen verantwortlich sind, ist es eben niemand so richtig.
Unterwegs mit Sisyphos
Anruf im Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf: Werbung? Moment bitte. Man wird weitergeleitet. Noch mal. Und noch mal. Ein letztes Mal. Dann hebt Günther Drobisch ab, der eigentlich schon in Rente, aber einmal die Woche da ist, um seinen Kollegen einzuarbeiten. Ja, sagt er, er könne da einiges erzählen und auch ein bisschen was zeigen. Der Urberliner, grauer Vollbart und schütteres Haar, weiß, was in der Stadt werbetechnisch schiefläuft, und kann jetzt, da er sein Berufsleben hinter sich hat, entspannter drüber reden. Bis zum vergangenen Jahr hat er im Stadtplanungsamt des Bezirks gearbeitet, hat entschieden, welche Werbung genehmigt wird und welche nicht.
In Berlin sieht er zwei grundsätzliche Probleme: eine schwammige Gesetzesgrundlage und fehlende Zuständigkeiten. Das Gesetz, erklärt er, schreibe vor, dass Werbung dann verboten werden soll, wenn sie als störende Häufung oder verunstaltend gelte. Aber was ist schon Verunstaltung? „Verunstaltung ist sicher auch eine individuell bewertbare Richtlinie.“
Und was ästhetisch? „Ästhetik, darüber kann man tunlichst streiten.“ Zwar sollen vom Senat entwickelte Leitlinien „unter Wahrung der bezirklichen Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen“ größere Einheitlichkeit schaffen – eine Einkaufsstraße beispielsweise vertrage relativ viel Werbung, ein Unesco-Weltkulturerbe überhaupt keine, Werbung dürfe außerdem auffallen, aber nicht stören – de facto gebe es in den Bezirken allerdings keine konkreten Maßstäbe.
Wenn Hintern die Kirche sanieren
Was in Neukölln erlaubt ist, kann in Steglitz verboten sein. So wurde in Friedrichshain-Kreuzberg sexistischer Werbung der Kampf angesagt. Im Bezirk Mitte gibt es neuerdings eine Jury, die zusammentrifft, wenn es eine Beschwerde über eine Werbung eingeht. Vielleicht schaffen es so künftig keine halbnackten Frauenhintern mehr vor den Berliner Dom. Vielleicht gibt es künftig keine Apple-Werbung vor der Hedwigs-Kathedrale, Ford- und Citroënplakate an der Charité oder Madonna am Prinzenpalais.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Vielleicht heiligt im Zweifel aber auch der gute Zweck alle Werbemittel: Wo immer Baudenkmäler saniert werden müssen, dauert es nicht lange, bis an den Gerüsten Riesenposter hängen. Denn jeder Tag mehr bedeutet Geld. Beispiel Gedächtniskirche. 1999 wurde der Glockenturm saniert, 2006 das Kirchengebäude. Beide Maßnahmen wurden fast vollständig durch die Poster finanziert. Die haben Kosten im höheren sechsstelligen Bereich gedeckt. „Nicht der Königsweg. Der Kirchturm ist keine Litfaßsäule“, sagt Pfarrer Martin Germer, „aber wenn es nicht anders möglich ist, wenn die Alternative ist, dass das Gebäude zerfällt, stellt sich die Frage nicht.“ Dann muss man es eben tun.
Ästhetik als seltener Luxus
„De facto hat in den Bezirksämtern jedenfalls keiner einen Überblick, was genehmigt ist und was nicht“, sagt Drobisch und zeigt bei einem Stadtrundgang durch seinen Bezirk, was alles illegal ist. Das Aquaristikgeschäft, dessen Fassade eine einzige Werbefläche ist, das Banner vor dem Fitnessstudio, die Tafeln am Edekaparkplatz, kleine Zettel und große Plakate. „Da ist ganz viel Chaos.“ „Das ist viel zu groß und eigentlich nie genehmigungsfähig.“ „Das wurde sicher nie beantragt.“ „Dieses Plakat habe ich der Bauaufsicht vor einem Jahr gemeldet. Hängt jetzt noch.“
Eine direkte Zuständigkeit für illegale Werbung gebe es nicht, sagt er. Eigentlich solle jeder Mitarbeiter mit offenen Augen durch die Stadt gehen und dann, wenn es die Zeit erlaubt, Versagungen für nicht genehmigte Werbung schreiben. Man müsse natürlich versuchen, die nachträglich zu versagen und eine Abbauverfügung zu erlassen, aber das sei aufgrund der personellen Situation bei der Menge kaum durchführbar.
