Artikel teilen
teilen

Der lange Weg von Nadine zu Nils - Teil 1 „Das Schlimmste waren die Lackschuhe, die ich anziehen musste.“ Nils Mertins wurde 1976 als Nadine geboren. Mehr als 40 Jahre später lässt er sein angeborenes Geschlecht an sein empfundenes anpassen. Sein überraschender Lebensweg erzählt viel über das Leben als trans Mann in Deutschland. Text: Ingo Bach
Video: Sophie Peschke

Es sind nur noch wenige Tage, bis sein weiblicher Körper in einer großen Operation in einen männlichen verändert wird und damit endlich auch nach außen zeigt, was Nils Mertins im Inneren seit seinen frühesten Kindertagen fühlt: er ist ein Mann. Als wir Nils kurz vor der Operation treffen, ist er 46. Er wirkt im Gespräch selbstbewusst und abgeklärt. Man merkt ihm an, dass er sich schon lange mit seiner Transition auseinandergesetzt hat und ein langer Weg hinter ihm liegt. Er hat viel zu erzählen und er tut das überlegt und reflektiert, wie jemand, der tief in die eigenen Befindlichkeiten eingetaucht ist. Er hat dadurch die Fähigkeit gewonnen, etwas nachempfinden zu lassen, was viele Menschen nur schwer nachvollziehen können: Wie es ist, wenn man im falschen Körper geboren wurde.

„Für meinen emotionalen Lebenslauf, den ich für meinen Psychologen aufgeschrieben habe, musste ich tief in meine Vergangenheit eintauchen”. Nils Mertins 1977. Foto: Privat
Nils Mertins 2024 Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Wann wurde Ihnen klar, dass der Körper, mit dem Sie geboren wurden, nichts mit dem zu tun hatte, als wen Sie sich empfanden?

Schon sehr früh, wie ich mich gerade erst wieder erinnerte. Denn für meinen emotionalen Lebenslauf, den ich für meinen Psychologen aufgeschrieben habe, musste ich tief in meine Vergangenheit eintauchen. Und stieß bei dieser Reise auf eine Erinnerung in meiner frühesten Kindheit. Mit vier Jahren habe das erste Mal gedacht: Ich bin ein Junge. Ich weiß jetzt wieder, wo ich in dem Augenblick gestanden habe. Ich weiß, was ich in dem Moment gespielt habe … Meine ganze Kindheit über war das für mich eigentlich keine Frage, dass ich ein Junge bin.

„Mit vier Jahren habe das erste Mal gedacht: Ich bin ein Junge.” Nils Mertins 1980. Foto: Privat
Nils Mertins 1981 Foto: Privat

Wo haben Sie denn gestanden? Was haben Sie gespielt?

Mein Vater ist Bauingenieur und hat damals sein erstes Haus gebaut, für uns. Wir waren da gerade eingezogen. Ich stand in meinem Kinderzimmer, zusammen mit den Nachbarskindern. Die hießen Julia, Stefan und Philipp. Ich habe mich als Kind auch Philipp genannt, wegen dieses Nachbarsjungen, den ich so cool fand. Wir haben damals Vater, Mutter, Kinder gespielt. Und für mich war klar: Ich war der Vater. Das ist in meiner Erinnerung das erste Mal, dass ich das so klar fühlte.

Warum mussten Sie wieder lernen, sich daran zu erinnern?

Weil mir die damalige Klarheit verloren ging. Als die Pubertät begann und die Hormone ins Spiel kamen, hat sich alles verändert. Ich habe es verdrängt. Ich bin jetzt 46, ich bin also in einer Welt aufgewachsen, in der es das Thema „Trans“ noch nicht gab. Und so ist man dann im Alter von zwölf, 13 Jahren quasi gezwungen, dieses Gefühl, dass da was nicht richtig ist, hinzunehmen. Zu akzeptieren, wie es ist, ohne zu wissen, was da nicht passt. Und so wurde auch ich zum Meister der Verdrängung, so wie viele andere in meiner Generation.

„Ich habe mich als Kind Philipp genannt, wegen dieses Nachbarsjungen, den ich so cool fand.” Nils Mertins 1984. Foto: privat

Können Sie sich noch erinnern, warum Sie ihren Spielkameraden Phillip faszinierend fanden?

