Guerilla Verwaltetes Chaos Werbewandel Über uns

Werbung.Macht.Berlin.

Werbung.Macht.Berlin.

Sie hängt, leuchtet, flattert. Außenwerbung ist ein Millionengeschäft. Doch nun tobt in Berlin ein Kampf um ihre Zukunft. Um Geld, Einfluss, Zuständigkeiten – und die Frage: Wer darf die Stadt gestalten?

Sie haben keinen Bock mehr. Solange das Gesetz ihr Problem nicht regelt, müssen sie eben selbst ran. Auch wenn das, was sie gleich machen werden, illegal ist. Denn die 16 jungen Frauen und Männer, die an diesem kaltgrauen Sonntag in einem kleinen, schlecht beheizten Projektraum in Prenzlauer Berg im Stuhlkreis sitzen, haben heute genau ein Ziel: Sie wollen Adbuster werden, wollen Werbung, so die wörtliche Übersetzung, zerschlagen.


„Weil in ganz viel Werbung Rassismus oder Sexismus steckt.“ „Weil Werbung visuelle Umweltverschmutzung ist.“ „Weil die Stadt uns gehört und nicht irgendwelchen Unternehmen.“ „Weil es gruselig ist, mit welchen Tricks Werbung uns manipuliert.“ „Weil der dauerhafte Konsumappell nervt.“

Guerilla

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Wortgefecht. Berliner Werbegegner tragen ihre Konsumkritik auf die Straße. Foto: Dies Irae

Adbuster wollen Werbung in Zeiten, in denen allerorts was hängt, wirbt und blinkt, mit kreativen Mitteln umgestalten. Sie verleihen Plakaten mit kleinen Veränderungen eine neue Bedeutung. „So kannst du kritische Informationen verbreiten und die Menschen zum Nachdenken anregen“, hatte die Organisation, die nicht namentlich genannt werden will, im Netz über den Anti-Werbeworkshop informiert. Aktivismus, irgendwo zwischen Straßenkunst und Kommunikationsguerilla. Zielgruppe 16- bis 26-Jährige, keine Kosten, Kurs ausgebucht. Ein kleiner Trend zum Werbegegner in Zeiten, in denen Außenwerbung boomt.

Wo man auch hinschaut, hängen, flattern und leuchten Bilder und Zeichen. In Berlin zeigt sich, was der Fachverband Außenwerbung (FAW) mit Zahlen belegt: Innerhalb der vergangenen fünf Jahre haben sich die Umsätze deutschlandweit nahezu verdoppelt. Allein in Berlin bebunten 20.643 Flächen die Stadt. 272 Millionen Euro wurden hier im vergangenen Jahr durch Plakatwerbung erlöst, macht 18,5 Prozent des deutschen Plakatwerbeumsatzes. Mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Kein Adblocker, kein Abschalten.

Mittendrin statt nur dabei.

»Welcome to Hell«

Der Seminarleiter, von Beruf Vollzeitaktivist, hat einen guten Draht zur Druckerei und Originalplakate mitgebracht. Fünf an der Zahl, jedes einzelne „irgendwie problematisch“. Zumindest alle Anwesenden sind sich da einig. Dazu buntes Papier, Farbeimer, Stifte, Scheren, ein paar Tuben Kleber und Tesafilm. Wichtig sei es, den Tipp gibt es noch vorab, die Veränderung farblich und stilmäßig anzupassen. Den Duktus der Werbemacher aufzunehmen. Manchmal reiche ein Buchstabe oder ein Wort, um auf eine unausgesprochene Wahrheit aufmerksam zu machen.

Illegaler Protest. Wir haben einen »Adbuster« bei seinem morgendlichen Streifzug begleitet.

Also los. Was anstellen mit einer halbnackten Heidi Klum, die in einer Muschel stehend für ihre Show wirbt? Norwegerpulli drüber, eine noch schlankere Taille oder doch ein paar extra Pfunde? Alles machbar. Am Ende werden es die Teufelshörner. Zufriedener Blick aufs Ergebnis. „Germany’s Next Topmodel. Donnerstag 20.15 Uhr. ProSieben.“ Aus „Welcome to Paradise“ wird „Welcome to Hell“. Daneben Plakate mit den neuen Titeln „Wachsende Ungerechtigkeit zu Aldipreisen“ und „Lidl schont nicht“.

