»Janz Britz ist zu!«, seufzt irgendwer hinter seinem Halbkreis aus Bildschirmen ins weitläufige Großraumbüro hinein. Dieser Tag im Februar wird wohl kein guter in der Pünktlichkeitsbilanz der BVG. Aber er ist allemal noch lang genug für Rettungsversuche. Dafür sitzen die Kollegen ja in der Leitstelle in Berlin-Lichtenberg, im »Kompetenzcenter Oberfläche«, wie es in der BVG-Bürokratie heißt. Auf ihren ergonomisch um sie herum gebauten Monitorwänden verfolgen die 21 Mitarbeiter in drei Schichten, wie sich Busse und Straßenbahnen durch die Stadt bewegen – oder eben nicht, wie jetzt gerade in Britz.
Ein Unfall auf der Stadtautobahn hat ringsum solchen Stau produziert, dass der M44er zur Immobilie geworden ist: Vor dem Bahnhof Hermannstraße stehen vier Stück im Pulk. Sie sind nach und nach aufs Stauende aufgelaufen und immer weiter zusammengerückt. Die Autos dazwischen haben sich in die Nebenstraßen verabschiedet und versuchen, das Chaos zu umfahren. Busse können das nicht. »Wir unterbrechen die Linie jetzt«, sagt der 51-jährige Thomas Unger, Leiter der Leitstelle Omnibus, »damit der ungestörte Abschnitt regelmäßig bedient wird«: Er lässt jetzt den letzten Bus nach der nächsten Haltestelle vorzeitig wenden und sagt dem Vordermann per Funk, dass er auf dessen Fahrgäste warten soll.
Vor der Hermannstraße bekommen die ohnehin von der Verspätung genervten Fahrgäste jetzt also den vorzeitigen Rauswurf durchgesagt. Typisch BVG, werden sie fluchen, die kriegen’s einfach nicht hin. Die BVG in Person des gelassen lächelnden Herrn Unger hingegen sagt: »Unser Kernproblem ist der Großstadt geschuldet.« Großstadt, das heißt 1190 Einschränkungen von Bussen und Trams im Jahr 2015 allein durch Demonstrationen und Staatsbesuche. Großstadt, das heißt Menschen, die alle zu ähnlichen Zeiten aufstehen um zur Arbeit zu fahren und hinterher aus dem Büro in die U-Bahn-Eingänge und Wartehäuschen schlurfen, um ihre müden Körper in die Hartschalensitze der Busse und Bahnen zu stapeln. Großstadt, das heißt für die BVG 1400 Busse, 4000 Fahrer und der immerwährende Versuch, einen regelmäßigen Fahrplan aufrecht zu erhalten. Die Schaltzentrale in Lichtenberg, das ist dieser Versuch.
Die Daten, mit denen auch die BVG in ihrer bürograuen Leitstelle in Lichtenberg versucht, den Wahnsinn des Berliner Verkehrs zu bändigen, haben wir sechs Wochen lang mitgeschnitten. Im Minutentakt haben wir die Live-Daten der meistgenutzten Buslinien, Trams, U-Bahnen und der Ringbahn über eine Schnittstelle des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) abgefragt und gespeichert. Bei der Auswertung der Daten wird erst einmal klar: Die BVG erledigt die Sisyphos-Aufgabe ÖPNV ganz gut. Die meisten Verbindungen sind pünktlich. Gerade bei den am stärksten genutzten U-Bahn-Linien wie U7 und U1 kommen die Bahnen äußerst zuverlässig, wie auch Erhebungen der BVG selbst zeigen. Allerdings zeigt sich auch, dass gerade die am stärksten genutzten Busse und Trams in Berlin sehr häufig zu spät kommen. Oder – was für die Fahrgäste oft noch unangenehmer ist – zu früh. Doch dazu später mehr.
Zurück in die Schaltzentrale: Der vorzeitig gewendete M44er an der Hermannstraße füllt jetzt die auf einem der Monitore deutlich sichtbare Lücke auf der Haltestellenskala in der Gegenrichtung auf. Dass der Bus trotz der Abkürzung schon 27 Minuten Verspätung hat, bemerken die Fahrgäste dort gar nicht, solange die Abstände stimmen. Auch in unserer Analyse würde er nicht auffallen. Denn wir haben die für die Fahrgäste spürbaren Verfrühungen und Verspätungen an den Haltestellen unter die Lupe genommen, nicht die tatsächlichen Streckenverläufe der einzelnen Busse.