Wegen des Namens. Julia und Philipp waren Zwillinge. Mir hatten meine Eltern den Namen Nadine gegeben, ich wollte aber lieber Philipp sein. Also war irgendwie auch ein Zwilling in mir drin. Außerdem war auch ein bisschen Neid dabei. Ich wollte nicht nur so heißen, ich wollte ein Philipp sein. Ich musste aber meistens Nadine sein. Aber mich selbst konnte ich zumindest so nennen, wie ich wollte. Ich wählte den Namen Philip.

Jetzt, mehr als 40 Jahre später, als trans Mann, haben Sie einen anderen ausgewählt.

Ja, ich heiße Nils. Auch diesen Namen habe ich mir selbst ausgesucht, obwohl es schon einen Namen gab. Normalerweise geben Eltern ihren Kindern den Namen, und den hätte es auch gegeben, wenn ich ein Junge geworden wäre: Dann hätten mich Eltern Patrick genannt. Den Namen finde ich aber nicht so schön. Ich wollte, dass mein neuer Name – so wie mein alter – mit N beginnt. Ich wusste, dass meine jüngere Schwester Nils hätte heißen sollen, wäre sie ein Junge geworden.

In der Videoreportage erzählt Nils, wie sich der erste Teil seines Weges in den richtigen Körper angefühlt hat.

Also übernahmen Sie ein Stück weit die Namensvorstellungen Ihrer Eltern.

Das fand ich passend. Meine Eltern sind jetzt über 70. Ich möchte sie mitnehmen auf meinen Weg und ich weiß, dass das für sie kein einfacher Schritt ist. Deshalb wollte ich es ihnen etwas erleichtern mit einem Namen, den sie für ihr Kind bereits für gut befunden haben.

Die Namensfrage ist für viele trans Menschen eine sehr wichtige. Viele empfinden es als respektlos, wenn sie mit ihrem alten Namen, dem „Dead Name“ angesprochen werden. Wie ist es für Sie, wenn jetzt noch jemand Nadine sagt?

Für mich ist das gar kein Problem.

Hintergrund: Deutsches Recht
Geschlecht und Vornamen lassen sich ändern

Der Bundestag hat am 12. April 2024 das neue Selbstbestimmungsgesetz beschlossen, das an die Stelle des sogenannten Transsexuellengesetzes tritt. Es regelt die Voraussetzungen für die Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen im Personenstandsregister neu. Das Gesetz soll größtenteils am 1. November 2024 in Kraft treten. Bereits ab dem 01. August 2024 soll laut Bundesjustizministerium BMJ die Anmeldung der Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen bei den Standesämtern möglich sein, sodass zu diesem Zeitpunkt die dreimonatige Karenzzeit zu laufen beginnt.

Erwachsene können ihren Geschlechtseintrag künftig mit einer einfachen Erklärung beim Standesamt ändern. Jugendliche ab 14 Jahren können ebenfalls eine eigene Erklärung abgeben, brauchen aber das Einverständnis der Eltern. Bei innerfamiliäre Konflikte kann ein Familiengericht die Entscheidung treffen. Maßstab soll das Kindswohl sein. Die Jugendlichen müssen auch versichern, beraten worden zu sein. Bei Unter-14-Jährigen müssen die Eltern die Erklärung einreichen.

Es gibt eine dreimonatige Karenzzeit zwischen dem Einreichen der Erklärung und dem Zeitpunkt, ab dem der neue Geschlechtseintrag gilt. Nach einer Änderung gibt es eine einjährige Sperrfrist, bevor der Geschlechtseintrag erneut geändert werden dürfte.

Das Hausrecht und Zugang zu geschützten Räumlichkeiten blieben vom Selbstbestimmungsgesetz unberührt, versichert das BMJ. Hinsichtlich des Zugangs zu geschützten Räumen, wie Frauenhäusern, aber auch Umkleiden oder Saunen und ähnlichem werde sich durch das Selbstbestimmungsgesetz also nichts ändern. Das jetzt geltende Recht bleibe bestehen. „Unterschiedliche Behandlungen wegen des Geschlechts sind zulässig, wenn es dafür einen sachlichen Grund gibt. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn die unterschiedliche Behandlung dem Bedürfnis nach Schutz der Intimsphäre oder der persönlichen Sicherheit Rechnung trägt.