Wer hier ist, der hat ein linkes Selbstverständnis. Der hat genug von Sexismus, Rassismus, Klassizismus und Kapitalismus, will die Welt gerechter machen. Gutmenschen, würde sagen, wer es böse meint. „Leute, die das kritische Denken noch nicht verlernt haben“, sagt der Workshopleiter. Mitmach-Voraussetzung. Er habe nun mal keine Lust Teilnehmern zu erklären, warum der Klimawandel blöd sei und warum er Sexismus falsch finde. Punkt. Erkannt werden will er nicht. Das will hier keiner. Was sie alle wollen, ist ein Ende der Omnipräsenz von Werbung im öffentlichen Raum. Man müsse sich doch nur mal vorstellen, sagt einer der Teilnehmer, „wie geil das sein könnte, wenn Menschen selbst ihre Stadt gestalten“.

Wem gehört die Straße?

Stadttapete. Riesige Fassadenbanner, genannt »Blow Ups«, sorgen immer wieder für Gesprächsstoff. Foto: imago/PMAX

Der Kampf um Berlin ist eröffnet. Und die angehenden Adbuster stehen mit ihrer Kritik nicht alleine da. Was sie durch illegalen Protest anprangern, will eine Initiative auf legale Weise lösen. „Berlin Werbefrei“ will Außenwerbung stark eindämmen und hat Anfang des Jahres ein Volksbegehren gestartet. Sie wollen den öffentlichen Raum zurückerobern und von Konzernen befreien, wollen die Stadt schöner machen, wie sie sagen. Ihnen gegenüber steht der Senat, der in den kommenden 15 Jahren 350 Millionen durch die Vergabe von Werbeflächen einnehmen will. Außerdem die Berliner Werbebranche mit rund 26.500 Arbeitsplätzen. Mehrere Fronten sind da. In diesem Kampf, der sich um die Frage dreht, wem die Stadt gehört und wer sie gestaltet.

Die Reklamebilder prägen das Bild der Stadt. Auf Litfaßsäulen und Plakatwänden, an Haltestellen und an den Hochhausfassaden. Mercedes leuchtet an der Warschauer Brücke, vor dem Berliner Dom prangten bereits halbnackte Hintern, vor dem Palais rekelte sich einst Madonna. Riesenposter, groß wie ein Fußballfeld, verhüllen ganze Häuser. Selbst die Charité wurde über Jahre verhängt. All das, damit jeder weiß, welches Getränk Flügel verleiht und welches Abwehrkräfte aktiviert, damit klar ist, was Kinder froh macht und wohin man geht, wenn’s gut werden muss. Die Top-Werber: ein Sammelsurium aus örtlichen Unterhaltungsveranstaltungen, Unilever und Coca-Cola.

„Die Unternehmen erhoffen sich Multiplikationseffekte. Sie hoffen, dass der ,Berlin-Faktor’ ein bisschen auf sie abfärbt“, sagt Jochen Gutzeit, Hauptgeschäftsführer des FAW, und meint damit das „Hippe“, das „Kreative“ der Stadt. Allein aufgrund der Vielzahl von Menschen sei Berlin zudem ein attraktiver Standort. Die Top-Lagen: City West, Ku’damm und City Ost, Alexanderplatz. Hier wohnen nicht nur Leute. Hier kommen Politiker her, Geschäftsleute und Touristen. Volltreffer, wenn sich in der Erinnerung an Berlin das Bild der Stadt mit der Werbung für eine Marke verbinden.

Ordnungstrieb

Säulengang statt Wildwuchs. Ernst Litfaß wollte das wilde Zettelkleben beenden und stellte ab 1855 Werbesäulen in Berlin auf.

Berlin-Mitte, Münzstraße / Ecke Almstadtstraße. Wo heute eine Bronzesäule an den einstigen „Pionier der öffentlichen Kommunikation“, den „König der Reklame“ erinnert, wurde im Jahr 1855 erstmals versucht Außenwerbung zu strukturieren: Die bundesweit erste Annoncier-Säule wurde errichtet. Ihr Begründer Ernst Theodor Amandus Litfaß hatte die Idee aus Paris und London kopiert, um dem Kommunikationsbedürfnis der zunehmenden Industrialisierung einen Raum zu geben.