Der Weg des Busses ist für den Fahrgast erst einmal egal. Er merkt beim Einsteigen nicht, ob der vorzeitig gewendet hat. Hauptsache, der Takt passt. Für die Frauen und Männer in der Lichtenberger Zentrale geht deshalb im Ernstfall regelmäßig vor pünktlich. »Lieber sieben Minuten zu spät, aber doch noch ankommen, als 40 Minuten wegen einem Stau irgendwo feststecken«, fasst eine der Mitarbeiterinnen das Prinzip zusammen.
Nun ist Wenden leichter gesagt als getan. Busfahrer dürfen nicht rückwärts fahren. Um zu wenden, muss daher einer der 100 BVG-Verkehrsmeister als Einweiser geholt werden. Ein Problem aber bleibt: Nicht immer können Busse irgendwo sinnvoll wenden und nicht immer löst sich ein Stau schnell wieder auf. Das ist wohl einer der Gründe, für die systematischen Verspätungen, die wir in unserer Analyse bei den fahrgaststarken Linien M48 und M85 beobachten können: In 32 Prozent der Fälle war der M48 im beobachteten Zeitraum unpünktlich. Beim M85 waren es 29 Prozent.
Der leidgeprüfte Berliner sieht das Ergebnis in seiner nervenaufreibendsten Form, wenn er nach 20 Minuten Wartezeit plötzlich mit einem ganzen Rudel der »Großen Gelben« konfrontiert wird. Was soll ich mit vier Bussen? Die Choreografie des Tanzes geht so: Erst fahren alle Busse in eine Verkehrsbehinderung und stauen sich. Haben sie das Hindernis überwunden, fahren sie mit Verspätung weiter. Der Erste sammelt an jeder Haltestelle die Wartenden ein. Nun wird der Bewegungsraum im Bus eng. Die Leute brauchen länger zum Ein- und Aussteigen. Dadurch wird er noch langsamer. Der Fahrer muss ständig »Zurückbleiben von der Tür, bitte« in sein Mikrofon seufzen. Die nachfolgenden Busse, die vielleicht gar nicht im Stau steckten, werden immer schneller, weil kaum jemand an den Haltestellen steht. Sie rücken vor, bis sie von dem ersten Bus aufgehalten werden. Die sinnbildliche Ziehharmonika ist nun vollends zusammengequetscht.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum Busse in Berlin zu spät kommen, erzählt Thomas Unger: 2015 habe man in der Zentrale 71 Mal »operativen Schienenersatzverkehr« organisieren müssen. Wenn eine Tram oder eine U-Bahn aufgrund eines Unfalls, eines Selbstmords oder eines technischen Problems stecken bleibt, überlegen die BVGler hier, wo sie Ersatzbusse herbekommen. Zehn Stück bräuchten sie, um eine U-Bahn zu ersetzen, sagt Thomas Unger. Und für diese Fälle gibt es weder Reservebusse noch Bereitschaftsfahrer: Die Ersatzbusse müssen aus den vorhandenen Linien abgezogen werden, ein paar Busse beim M29, einige vom M41, je nachdem, wo es gerade am ehesten möglich ist. Die Folge sind weitere Verspätungen.
Doch was sind das eigentlich für Verkehrsbehinderungen, die das ganze Bus-System aus dem Takt bringen können? Niemand weiß das besser als Frank Poschadtke und Sinasi Tekin. Die beiden BVG-Veteranen sind zwei von 18 sogenannten Busspurbetreuern, die im Zweischichtbetrieb die Busspuren der Stadt frei räumen. Ihr Beruf wurde in den 90ern eingeführt, nachdem klar wurde, dass die ab Ende der 70er eingeführten Busspuren sonst schnell zugeparkt werden.
An einem Donnerstag im Februar lenkt Tekin mit seinen großen Händen ihren VW Caddy von Lichtenberg über den Alex nach Kreuzberg, Poschadtke hat einen Formblock dabei, Aufschrift »Umsetzen von Fahrzeugen«. Um die Mittagszeit haben sie wenig zu tun, weil viele Teile der stadtweit 100 Kilometer Busspur zu dieser Zeit gar nicht als solche gelten oder zumindest für Lieferanten freigegeben sind.