„Das machen Kollegen auch heute trotz alledem, wenn sie selbst diesen ästhetischen Anspruch haben und das irgendwie zwischen den anderen Verfahren eintakten können.“ Er selbst war so jemand. Aber er war eben auch einer von wenigen. Und so führen Stromkästen, Laternenpfähle und Altpapiercontainer weiterhin ein ziemlich klebriges Dasein.
Für die einen macht vielleicht genau das Berlin aus. Das Bunte. Das Chaos. Das gehört dazu. Das ist Kult. Ist es eben schmuddelig. Dann ist Werbung eben von Konzernen gemacht. Na und? Jeder hat die Freiheit ein Plakat aufzuhängen. Oder?
Bild dir deine Meinung.
Zurück zu Litfaß’ Wurzeln?
Nachgefragt bei denen, die das ganz anders sehen. Berlin wäre auch ohne Werbung bunt und vielfältig, sagen die. Mit dem Slogan „Die Stadt soll schöner werden“ sind dutzende Unterstützer von „Berlin Werbefrei“ unterwegs. Mit Plakaten und Flyern. Darauf zu sehen ein grimmiger Bär und das Wort „Nö“. Schwarz auf weiß. Sie sammeln allerorts: Flohmarkt am RAW-Gelände, Wochenmarkt auf dem Boxhagener Platz, Alte Försterei, Mauerpark, Tempelhofer Feld, LPG-Biosupermarkt, Winterfeldtmarkt und Prinzessinnengärten. Sie wollen Unterschriften für das „Gesetz zur Regulierung von Werbung in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum“ oder kurz „Antikommodifizierungsgesetz“.
Initiator ist der Jurist Fadi El-Ghazi, der das Gesetz mithilfe eines Volksentscheids durchsetzen will. Weißes Hemd, Dreitagebart, glattes schwarzes Haar. Ein bisschen wirkt er wie der spießigste Freiheitskämpfer Kreuzbergs, wie er da gegen die Werbung wettert. Sein Ziel: zurück zu Litfaß’ Wurzeln. Weil „die Gesetzeslage in dieser Stadt so kompliziert“ ist und weil, wie er sagt, Werbung „sowieso jeden nervt“, will er sie im öffentlichen Raum für unzulässig erklären und wenige Ausnahmen definieren.
Digitale Werbeflächen wie die blinkende Tafel am Kurfürstendamm wären passé, Veranstaltungswerbung und gemeinnützige Aushänge nur an den 2537 Litfaßsäulen, an Haltestellen und einer begrenzten Anzahl ausgewiesener Flächen möglich. Auch Produktwerbung an der sogenannten „Stätte der Leistung“, wie etwa vor Geschäften, Gaststätten und Betrieben, wäre weiterhin erlaubt. Herabwürdigendes oder Diskriminierendes dagegen wäre generell verboten, genauso wie Werbung in Schulen, Universitäten und öffentlichen Einrichtungen. Mit dem „Rundumschlag“ will El-Ghazi möglichst viele Menschen erreichen, wie er sagt. Und wenn er das sagt, klingt er sehr pragmatisch.
»Negative Meinungsfreiheit«
Es scheint, als sei das Projekt für ihn eher eine Prinzipiensache als eine Herzensangelegenheit. Prinzipien und Recht sind ihm verdammt wichtig. „Das ist doch eine massive Meinungsmache. Ich will das nicht irgendwelchen Unternehmen überlassen. Ich will selbst mitentscheiden, wie meine Stadt aussieht“, sagt er. Die „negative Meinungsfreiheit“, die wolle er verfechten, „das Recht, nicht von fremden Meinungen in unzumutbarer Weise belästigt zu werden.“
El-Ghazi argumentiert mit dem Begriff der praktischen Konkordanz. Einmal Fachjargon: „Verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter müssen in der Problemlösung einander so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Beiden Gütern müssen Grenzen gesetzt werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können.“ Soweit, so juristisch: Keine grenzenlose Werbung mehr.
Extrablatt! Was die Fraktionen sagen
Wir haben die Berliner Fraktionen gerfragt, ob ihre Fraktion den Volksentscheid von Berlin Werbefrei befürworten würde.
SPD
Daniel Buchholz, Sprecher für Stadtentwicklung: Durch die neuen Verträge haben wir glücklicherweise bereits deutlich weniger Werbung in der Stadt. Das ist ein kleiner Erfolg gegen die Werbeflut. Eine Geschmackspolizei oder einen Wächterrat, der entscheidet, welche Werbung erlaubt ist und welche nicht, finde ich schwierig. Von einigen Verbesserungen abgesehen, gibt es für ein werbefreies Berlin keine Mehrheit in der Fraktion. Berlin wäre dadurch deutlich langweiliger.