Aus dem Ordnungstrieb des patriotischen Bürgers heraus wollte er wildes Zettelkleben verbannen. Eine Konzession des Polizeipräsidenten erlaubte ihm die Aufstellung von zunächst 150 „Annoncier-Säulen“. 100 neue Säulen wurden errichtet, 50 bereits existierende Brunnen und Pissoirs zum Zwecke der Plakatierung mit Holz verkleidet.

Werbung für Orchesteraufführungen, öffentliche Verordnungen, Heiratsankündigungen adliger Herrschaften und Theaterprogramme sollten künftig nicht mehr an Mauern und Häuserwänden, sondern eben daran kleben. Passend dazu das Leierkastenloblied, eigens von Litfaß in Auftrag gegeben. „Heut sind die Ecken reiner, piekfeiner, ja piekfeiner, denn Litfaß kam aus seiner, ja seiner Eck’ heraus.” Der Mann hatte die Stadt im Griff.

Da weiß man, was man hat.




Verwaltetes Chaos

Ist das Stadt oder kann das weg? Was zu viel ist, sehen alle anders.

Mehr als 170 Jahre später hat man Ordnung zumindest nicht mehr. Die Stadt spricht Litfaß’ einstigen Bemühungen Hohn. Der Wunschtraum einer aufgeräumten Stadt: gescheitert. An 3,7 Millionen Einwohnern. Und wahrscheinlich auch an den all so oft unklaren Zuständigkeiten, den komplizierten Verwaltungsstrukturen. Nicht nur, dass Chaos herrscht. Es weiß noch nicht einmal jemand, wie groß das Chaos eigentlich ist.

Offiziell liegt das Werbemonopol mittlerweile bei der Stadt. Das Recht, auf öffentlichem Straßenland zu werben, hat der Senat erst kürzlich in einer umfassenden Ausschreibung neu vergeben. 30 Prozent weniger Großwerbeflächen und gut zehn Prozent weniger Vitrinen soll es ab 2019 von Seiten des Landes geben.

Alle zuständig – aber keiner war’s

Das Puzzle aller Werbeteile zusammenzusetzen ist dennoch kompliziert. Die Frage, wo genau, wie viel geworben wird, kann und will in dieser Stadt, so scheint es, keiner beantworten. Der Senat selbst liefert nach einigen Wochen und mehrfacher Nachfrage eine Liste der von ihm genehmigten Flächen auf öffentlichem Grund. Eine Liste der Werbeflächen auf privatem Grund ist auf Landesebene nicht vorhanden, „da für die gegebenenfalls nötige Sondernutzungserlaubnis die Bezirke zuständig sind.

Auf der Karte können Sie sehen, in welchen Postleitzahlgebieten die meisten Werbeanlagen stehen. Die Zahlen beziehen sich dabei nur auf Anlagen auf öffentlichem Boden. Über die Flächen auf Privatgrund hat anscheinend niemand einen Überblick…

Daten: Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz/ Eigene Hochrechnung auf Postleitzahlen


Die Bezirke selbst müssen auf Nachfrage zunächst einmal herausfinden, wer zuständig ist, und teilen mit: „Eine separate Erfassung von Werbeanlagen in einer Liste erfolgt nicht.“ Die einzelnen Akten zusammenzufassen sei aufgrund fehlender Kapazitäten nicht möglich. Die Empfehlung: „Vielleicht wenden Sie sich diesbezüglich eher an die Firmen Wall und Ströer.“

Neben unzähligen kleinen Firmen für Plakatwerbung sind sie in Berlin, was den Vertrieb der Werbeflächen angeht, die zwei großen Player: Wall auf öffentlichem Grund, zum Beispiel Toiletten, und Flächen der BVG. Großkonkurrent Ströer auf Privatgrund und Flächen der Deutschen Bahn. Früher allein analog, heute zunehmend auch digital. Ihre Werbestandorte preisgeben, wollen beide Firmen nicht, schieben sich jeweils die Schuld zu.