Aber sie wissen aus Erfahrung, dass die zugeparkte Busspur auf der Karl-Liebknecht-Straße am Nachmittag bestimmt nicht pünktlich frei sein wird. Während in der Leitstelle der Freitagnachmittag mit seinem stundenlangen Berufsverkehr stadtauswärts als problematisch gilt, haben die Busspurbetreuer vor allem montagmorgens viel Arbeit mit Langschläfern, die ihre Autos am Wochenende auf einer Busspur geparkt und vergessen haben.
Während der Mittagsflaute schauen die beiden verstärkt nach Falschparkern in Haltestellen: 15 Meter vor und hinter dem Schild müssen frei sein. Ein Meter weniger reicht auch, weiß Poschadtke, der bis zu einem Schlaganfall selbst Busse fuhr. Aber darunter wird es knapp: Busse können nicht mehr parallel zum Bordstein halten, ragen in den Fließverkehr, stehen mit der Tür vor Bäumen oder Stromkästen.
In der Oranienstraße parkt ein schwarzer Polo direkt am Haltestellenschild – und zwingt alle fünf Minuten einen M 29er, mit dem Heck auf der Alten Jakobstraße zu halten. Die Passagiere tapsen vorsichtig in die Lücke zwischen Bus und Bordstein. Während Tekin einparkt, macht Poschadtke schon mal ein Foto und ruft die Polizei an. Dienstnummer, Standort, Kennzeichen, Uhrzeit. Die Polizei bestellt einen Abschleppwagen. »Wir könnten viel mehr Leute gebrauchen«, sagt Poschadtke. Wenn sie mehr Autos melden würden, spräche es sich schnell herum, dass es teuer sein kann, auf der Busspur zu parken. Da ist sich auch Tekin sicher.
Hinter dem Polo hat inzwischen ein DHL-Transporter gehalten. Das ist erlaubt, solange kein Bus kommt. Der Fahrer bringt im Laufschritt ein Paket weg. Als er die uniformierten BVG-Leute sieht, parkt er um – fünf Meter weiter vorn in die zweite Reihe. Er steht jetzt mitten auf der Straße. Eine Minute später kommt der nächste Bus – noch eine danach der Abschleppwagen. Poschadtkes Anruf bei der Polizei ist exakt eine Viertelstunde her. Weitere drei Minuten später schaukelt der Polo auf die Ladefläche. Poschadtke informiert die Polizei, der Fall ist erledigt. Rund 1000 Behinderungen pro Kollege und Jahr registrieren die Spurbetreuer. Befriedigend finden sie das nicht. »Wir sind nicht auf der Jagd«, sagt Tekin. Ihnen gehe es vor allem um die freie Fahrt ihrer Kollegen. Schließlich haben sie früher – wie viele in ihrem Job – selbst als Fahrer gearbeitet. Bis gesundheitliche Gründe das nicht mehr zuließen.
Das höhere Verkehrsaufkommen in der Stoßzeit, der Hauptverkehrszeit, wie die BVG sie nennt, bremst aber nicht nur Busse aus. Je höher die Taktfrequenz der Verkehrsmittel, desto stärker die Dominoeffekte im Falle von Behinderungen. Selbst die U-Bahn hat in diesen Zeiten ab und zu Verspätungen. Sie hat dann jedoch nur mit der höheren Zahl zusteigender Fahrgäste zu kämpfen, nicht mit den anderen Verkehrsteilnehmern – das geschlossene System erweist sich als Riesenvorteil.
Unsere Datenanalysen zeigen sehr deutlich, dass sowohl Verspätungen als auch Verfrühungen in der Rush Hour rasant ansteigen. Je mehr Verkehr, desto unberechenbarer werden die Straßen, desto mehr bedingen sich auch Verlangsamung vorausfahrender und Beschleunigung nachfolgender Fahrzeuge. Auch die Tram hat zu diesen Zeiten zu kämpfen, vor allem dort, wo sie nicht auf separater Trasse am Stau vorbeifahren kann. Noch interessanter aber als die Tatsache, dass sich auch Trams verspäten: Laut unseren Daten kommt manche Tram sehr oft zu früh.