Die Linke
Katalin Gennburg, Sprecherin für Stadtentwicklung: Ich bin ein großer Fan der Initiative. Die Linke unterstützt „Berlin Werbefrei“ als Landespartei ganz offiziell. Es ist ein sehr wichtiges Anliegen über Elemente nicht kommerzieller Stadtentwicklung nachzudenken. Es muss einen öffentlichen Raum geben, in dem man nicht dauerhaft mit Konsumfragen konfrontiert wird. Wir werden uns mit diesem Thema intensiver befassen und die Initiative unterstützen.
Grüne
Harald Moritz, Verkehrspolitischer Sprecher: Zu klären wäre natürlich, wie sich der Gesetzesentwurf von „Berlin Werbefrei“ mit den geschlossenen Werbeverträgen vereinbaren lässt. Aber es ist grundsätzlich richtig, zu überlegen, wie man weniger störende Werbung in der Stadt hat. Das nimmt ja ein ziemliches Ausmaß an. Als Fraktion haben wir noch keinen Beschluss getroffen, wie wir uns bei einer möglichen Abstimmung verhalten würden.
CDU
Stefan Evers, Sprecher für Stadtentwicklung: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Stadt übermäßig an Werbung leidet oder dass die Berliner fremdbestimmt sind. Außerdem kann Berlin auf die Werbeeinnahmen nicht verzichten. Eine Einschränkung der Werbung würde eine höhere Belastung für Berliner mit sich bringen. Das wollen wir nicht. Als deutlich größeres Problem sehe ich die illegale Werbung. Das ist Verunstaltung und Verschandelung.
AfD
Harald Laatsch, Sprecher für Stadtentwicklung: Ich halte nichts von der Initiative und sehe keinen Anlass Außenwerbung einzuschränken. Werbung mach Sinn, weil sie mich informiert. Wir als Fraktion wären dagegen.
FDP
Florian Swyter, Sprecher für Wirtschaft: Wir werden so einen platten Spruch wie „Berlin Werbefrei“ nicht unterstützen. Ich sehe keinen Handlungsbedarf für Restriktionen. Das, was wir an Gesetzen haben, ist ausreichend, um ein Gleichgewicht herzustellen zwischen Stadtbild, Ästhetik und Werbefreiheit. Ich will kein Stadtbild „DDR reloaded“.
17.000 Menschen haben bereits unterschrieben. Insgesamt braucht es bis Juli 20.000 Stimmen, damit der Senat prüft, ob der Volksentscheid zulässig ist. Anschließend 200.000, um das Volksbegehren umzusetzen und eine Abstimmung pünktlich zur EU-Wahl im Mai 2019 zu ermöglichen. Selbst wenn sich die Berliner dann für eine werbereduzierte Stadt entscheiden, wäre nicht alles entschieden. Das zeigte jüngst die Volksabstimmung zum Flughafen Tegel. Bei dem Volksentscheid sprach sich eine Mehrheit für die Offenhaltung aus. Ob das überhaupt geht, ist weiter umstritten.
Aber: Nichts ist unmöglich.
Was die Berliner denken
Hätte die Initiative Erfolg, wäre Berlin die erste Hauptstadt, die „nicht kommerziell geprägt ist“. In einer Umfrage, die der Tagesspiegel in Kooperation mit dem Online-Umfrageinstitut Civey durchgeführt hat, gaben knapp 70 Prozent der Berliner an, Außenwerbung täglich zu begegnen. Ein Drittel fühlt sich von ihr „immer“ oder „meistens“ gestört und will sogar noch weitergehen als die Initiative und Werbung vollständig aus der Stadt verbannen.
Besonders hohe Ablehnung gibt es von Seiten der Arbeitslosen, geringeren Protest von Selbstständigen und Erwerbstätigen. Kein Wunder. In einer Studie, die 2013 im Auftrag des Fachverbands Außenwerbung durchgeführt wurde, gab jeder zweite Verbraucher an, dass ihn Plakatwerbung schon mal dazu animiert habe, sich nach dem dort beworbenen Produkt zu erkundigen oder es zu kaufen. Werbung zeigt den Menschen die Vielfalt all der Dinge, die sie im besten Fall kaufen, sich aber im schlechtesten Fall nicht leisten können.