Das heißt, es gibt auch noch Menschen, die Sie so ansprechen?

Viele. Schließlich trage ich diesen Namen seit 46 Jahren. Und wenn er mehr Unisex-Bedeutung hätte – wie die geschlechtsneutralen Namen Robin, Luca oder Toni -, dann hätte ich ihn behalten. Ich weiß, dass das Namensthema für viele trans Menschen ein ganz großes Problem ist. Aber für mich persönlich ist es das nicht. Aber klar freue ich mich, wenn ich mal einen Brief bekomme, bei dem in der Anschrift Nils Mertins steht.

Klingt nach viel Rücksichtnahme auf andere…

Mag sein. Ich denke, eine Eingewöhnungsphase für meine Umgebung einzuräumen, ist nichts Falsches. Ich beschäftige mich seit langer Zeit mit dem Thema, aber ich muss auch meine Umgebung, meine Kollegen, Freunde und meine Eltern mitnehmen. Und die brauchen dafür noch etwas Zeit … Solange ich noch äußerlich weiblich aussehe, müsste ich mich dauernd erklären für den männlich klingenden Namen. Ich komme noch mit beiden Namen zurecht. Aber ab der Operation gibt es nur noch einen Namen. Ab da bin ich Nils. Für alle! Das werde ich dann auch einfordern.

„Ich fand den Rosa-Schleifchen-Krams blöd. All das, was Mädchen in meinem Alter toll fanden, das fand ich doof.” Nils Mertins 1987. Foto: Privat
Nils Mertins 1985 Foto: Privat

Zurück in Ihre Kindheit. Mit vier ist es einem wahrscheinlich noch nicht so bewusst, was Junge und Mädchen ganz konkret bedeuten, auch weil die körperlichen Unterschiede noch nicht so augenfällig sind. Wann wurden das Aussehen und die Wahrnehmung ihres Körpers durch andere zum Thema?

Als die Pubertät begann, kam das Unwohlsein. So ein unbewusstes Gefühl, ich gehöre weder zu den Mädchen noch zu den Jungen. Ich konnte mich nicht richtig einsortieren. Ich fand den Rosa-Schleifchen-Krams blöd. All das, was Mädchen in meinem Alter toll fanden, das fand ich doof.

Und das wurde besonders sichtbar, wenn es um formelle Kleidungsfragen ging. Für die Konfirmation zum Beispiel. Dafür brauchte man ein passendes Outfit. Ich hätte mich in einem Anzug wohlgefühlt. Das aber habe ich nie gewagt zu sagen. Ich war ja ein Mädchen. Also mussten irgendwelche Klamotten her, die so halbwegs für mich passten. Es wurde dann so ein Hosenrock-Dingsbums und eine Bluse mit einem komischen Rüschenkragen. Das Schlimmste aber waren diese Lackschuhe, die ich anziehen musste. Ich wollte da so schnell wie möglich wieder raus. Gleich nach der Feier in der Kirche habe ich wieder meinen Hoodie angezogen und meine Jeans.

„Das Schlimmste waren diese Lackschuhe, die ich anziehen musste.“ Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel
Nils Mertins bei seiner Konfirmation im April 1990 Foto: Privat

Die Kleidungsfrage war also ein erster Indikator dafür, dass Sie eigentlich etwas anderes sein wollten?

Ja, aber damals noch kein so dominanter. Ich durfte mir immer die Sachen aussuchen, die ich wollte. Meine Eltern waren ja kein konservativer Haufen, der mich immer nur im Kleidchen sehen wollte. Und in den 1980er waren die Klamotten zum Glück eher geschlechtsneutral, so dass ich immer auch was für mich fand.

Aber gerade bei den Schuhen wurde es schwierig. In unserem Ort nahe Bielefeld gab es einen Schuhladen, in dem die Schuhe fein säuberlich sortiert waren, links für Jungs, rechts für Mädchen. Die für Mädchen waren alle in solchen Pastelltönen, wie sie damals modisch waren. Da musste ich mir ein Paar raussuchen. Ich weiß bis heute noch, wie abstoßend ich es fand, diese Schuhe in Pastell tragen zu müssen. Totale Katastrophe. Ich war froh, als sie dann später kaputt gingen.