Im Kompetenzzentrum Oberfläche hat Mitarbeiterin Alexandra Mareck ein akutes Problem mit einer verfrühten Tram: »+3« zeigen die Monitore. Eineinhalb Minuten zu früh sind laut BVG-Richtlinie erlaubt, drei sind zu viel. Alexandra Mareck, kurze blonde Haare, kräftige Stimme, unerschütterliches Lächeln, beschließt, den Fahrer zu kontaktieren: »Der kriegt jetzt mal ’n Ordnungsgong!« Dabei ist die Ursache der Verfrühung wieder einmal eine Verspätung: Ein Falschparker hat in Johannisthal die Gleise blockiert. Die durch ihn aufgehaltene Bahn hat 16 Minuten Verspätung. Und weil nach der langen Lücke so viele Leute zusteigen, wird sie immer langsamer, während die nächste Bahn, genauso wie bei den Busrudeln, an den leergesammelten Haltestellen kaum halten muss und ihr immer näher kommt. Für die Fahrgäste aber sind drei Minuten zu früh mindestens genauso ärgerlich wie 17 zu spät. Denn wer pünktlich an die Haltstelle kommt, muss ja auf die nächste Tram warten.
In der Leitzentrale klickt Alexandra Mareck auf die Nachricht »Fahrplan beachten«. Der verfrühte Fahrer bekommt sie in seinem Cockpit angezeigt und muss sie bestätigen. Hält er sich trotz dieser Verwarnung weiterhin nicht an den Fahrplan, ruft Mareck ihn an. Vor ihr stehen ein Telefon, ein Digitalfunkgerät für die modernisierten Bahnen und ein altes Analogfunkgerät. Außerdem beschließt sie, den verspäteten Vordermann am S-Bahnhof Köpenick vorzeitig wenden zu lassen. Denn der wäre bei zehn Minuten regulärer Wendezeit am Wasserwerk Friedrichshagen auch in Gegenrichtung weiter unpünktlich. Die Tour nach Friedrichshagen fällt also aus. Macht eine 40-Minuten-Lücke zwischen Bölschestraße und Wasserwerk. Die Entscheidung ist Abwägungssache: Entweder die Verspätung stundenlang durchschleppen – oder einmal die Fahrgäste auf dem Stück am Stadtrand stehen lassen und dafür pünktlich durch den Rest des Tages kommen. Große Chancen, Zeit aufzuholen, hat der Fahrer sonst nicht.
Verdammte BVG, werden die Fahrgäste in Friedrichshagen jetzt sagen. Verdammter Falschparker wäre korrekt. Wegen des Ausfalls bekommt der übrigens eine Rechnung von der BVG. Etwa 50 Euro werden für den Einsatz des herbeigerufenen Verkehrsmeisters berechnet. Nach Demonstrationen sind Falschparker die zweithäufigste Ursache dafür, dass Straßenbahnen stranden, gefolgt von Unfällen anderer Verkehrsteilnehmer und von Autos im Gleisbett. Auf Letzteres brauche man an Tagen mit Nieselregen und schlechter Sicht nur zu warten, sagt Unger. Und wenn jemand nur drei Zentimeter zu dicht an den Gleisen parkt – darf der Fahrer dann aussteigen und dessen Außenspiegel anklappen? Nein, sagt Alexandra Mareck, die zwischen ihren Schichten in der Leitstelle selbst oft fährt. Sie grinst: »Wir hoffen dann auf hilfsbereite Fahrgäste.«
Die meisten in der Leitstelle kennen die Fahrerperspektive. Auch ein Grund, warum sie so ehrgeizig versuchen, ihre Kollegen auf der Straße voranzubringen. Wenn Alexandra Mareck anfängt, über die Vorampel in der Eberswalder Straße vor der Kreuzung Schönhauser Allee zu reden, gerät sie in Rage: Diese Vorampel nämlich erkennt die Tram und gibt ihr Grün, während die Autos mit Rot zurückgehalten werden. Blöd nur, dass die Autos auf den Straßenbahnschienen stehen – vor der Straßenbahn und mit roter Ampel. »Das geht aufs Herz!«, ruft Mareck. So wie die 15 Minuten Ampelstau an diesem Morgen vor der Invalidenstraße.