Natürlich. Wer will schon in Zeiten der Neuausschreibung, in denen sich parallel auch noch ein Volksbegehren breitmacht, der böse Werber sein. „Wir sind der Premiumanbieter, Ströer der Massenanbieter. Das Drama spielt auf dem Privatgrund“, sagt Wall.

„In Berlin hält Wall den Stadtvertrag, die damit einhergehend deutlich präsenter im öffentlichen Raum vertreten sind“, sagt Ströer. Eine Auskunftspflicht haben beide nicht.

Berlin, du bist so wunderbar.


Werbetour mit Werber

Stadtbildner. Patrick Möller ist Geschäftsführer bei Wall. Foto: Wall GmbH/promo

Zurück zur Münzstraße: morgens halb 10 in Deutschland. Zahlen will die Firma Wall zwar nicht nennen, dafür aber zu einer Stadttour einladen. Die Firma will zeigen, was ihr am Herzen liegt, will deutlich machen, wie sich die Debatte aus ihrer Sicht gestaltet. Immerhin würden sie ja als Synonym für Werbung wahrgenommen.

Als Repräsentant vor Ort: Patrick Möller, Geschäftsführer Städtemarketing und Service, 80er Jahre Drahtgestell-Brille, dazu Jackett und Sneakers. Nicht ganz entschieden, ob Typ lässiger Kumpel oder seriöser Geschäftsmann, wird er heute für die Werbung werben. Zumindest für die, die an seinen Werbeträgern hängt. Dafür geht es einmal durch Berlin, über die Warschauer Straße bis zum Kurfürstendamm. Fahrtzeit knapp zwei Stunden. Pressesprecherin, schwarzer Mercedes und Chauffeur inklusive.

Los geht’s am Litfaß-Denkmal, wo Möller seine Firma zum Erben des einstigen Werbepioniers erklärt. Wall hat sein Prinzip weiterentwickelt, hat die Idee der Stadtmöbel nach Deutschland gebracht und so bereits 1984 in Berlin die Verbindung von Werbung mit öffentlichen Dienstleistungen geschaffen. Der jahrelange Deal: saubere Toiletten und intakte Brunnen gegen das Recht zu werben.

Dass die Stadt durch ihre Neuausschreibung dieses Prinzip künftig ad acta legt und von den Unternehmen nur Gelder statt Dienstleistungen verlangt, findet Möller nicht gut. „Im Sinne des Stadtbilds halte ich das für einen großen Fehler“, sagt er. Und im Sinne Litfaß’ sei es doch auch heute noch ihr Anliegen, wie damals seines, „die Stadt zu ordnen“.

Wo die Werbung wohnt. Wie Wall im brandenburgischen Velten die Berliner Plakate produziert.

Dass es derzeit eine Protestbewegung gibt, die sich auch gegen sein Unternehmen richtet, dazu will Möller sich lieber nicht äußern. „Ich sehe eigentlich nicht, dass es hier eine große Protestbewegung gibt, wenn in einer Millionenstadt 20.000 Unterschriften gesammelt werden“, sagt er. Das sei eher „so ein typisches Berlin-Ding“. „Rückeroberung und so.“ Stattdessen betont er während der Fahrt den Nutzen von Werbeflächen. Werbung sei nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Gerade beim klassischen Plakatanschlag seien die Kunden zu 90 Prozent lokal und regional.

In erheblichem Maße nutze das auch den kulturellen Einrichtungen. Der Friedrichstadt-Palast zum Beispiel, sagt er, hätte ohne Werbung längst schließen müssen. „Ohne Außenwerbung würde der Palast wohl ein Drittel seines Umsatzes verlieren. Das entspräche vier Monatsumsätzen, und das würden wir nicht überleben“, bestätigt Intendant Berndt Schmidt. Publikum lockt man nun mal auch durch Werbung. Und die vom Friedrichstadt-Palast hängt in der ganzen Stadt. 783 Plakate sind es aktuell. Viele Farben, viele Federn und Bodypainting.

The One Grand Show.