»Immer schön positiv«
„Die hängt da nicht nur einfach und ist hässlich. Die will, dass wir was kaufen“, sagt El-Ghazi. Sinn der Werbung sei nicht zu informieren, sondern sich in unsere Erinnerungen einzuschleichen. Es geht nicht darum, dass wir losrennen und was kaufen. So arbeitet Werbung nicht. Es geht darum, durch Wiederholung Vertrautheit zu schaffen. Wer anderes behaupte, sagt El-Ghazi, lüge. „Wenn wir alle so mündig sind, warum macht man das denn sonst?“
Klar will Werbung verkaufen. Studien über Studien setzen sich mit der Wirkungsweise der Plakate auseinander. Werber entwickeln eigene Modelle und Tricks, um zu verkaufen. Keep it short and simple. Drei Sekunden, dann muss die Botschaft sitzen. Starke Farben und reizvolle Kontraste. Fünf Worte genügen. Und nicht zu vergessen: Immer schön positiv.
Zu Besuch in der Heimat
Eine der angesagtesten Werbeagenturen sitzt mit „Heimat Berlin“ mitten in Kreuzberg. Vom Oranienplatz aus kreieren sie Slogans, Werbespots und Plakate, die in ganz Deutschland zu sehen sind. Eine gute Laune der Natur, Vio. Niemand recherchiert mehr, RBB Inforadio. Mach es zu deinem Projekt, Hornbach. „Schlau, unerwartet, berührend.“
Das seien ihre Grundsätze für erfolgreiche Werbung, sagt Matthias Storath, Kreativ-Geschäftsführer, Typ Duzen. Erfolgreich sei Werbung dann, wenn sie ihren Zweck erfüllt, „wenn sie verkauft und somit einen Mehrwert für den Kunden schafft“, sagt er. „Man muss immer die Wahrheit im Produkt finden, aber ein bisschen Glitzer darf man drüber pinseln.“ In einer Welt voller Botschaften müsse Werbung auffallen und das gelinge vor allem durch Kreativität.
Ist Werbung also Kunst? „Nein. Kunst steht für sich. Wir verfolgen Ziele und machen nicht irgendeinen bunten Zirkus“, sagt Storath, und: „Niemand hat was von hässlicher und langweiliger Werbung“. Trotzdem, das stelle er jeden Tag aufs Neue fest, sei die ganze Stadt voll davon. Zumindest was den optischen Störfaktor Werbung angeht, ist er von den Antiwerbern gar nicht so weit entfernt. Allein fünf bis zehn Prozent der Berliner Außenwerbung hält Storath für gelungen. Die anderen seien weder unterhaltend, noch erfüllten sie ihren Zweck.
Zweierlei Botschaften
Die Werbung aus der Stadt verbannen, logisch, will er dennoch nicht. Eigentlich sagt er, müsse die Stadt mal ein Jahr der Schönheit ausrufen. Ein Jahr, in dem sich alle Beteiligten zusammensetzen und einen Plan erstellen, wie man Berlin durch Werbung schöner macht. Werbung, davon ist er überzeugt, kann eine Gesellschaft und eine Stadt positiv beeinflussen, wenn sie gelingt. Kommunikation gehe über das Produkt hinaus. Sie beinhalte immer auch eine Botschaft, die den Geist einer Zeit und einer Gesellschaft reflektiere. Zumindest sieht er das so. Aber Schönheit bleibt eben Geschmackssache. Und andere sehen es anders.
Sei Stadt, sei Wandel, sei Berlin.
Solange die Situation ist, wie sie ist, und solange sich das Gesetz nicht ändert, wählen die angehenden Adbuster in Prenzlauer Berg die Selbstjustiz. Auf zum Vollzug: Das wichtigste ist die Warnweste. Wer richtig auffällt, ist nicht verdächtig. Gut, um sich selbst sicher zu fühlen, und gut, um allen Außenstehenden ein Gefühl von Gesetzeskonformität zu vermitteln, während Gesetze gebrochen werden. Standardschraubschlüssel rein, Vitrine auf, Plakat rein, Vitrine zu. Wer Übung hat, schafft’s in einer Minute.
Schon ist das Plakat ausgetauscht, ohne die Werbeanlage zu beschädigen und die halbnackte Heidi Klum hängt nicht mehr nur halbnackt, sondern mit angemalten Teufelshörnern am Tramhaltehäuschen Humannplatz. Job getan. Der Adbusting-Workshop ist damit offiziell beendet. Der in Warnweste gekleidete Vollzeitaktivist und seine als Passanten getarnten Lehrlinge können abziehen. Ihr kleiner Protest, eine kleine Genugtuung.