Fahren manche Fahrer möglicherweise absichtlich an einigen Haltestellen zu früh los, weil sie wissen, dass einige Haltestellen später für gewöhnlich so viel Verkehr ist, dass sie dort nicht nach Fahrplan durchkommen? Kann es daran liegen, dass wir in unseren Daten so regelmäßig Verfrühungen bei Trams beobachten? Die BVG bestreitet solche absichtlichen Verfrühungen. Warum die Berliner Trams gerade zu manchen Uhrzeiten dermaßen regelmäßig zu früh kommen, vermag keiner der Mitarbeiter in der Leitzentrale zu erklären – oder will es nicht.
Das Problem könnte seine Ursache auch teilweise in den Pünktlichkeitskriterien des Senats haben, die wir in unserer Analyse übernommen haben. Die BVG ist laut Ausschreibung angehalten, nicht mehr als 90 Sekunden zu früh abzufahren. Alles darunter gilt als pünktlich. Im Gegensatz dazu dürfen Bus, Tram und Bahn bis zu 210 Sekunden zu spät sein, also ganze dreieinhalb Minuten. Die offizielle Verfrühungsschwelle ist also schneller überschritten als die zur Verspätung.
Wie sehr die Fahrgäste unter einer Verfrühung leiden, hängt derweil immer noch vom jeweiligen Takt der Linie ab. Die M10 beispielsweise fährt laut unserer Analyse regelmäßig mindestens eine Minute zu früh los. Bei dieser Linie kann das dem Fahrgast tagsüber relativ gleichgültig sein, sie fährt alle paar Minuten. Bei der M2 hingegen, die, je nach Tageszeit in Abständen von fünf bis 30 Minuten verkehrt, scheinen sich die Verfrühungen im Verlauf der Fahrt stadteinwärts sogar anzusammeln. Wer nachts eine halbe Stunde vergeblich auf eine Tram wartet, hat sich im Winter schnell eine Erkältung eingefangen. Und morgens können bereits wenige Minuten Abweichung einen sehr unangenehmen Start in den Tag bedeuten.
Wer denkt sich so ein System eigentlich aus? Wer entwirft einen minutengenauen Fahrplan, der offensichtlich schon durch ein Paar Falschparker aus dem Takt gerät? Olaf Bruhn, Axel Mauruszat und Thomas Faust zum Beispiel. Die drei Planer sitzen in einem mit Fotos von Verkehrsmitteln spärlich geschmückten Büro im mittleren der drei Türme der BVG-Zentrale nahe der Jannowitzbrücke. Während hinter ihnen der Feierabendverkehr durch die Holzmarktstraße tobt, erzählen sie mit der Ruhe akribischer Techniker von der ewigen Suche nach einem Mittelweg, der genau wegen seines mittelmäßigen Charakters immer wieder zum Scheitern verurteilt ist.
Da ist erst einmal die Geschichte, beschreibt Bruhn die Beschränkungen seiner Möglichkeiten als Verkehrsplaner: »Einige Linien gibt es seit 1930 genau so«, sagt er. Diese Strecken sind heute nicht mehr unbedingt die logischsten Verbindungen in einer sich rasant wandelnden Stadt. Aber sie sind eben schon lange da. »Wenn da der Verlauf auch nur etwas geändert wird, reagieren die Leute oft allergisch.« Manchmal habe es Sinn, den Weg einer Buslinie zu ändern, damit ein stark gewachsener Kiez in der Nähe besser angebunden ist oder damit der Bus auf leereren Straßen fährt. Das geschah beispielsweise für die neu gebaute Wasserstadt Oberhavel, die auf einem Gebiet entstand, wo früher kaum jemand lebte. Um sie anzubinden wurde die Buslinie 139 am nördlichen Ende verlängert. Solche Wünsche kämen oft von Fahrgästen, sagt Mauruszat, Sachgebietsleiter Anschlüsse und Netzkoordination in der BVG-Abteilung Produktplanung. Man prüfe das dann. Eine Verlängerung ist da recht einfach. Keiner leidet darunter. Aber um den Streckenverlauf auf einer Linie zu verändern, muss ganz klar sein, dass durch die neue Route mehr Menschen einen Vorteil haben als Nachteile für diejenigen entstehen, die den bisherigen Verlauf gewohnt sind. Mauruszat zuckt mit den Schultern. »Man verliert immer schneller Leute, als man sie gewinnt.«
Die Macht der Gewohnheit beeinflusst die Planer auch beim Kampf gegen die Uhr: Die Abfahrtszeiten auf den Fahrplänen müssen nicht ausschließlich dem Kriterium der höchstmöglichen Pünktlichkeit entsprechen, sondern sollen möglichst einprägsam sein. Immer um 03, 23, 43 können sich Leute merken. »Alle neun Minuten« würde vielleicht zu mehr Pünktlichkeit führen. Aber ein für den Fahrgast brauchbarer Abfahrtsplan wird daraus nicht. Sofern er kein Smartphone dabei hat - denn digital können sich Fahrpläne theoretisch täglich ändern. So lange aber nicht alle Leute digitale Fahrpläne nutzen, sind viele darauf angewiesen, sich die Zeiten merken zu können.