Integrationsfragen

„Die Werbeflächen von Wall sind anteilig in der Minderzahl und gut integriert“, sagt Möller. Problematisch sei etwas Anderes, und um genau das zu zeigen, hat er seine Route gewählt. Links XXL-Poster an Gerüsten, rechts Werbeflächen auf Häuserfassaden. „Alles Privatgrund“, sagt er. Poster unter Brücken, an Bauzäunen oder Wänden. „Alles Wildanschlag. Alles illegal.“

Woran er das erkennt? In der Regel könne man sagen, dass alles, was als störend empfunden wird, illegal ist, sagt er. Es gebe keine schöne oder hässliche Werbung, wenn man mal von wild geklebten Plakaten, die von Lichtmasten und Wänden abblättern oder abgefallen als Müll in den Straßen herumfliegen, absehe. Denn das sei in der Tat hässlich und müsse deshalb verschwinden. So einfach ist das – aber nur in der Theorie.

Denn wenn alle ein bisschen verantwortlich sind, ist es eben niemand so richtig.

Unterwegs mit Sisyphos

Trotz allem. Günther Drobisch hat in Steglitz-Zehlendorf jahrelang versucht, illegale Werbung einzudämmen.

Anruf im Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf: Werbung? Moment bitte. Man wird weitergeleitet. Noch mal. Und noch mal. Ein letztes Mal. Dann hebt Günther Drobisch ab, der eigentlich schon in Rente, aber einmal die Woche da ist, um seinen Kollegen einzuarbeiten. Ja, sagt er, er könne da einiges erzählen und auch ein bisschen was zeigen. Der Urberliner, grauer Vollbart und schütteres Haar, weiß, was in der Stadt werbetechnisch schiefläuft, und kann jetzt, da er sein Berufsleben hinter sich hat, entspannter drüber reden. Bis zum vergangenen Jahr hat er im Stadtplanungsamt des Bezirks gearbeitet, hat entschieden, welche Werbung genehmigt wird und welche nicht.

In Berlin sieht er zwei grundsätzliche Probleme: eine schwammige Gesetzesgrundlage und fehlende Zuständigkeiten. Das Gesetz, erklärt er, schreibe vor, dass Werbung dann verboten werden soll, wenn sie als störende Häufung oder verunstaltend gelte. Aber was ist schon Verunstaltung? „Verunstaltung ist sicher auch eine individuell bewertbare Richtlinie.“

Und was ästhetisch? „Ästhetik, darüber kann man tunlichst streiten.“ Zwar sollen vom Senat entwickelte Leitlinien „unter Wahrung der bezirklichen Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen“ größere Einheitlichkeit schaffen – eine Einkaufsstraße beispielsweise vertrage relativ viel Werbung, ein Unesco-Weltkulturerbe überhaupt keine, Werbung dürfe außerdem auffallen, aber nicht stören – de facto gebe es in den Bezirken allerdings keine konkreten Maßstäbe.

Wenn Hintern die Kirche sanieren

Auch ein Rücken kann bedrücken. Dieses Plakat von Palmers sorgte 2007 für heftige Debatten. Foto: Imago/PMAX

Was in Neukölln erlaubt ist, kann in Steglitz verboten sein. So wurde in Friedrichshain-Kreuzberg sexistischer Werbung der Kampf angesagt. Im Bezirk Mitte gibt es neuerdings eine Jury, die zusammentrifft, wenn es eine Beschwerde über eine Werbung eingeht. Vielleicht schaffen es so künftig keine halbnackten Frauenhintern mehr vor den Berliner Dom. Vielleicht gibt es künftig keine Apple-Werbung vor der Hedwigs-Kathedrale, Ford- und Citroënplakate an der Charité oder Madonna am Prinzenpalais.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Vielleicht heiligt im Zweifel aber auch der gute Zweck alle Werbemittel: Wo immer Baudenkmäler saniert werden müssen, dauert es nicht lange, bis an den Gerüsten Riesenposter hängen. Denn jeder Tag mehr bedeutet Geld. Beispiel Gedächtniskirche. 1999 wurde der Glockenturm saniert, 2006 das Kirchengebäude. Beide Maßnahmen wurden fast vollständig durch die Poster finanziert. Die haben Kosten im höheren sechsstelligen Bereich gedeckt. „Nicht der Königsweg. Der Kirchturm ist keine Litfaßsäule“, sagt Pfarrer Martin Germer, „aber wenn es nicht anders möglich ist, wenn die Alternative ist, dass das Gebäude zerfällt, stellt sich die Frage nicht.“ Dann muss man es eben tun.