Haben ihre Eltern irgendwas davon mitbekommen, wie unglücklich Sie mit bestimmten Kleidungsstücken waren?

Ja, ich denke schon. Als der Abiball kam, fand ich wieder mal nichts zum Anziehen. Da hat meine Mutter gesagt: Wir gehen jetzt zum Schneider und Du darfst Dir was schneidern lassen. So bekam ich meinen ersten Anzug. Da habe ich mich sehr wohl drin gefühlt, es passte einfach alles.

„In den 1980er waren die Klamotten zum Glück eher geschlechtsneutral, so dass ich immer auch was für mich fand“. Nils Mertins 1991. Foto: privat

Nicht überraschend, dass dann irgendwann die Frage kam, ob Sie lesbisch sind, oder?

Ja, aber nicht nur wegen der Klamotten. Irgendwann habe ich gedacht, was finden die anderen Mädchen an Jungs so toll, die mich null interessierten. Aber Frauen, die interessierten mich sehr. Ich habe aber nie offen gesagt, ich bin lesbisch. Das Wort habe ich immer als Beleidigung empfunden – und wusste nicht, warum. Mir war ja nicht bewusst, dass ich nicht lesbisch bin, sondern ein Mann, der Frauen liebt und der fälschlicherweise einen Frauenkörper erwischt hat.

Ich habe das verdrängt, weil „Trans“ kein Thema war. Ich habe dann meine Frau kennengelernt, mit der ich 20 Jahre lang in einer – so dachte ich es lange Zeit – lesbischen Beziehung gelebt habe.

Wann war Ihnen denn bewusst, dass Sie eigentlich ein Mann sind, der auf Frauen steht?

Nach dem Verdrängen in der Pubertät ist mir das erst seit 2022 wieder richtig präsent geworden. Da hatten wir in unserer Familie einen Schicksalsschlag zu verkraften. Um das zu verarbeiten, habe ich wieder mit dem Joggen angefangen und mich vorbereitet auf einen großen Lauf. Für das Training bin ich zu einer Kollegin gegangen. Die ist Heilpraktikerin. Sie hat mich mit homöopathischen Mitteln auf den Marathon vorbereitet.

Nach dem Lauf hat sie mir gesagt, jetzt probieren wir mal ein bisschen Craniosakraltherapie. Das ist eine alternative Heilmethode, bei der man bekleidet liegt und die Therapeutin mit leichtem Ziehen und Drücken eine körperliche Reaktion auslöst. Da laufen energetische Schwingungen durch den Körper. Wie es genau funktioniert, kann ich gar nicht sagen. Aber das hat mich zu mir selbst geführt. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich jetzt mein Leben radikal ändern muss.

Tor zur Welt: Es war ein Gespräch mit einer Heilpraktikerin, das den finalen Ausschlag gegeben hat. Sophie Peschke für den Tagesspiegel

Was ist da genau passiert?

Ich kann mich noch gut an diesen Schlüsselmoment im September erinnern, als ich schon auf der Fahrt zur Therapie gedacht habe, ich bin sowas von fertig.

Ich saß vor der Heilpraktikerin und meinte: „Mein Kopf macht mich verrückt“.

Sie fragte: „Was macht Dich daran verrückt?“

Darauf ich: „Kopf und Körper passen nicht.“ – „Was passt nicht, der Kopf oder der Körper?“

Und plötzlich war mir klar: „Der Kopf passt nicht zum Körper“.

Die Heilpraktikerin startete die Craniosakraltherapie mit den Worten: „Ich weiß nicht, wie lange du damit noch warten willst!“ Dieser Satz war der Auslöser für den größten Schritt meines Lebens.

Das Team

Ingo Bach
Interview
Julia Brigasky
Bildredaktion
Sophie Peschke
Foto & Video
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Hendrik Lehmann
Produktion
David Meidinger
Webentwicklung
Morten Wenzek
Social Projektleitung
Veröffentlicht am 20. Juli 2024.