Was für die Gewohnheit gilt, gilt auch für den Durchschnitt. Fahrpläne werden nach dem durchschnittlichen Verkehr und dem durchschnittlichen Fahrgastaufkommen pro Tag über das ganze Jahr berechnet. Januar und Februar sind beispielsweise recht ruhige Monate, sagen die Planer: Kaum Touristen, weniger Fahrradfahrer, weniger Leben auf der Straße. Für diese Monate müsste eigentlich ein anderer Fahrplan gelten als in der hektischen Vorweihnachtszeit oder im lebendigen Sommer. Aber: Dafür müsste alle paar Wochen an vielen der 6454 Bushaltestellen ein neuer Fahrplan ausgehängt werden. Das ist unrentabel und würde wieder zu Verwirrung bei den Fahrgästen führen.
Dieses Problem wird in Zukunft eher zunehmen, sagt Faust: Immer flexiblere Arbeitszeiten, zunehmender Verkehr, verschiedene Schulschlusszeiten und immer mehr Fahrradfahrer. All diese gesellschaftlichen Entwicklungen machen den Verkehr unberechenbarer – und damit auch die Fahrpläne für die Öffentlichen.
Ist das vielleicht einer der Gründe, warum in unseren Daten so viele Verfrühungen zu beobachten sind? Fahren die Busse und Trams einfach zu schnell, weil sie im Januar gar nicht so viel zu tun haben, wie ihr Fahrplan vorsieht? Die drei Planer haben noch eine andere Begründung für Verfrühungen auf manchen Buslinien. In Berlin gibt es 993 Ampelanlagen mit so genannter »Beschleunigung«. 934 davon funktionieren derzeit, die anderen sind – etwa baustellenbedingt – abgeschaltet. Damit die Busse besser durch den Verkehr kommen, springen diese Ampeln auf Grün, sobald einer kommt.
Das Problem dabei: Herrscht wenig Verkehr, schafft der Bus die Strecke zur nächsten Ampel schneller als geplant. Wenn die sich dann noch direkt hinter einer Haltstelle befindet, muss er trotz Verfrühung weiterfahren, um den Querverkehr mit seiner höchstpersönlichen Grünphase nicht allzu lange aufzuhalten. Deshalb dürfen verfrühte Busse an vielen – mit einem grünen Punkt auf dem Schild markierten – Haltestellen gar nicht warten. Den Fahrern bleibt nichts anderes übrig, als weiter zu fahren. Für den M48 etwa, nach unserer Analyse einer der unpünktlichsten Busse, erzählen die Planer von einer ganzen Reihe von Haltestellen auf der Schöneberger Hauptstraße, die direkt vor solchen Ampeln liegen. Die Folge ist bei leeren Straßen eine sich stetig vergrößernde Verfrühung. So begünstigt eine Maßnahme, die zur Verringerung von Verspätungen geplant war, letztlich noch mehr Verspätung für einzelne Fahrgäste.