Ästhetik als seltener Luxus

Ordnungsversuch. Claudia Reich-Schilcher von der Senatsverwaltung erklärt Berlins Werbekonzept.

„De facto hat in den Bezirksämtern jedenfalls keiner einen Überblick, was genehmigt ist und was nicht“, sagt Drobisch und zeigt bei einem Stadtrundgang durch seinen Bezirk, was alles illegal ist. Das Aquaristikgeschäft, dessen Fassade eine einzige Werbefläche ist, das Banner vor dem Fitnessstudio, die Tafeln am Edekaparkplatz, kleine Zettel und große Plakate. „Da ist ganz viel Chaos.“ „Das ist viel zu groß und eigentlich nie genehmigungsfähig.“ „Das wurde sicher nie beantragt.“ „Dieses Plakat habe ich der Bauaufsicht vor einem Jahr gemeldet. Hängt jetzt noch.“

Eine direkte Zuständigkeit für illegale Werbung gebe es nicht, sagt er. Eigentlich solle jeder Mitarbeiter mit offenen Augen durch die Stadt gehen und dann, wenn es die Zeit erlaubt, Versagungen für nicht genehmigte Werbung schreiben. Man müsse natürlich versuchen, die nachträglich zu versagen und eine Abbauverfügung zu erlassen, aber das sei aufgrund der personellen Situation bei der Menge kaum durchführbar.

„Das machen Kollegen auch heute trotz alledem, wenn sie selbst diesen ästhetischen Anspruch haben und das irgendwie zwischen den anderen Verfahren eintakten können.“ Er selbst war so jemand. Aber er war eben auch einer von wenigen. Und so führen Stromkästen, Laternenpfähle und Altpapiercontainer weiterhin ein ziemlich klebriges Dasein.


Werbewandel

Himmel über Berlin. Wie soll es mit ihm weitergehen?

Für die einen macht vielleicht genau das Berlin aus. Das Bunte. Das Chaos. Das gehört dazu. Das ist Kult. Ist es eben schmuddelig. Dann ist Werbung eben von Konzernen gemacht. Na und? Jeder hat die Freiheit ein Plakat aufzuhängen. Oder?

Bild dir deine Meinung.


Zurück zu Litfaß’ Wurzeln?

Nachgefragt bei denen, die das ganz anders sehen. Berlin wäre auch ohne Werbung bunt und vielfältig, sagen die. Mit dem Slogan „Die Stadt soll schöner werden“ sind dutzende Unterstützer von „Berlin Werbefrei“ unterwegs. Mit Plakaten und Flyern. Darauf zu sehen ein grimmiger Bär und das Wort „Nö“. Schwarz auf weiß. Sie sammeln allerorts: Flohmarkt am RAW-Gelände, Wochenmarkt auf dem Boxhagener Platz, Alte Försterei, Mauerpark, Tempelhofer Feld, LPG-Biosupermarkt, Winterfeldtmarkt und Prinzessinnengärten. Sie wollen Unterschriften für das „Gesetz zur Regulierung von Werbung in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum“ oder kurz „Antikommodifizierungsgesetz“.

Kreuzberger Mischung. Wir haben Passanten am Moritzplatz gefragt, was sie von Werbung halten. Die Antworten könnten unterschiedlicher kaum sein.

Initiator ist der Jurist Fadi El-Ghazi, der das Gesetz mithilfe eines Volksentscheids durchsetzen will. Weißes Hemd, Dreitagebart, glattes schwarzes Haar. Ein bisschen wirkt er wie der spießigste Freiheitskämpfer Kreuzbergs, wie er da gegen die Werbung wettert. Sein Ziel: zurück zu Litfaß’ Wurzeln. Weil „die Gesetzeslage in dieser Stadt so kompliziert“ ist und weil, wie er sagt, Werbung „sowieso jeden nervt“, will er sie im öffentlichen Raum für unzulässig erklären und wenige Ausnahmen definieren.