Hört man den geduldigen Erklärungen der drei BVG-Planer in ihrem silbernen Büroturm zu, klingt es, als bliebe Pünktlichkeit im Berliner ÖPNV für alle Zeiten ein Traum. Dabei ist der Busverkehr in Berlin schon jetzt relativ pünktlich – wie auf den Datenvisualisierungen schnell zu sehen ist. Nur zu absoluten Hochzeiten und nur auf sehr stark genutzten Linien fährt die Mehrzahl der Busse mit Verspätung. Den Rest der Zeit sind die Busse und Trams in Berlin in der absoluten Mehrheit der Fälle pünktlich, oft sogar minutengenau. An allen Bus- und Tramhaltestellen, die wir sechs Wochen lang beobachtet haben, waren 22 Prozent der Abfahrten unpünktlich. Nimmt man die von uns gemessenen Abfahrten von U- und S-Bahn hinzu, die von einem weitestgehend geschlossenen System profitieren, noch hinzu, sind es sogar nur 17 Prozent verspätete Abfahrten auf allen Linien.
Dazu ist theoretisch längst klar, wie Busse und Bahnen noch pünktlicher werden könnten. »Das größte Problem ist kein technisches«, sagt Thomas Faust. Und sein Kollege Olaf Bruhn fügt hinzu: »Es ist unsere Ellbogengesellschaft, in der Regelübertritte zum Normalfall geworden sind.« Während früher Busspuren durchaus respektiert worden seien, sei es inzwischen immer mehr Autofahrern egal, wenn ihr Parken vor der Haltestelle hundert Buspassagiere zu spät zur Arbeit kommen lässt. Dieser Punkt ist die am einfachsten vermeidbare Ursache für Verspätungen – wenn es politisch gewollt wäre. Gegen die anderen häufigen Verspätungsursachen wie Feuerwehr- oder Rettungswageneinsätze würde dagegen wohl kaum ein vernünftiger Mensch etwas machen wollen.
Da sich wohl auch am Egoismus einzelner vorerst wenig ändern wird, gibt es letztlich drei Ansatzpunkte. Der erste: Man verabschiedet sich von der Vorstellung fester Fahrpläne. In London oder Paris werden schon lange die Busfahrpläne nur ungefähr angegeben. Alle vier bis sechs Minuten, steht dort dann auf dem Fahrplan. Man hat einfach akzeptiert, dass feste Abfahrzeiten inmitten der Großstadt selten zu halten sind. Warum das in Berlin nicht so ist? »Das ist eine reine Philosophiefrage«, sagt Olaf Bruhn. In Deutschland sei im Personenbeförderungsgesetz festgeschrieben, dass Fahrpläne ausgehängt werden müssten. Also werden welche gemacht. Ob sie einhaltbar sind oder nicht. Zumindest an manchen Stellen, wo die Taktfrequenz unter fünf Minuten liegt, ist die BVG deshalb nun dazu übergegangen, nicht mehr die genauen Abfahrten anzuführen, sondern »dichte Busfolge« auf die Fahrpläne zu schreiben. Eine pragmatische Lösung, die Versprechen gar nicht erst verkündet – und so auch keine falschen Pünktlichkeitserwartungen schürt.
Zweiter Punkt: die Wendezeit. Von riesiger Bedeutung für die Pünktlichkeit ist die Haltezeit an den Endhaltestellen. Je länger etwa ein Bus warten kann, bevor er wieder die gleiche Strecke zurückfährt, desto mehr Puffer hat er für den Fall, dass er sich auf dem Hinweg verspätet hat. Allerdings bedeutet mehr Wendezeit, dass auch mehr Fahrer und Busse für eine Linie gebraucht werden. Eine Kostenfrage. Zu dem »magischen Dreieck« der BVG gehören aber nicht nur Kundenzufriedenheit und Pünktlichkeit, sondern auch Wirtschaftlichkeit: Als Landesunternehmen finanziert sich die BVG aus Fahrpreisen und Steuergeld – und wird entsprechend kurz gehalten angesichts der Berliner Haushaltslage. Gäbe es mehr Geld, um die Pünktlichkeit zu erhöhen, würden die Planer es ohnehin lieber anders einsetzen: für neue Strecken zum Beispiel. Vor allem aber für freiere Strecken.
Denn wie das Problem, drittens, grundsätzlicher zu lösen wäre, zeigt die Datenanalyse schon ganz deutlich: Je mehr eigene Spuren ein Verkehrsmittel hat, desto pünktlicher kommt es. Würden Politiker und andere Berliner also tatsächlich wollen, dass mehr Menschen pünktlicher mit dem ÖPNV von A nach B kommen, bräuchten Trams und Busse schlichtweg: eigene Spuren, klar abgetrennt von der sonstigen Fahrbahn mit durchgezogenen Linien oder, besser noch, erhöhten Bordsteinen, um es Wildparkern noch schwerer zu machen. »Busspurbetreuer sind letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt Verkehrsplaner Axel Mauruszat. Nichts sei für die Pünktlichkeit so wichtig wie »die ungestörte Fahrt auf freier Strecke«, ergänzt sein Kollege Thomas Faust. Eigene, konsequent freigehaltene Busspuren würden nicht nur die Behinderungen durch den Autoverkehr verringern. Auch der stark angestiegene Fahrradverkehr käme Trams und Bussen nicht mehr in die Quere.
In Städten wie London oder Paris gibt es klar getrennte Busspuren, in vielen Teilen zudem baulich abgetrennte Fahrradspuren. Je mehr eigene Bus- und Tramspuren es gibt und je stärker diese vom restlichen Verkehr getrennt sind, desto pünktlicher werden die öffentlichen Verkehrsmittel. Ganz einfach eigentlich. »Aber da sind wir wohl ein wenig mit der Welt im Dissens«, sagt Axel Mauruszat und guckt ratlos. »Ginge es nach uns, hätten wir für Busse mit Taktfrequenzen unter zehn Minuten grundsätzlich eigene Busspuren.« Woher man die nehmen könnte, ist den meisten Stadtplanern eigentlich auch schon lange klar. Sobald an größeren Straßen keine Autos mehr parken dürften, wäre auch Platz für separate Bus- und Fahrradspuren. Die Initiatoren des Fahrrad-Volksentscheids, die jetzt, im März 2016, den Ausbau des Wegenetzes fordern, wollen genau das. Sie haben sich vorher mit der BVG beraten, um nicht als Egoisten dazustehen. Der Verkehrssenator hat allerdings schon mal klargestellt, dass man nicht einfach die Parkplätze an Hauptstraßen abschaffen könne. Die Planer bei der BVG hätten wohl nichts dagegen. ||
Für unsere Datenanalyse haben wir die Live-ÖPNV-Daten des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB) sechs Wochen lang von Montag, 18. Januar, bis Sonntag, 28. Februar 2016, minütlich gesammelt. Alle Ergebnisse sind über den Messungszeitraum im Wochenzyklus stundenweise getitelt.
Ausgewählt haben wir die nach BVG-Angaben fahrgaststärksten Linien der jeweiligen Verkehrsmittel – Tram, Bus, U- und S-Bahn. Für die Definition von zu früh und zu spät haben wir die Pünktlichkeitskriterien des Senats übernommen: Als zu früh gilt jede Abfahrt mehr als 90 Sekunden vor dem fahrplanmäßigen Termin. Zu spät sind Abfahrten ab 210 Sekunden nach Termin.
Unsere Definition von Haupt-, Neben- und Nachtverkehr ist eine Vereinfachung der VBB-Kriterien von Haupt-, Neben-, Schwach- und Nachtverkehr. Den Schwachverkehr haben wir der Verständlichkeit halber in unseren Visualisierungen zum Nebenverkehr gezählt. Hauptverkehr ist demnach montags bis freitags 6 bis 9 Uhr und 14 bis 19 Uhr, Nachtverkehr montags bis freitags von 1 bis 4 Uhr, an Sonnabenden von 1 bis 5 Uhr und sonntags von 1 bis 7 Uhr. Der Rest ist Nebenverkehr.
Das Projekt basiert auf den Ergebnissen einer Kursarbeit unter der Leitung von Till Nagel an der Fachhochschule Potsdam. Es entstand mit Unterstützung des Urban Complexity Lab, Fachhochschule Potsdam.
Mitarbeit
Ekkehard Petzold Datenvisualisierung, Webdesign
Hendrik Lehmann Text, Fotos, Online-Umsetzung
Stefan Jacobs Text
Kitty Kleist-Heinrich, Doris Spiekermann-Klaas Fotos
Jan Oberländer, Johannes Schneider Redaktion
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Erstmals veröffentlicht am 21. März 2016
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Johannes Schneider (Der Tagesspiegel)