Digitale Werbeflächen wie die blinkende Tafel am Kurfürstendamm wären passé, Veranstaltungswerbung und gemeinnützige Aushänge nur an den 2537 Litfaßsäulen, an Haltestellen und einer begrenzten Anzahl ausgewiesener Flächen möglich. Auch Produktwerbung an der sogenannten „Stätte der Leistung“, wie etwa vor Geschäften, Gaststätten und Betrieben, wäre weiterhin erlaubt. Herabwürdigendes oder Diskriminierendes dagegen wäre generell verboten, genauso wie Werbung in Schulen, Universitäten und öffentlichen Einrichtungen. Mit dem „Rundumschlag“ will El-Ghazi möglichst viele Menschen erreichen, wie er sagt. Und wenn er das sagt, klingt er sehr pragmatisch.

»Negative Meinungsfreiheit«

Bling Bling! An manchen Stellen der Stadt wird man nahezu bombardiert. Wall macht vor allem den Wildanschlag dafür verantwortlich.

Es scheint, als sei das Projekt für ihn eher eine Prinzipiensache als eine Herzensangelegenheit. Prinzipien und Recht sind ihm verdammt wichtig. „Das ist doch eine massive Meinungsmache. Ich will das nicht irgendwelchen Unternehmen überlassen. Ich will selbst mitentscheiden, wie meine Stadt aussieht“, sagt er. Die „negative Meinungsfreiheit“, die wolle er verfechten, „das Recht, nicht von fremden Meinungen in unzumutbarer Weise belästigt zu werden.“

El-Ghazi argumentiert mit dem Begriff der praktischen Konkordanz. Einmal Fachjargon: „Verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter müssen in der Problemlösung einander so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Beiden Gütern müssen Grenzen gesetzt werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können.“ Soweit, so juristisch: Keine grenzenlose Werbung mehr.

17.000 Menschen haben bereits unterschrieben. Insgesamt braucht es bis Juli 20.000 Stimmen, damit der Senat prüft, ob der Volksentscheid zulässig ist. Anschließend 200.000, um das Volksbegehren umzusetzen und eine Abstimmung pünktlich zur EU-Wahl im Mai 2019 zu ermöglichen. Selbst wenn sich die Berliner dann für eine werbereduzierte Stadt entscheiden, wäre nicht alles entschieden. Das zeigte jüngst die Volksabstimmung zum Flughafen Tegel. Bei dem Volksentscheid sprach sich eine Mehrheit für die Offenhaltung aus. Ob das überhaupt geht, ist weiter umstritten.

Aber: Nichts ist unmöglich.

Was die Berliner denken

Hätte die Initiative Erfolg, wäre Berlin die erste Hauptstadt, die „nicht kommerziell geprägt ist“. In einer Umfrage, die der Tagesspiegel in Kooperation mit dem Online-Umfrageinstitut Civey durchgeführt hat, gaben knapp 70 Prozent der Berliner an, Außenwerbung täglich zu begegnen. Ein Drittel fühlt sich von ihr „immer“ oder „meistens“ gestört und will sogar noch weitergehen als die Initiative und Werbung vollständig aus der Stadt verbannen.

Besonders hohe Ablehnung gibt es von Seiten der Arbeitslosen, geringeren Protest von Selbstständigen und Erwerbstätigen. Kein Wunder. In einer Studie, die 2013 im Auftrag des Fachverbands Außenwerbung durchgeführt wurde, gab jeder zweite Verbraucher an, dass ihn Plakatwerbung schon mal dazu animiert habe, sich nach dem dort beworbenen Produkt zu erkundigen oder es zu kaufen. Werbung zeigt den Menschen die Vielfalt all der Dinge, die sie im besten Fall kaufen, sich aber im schlechtesten Fall nicht leisten können.

»Immer schön positiv«

„Die hängt da nicht nur einfach und ist hässlich. Die will, dass wir was kaufen“, sagt El-Ghazi. Sinn der Werbung sei nicht zu informieren, sondern sich in unsere Erinnerungen einzuschleichen. Es geht nicht darum, dass wir losrennen und was kaufen. So arbeitet Werbung nicht. Es geht darum, durch Wiederholung Vertrautheit zu schaffen. Wer anderes behaupte, sagt El-Ghazi, lüge. „Wenn wir alle so mündig sind, warum macht man das denn sonst?“

Klar will Werbung verkaufen. Studien über Studien setzen sich mit der Wirkungsweise der Plakate auseinander. Werber entwickeln eigene Modelle und Tricks, um zu verkaufen. Keep it short and simple. Drei Sekunden, dann muss die Botschaft sitzen. Starke Farben und reizvolle Kontraste. Fünf Worte genügen. Und nicht zu vergessen: Immer schön positiv.

Zu Besuch in der Heimat

Was ist gute Werbung? Matthias Storath, Kreativ-Geschäftsführer von der Agentur Heimat Berlin, über seine liebsten Kampagnen.

Eine der angesagtesten Werbeagenturen sitzt mit „Heimat Berlin“ mitten in Kreuzberg. Vom Oranienplatz aus kreieren sie Slogans, Werbespots und Plakate, die in ganz Deutschland zu sehen sind. Eine gute Laune der Natur, Vio. Niemand recherchiert mehr, RBB Inforadio. Mach es zu deinem Projekt, Hornbach. „Schlau, unerwartet, berührend.“

Das seien ihre Grundsätze für erfolgreiche Werbung, sagt Matthias Storath, Kreativ-Geschäftsführer, Typ Duzen. Erfolgreich sei Werbung dann, wenn sie ihren Zweck erfüllt, „wenn sie verkauft und somit einen Mehrwert für den Kunden schafft“, sagt er. „Man muss immer die Wahrheit im Produkt finden, aber ein bisschen Glitzer darf man drüber pinseln.“ In einer Welt voller Botschaften müsse Werbung auffallen und das gelinge vor allem durch Kreativität.

Ist Werbung also Kunst? „Nein. Kunst steht für sich. Wir verfolgen Ziele und machen nicht irgendeinen bunten Zirkus“, sagt Storath, und: „Niemand hat was von hässlicher und langweiliger Werbung“. Trotzdem, das stelle er jeden Tag aufs Neue fest, sei die ganze Stadt voll davon. Zumindest was den optischen Störfaktor Werbung angeht, ist er von den Antiwerbern gar nicht so weit entfernt. Allein fünf bis zehn Prozent der Berliner Außenwerbung hält Storath für gelungen. Die anderen seien weder unterhaltend, noch erfüllten sie ihren Zweck.

Zweierlei Botschaften

Mit oder ohne? Die Werbegegner wollen zeigen, wie Berlin ohne Werbung aussehen würde. Fotos: Berlin Werbefrei

Die Werbung aus der Stadt verbannen, logisch, will er dennoch nicht. Eigentlich sagt er, müsse die Stadt mal ein Jahr der Schönheit ausrufen. Ein Jahr, in dem sich alle Beteiligten zusammensetzen und einen Plan erstellen, wie man Berlin durch Werbung schöner macht. Werbung, davon ist er überzeugt, kann eine Gesellschaft und eine Stadt positiv beeinflussen, wenn sie gelingt. Kommunikation gehe über das Produkt hinaus. Sie beinhalte immer auch eine Botschaft, die den Geist einer Zeit und einer Gesellschaft reflektiere. Zumindest sieht er das so. Aber Schönheit bleibt eben Geschmackssache. Und andere sehen es anders.

Sei Stadt, sei Wandel, sei Berlin.

Solange die Situation ist, wie sie ist, und solange sich das Gesetz nicht ändert, wählen die angehenden Adbuster in Prenzlauer Berg die Selbstjustiz. Auf zum Vollzug: Das wichtigste ist die Warnweste. Wer richtig auffällt, ist nicht verdächtig. Gut, um sich selbst sicher zu fühlen, und gut, um allen Außenstehenden ein Gefühl von Gesetzeskonformität zu vermitteln, während Gesetze gebrochen werden. Standardschraubschlüssel rein, Vitrine auf, Plakat rein, Vitrine zu. Wer Übung hat, schafft’s in einer Minute.

Schon ist das Plakat ausgetauscht, ohne die Werbeanlage zu beschädigen und die halbnackte Heidi Klum hängt nicht mehr nur halbnackt, sondern mit angemalten Teufelshörnern am Tramhaltehäuschen Humannplatz. Job getan. Der Adbusting-Workshop ist damit offiziell beendet. Der in Warnweste gekleidete Vollzeitaktivist und seine als Passanten getarnten Lehrlinge können abziehen. Ihr kleiner Protest, eine kleine Genugtuung.

Es gibt immer was zu tun.