Sie beherrscht die Kunst zu verschwinden. Kann sich stumm aus Gesprächen ziehen, in einem Raum voller Menschen plötzlich so teilnahmslos sein, dass sie nahezu unsichtbar wirkt. In Gedanken längst geflüchtet, weil ihr alles zu viel wird, zu banal, zu blöd.
Aber jetzt sitzt sie hier und weiß nicht mehr: Wie geht das, dieses Verschwinden?
Eva-Maria Kurz weint. Sie hat ihren zarten Körper auf dem Stuhl in ihrem Arbeitszimmer zusammengefaltet, die Beine eng aneinandergedrückt, den Rücken gerundet, kraftlos. 40 Kilogramm wiegt sie noch, ist barfuß wie immer.
Es ist ein Tag im Mai 2023, der Monat, in dem sie 79 Jahre alt wird. Wenige Stunden zuvor hat sie am Esstisch in ihrem Wohnzimmer einen Zettel mit ihren aktuellen Blutwerten in den Händen gehalten. Die seien gut, haben die Ärzte ihr gesagt. Das ist ihr Anlass zur Freude und zu großem Unverständnis: Wie kann denn gut sein, was sich überhaupt nicht gut anfühlt?
Zu diesem Zeitpunkt hat Eva-Maria Kurz längst entschieden zu sterben.
Sie stelle sich das „zeitnah“ vor, hatte sie im ersten von mehr als einem Dutzend Gesprächen an jenem Esstisch erklärt. Da war es Dezember 2022 und sie schon zahlendes Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS). Die hat ihr einen Arzt vermittelt, den sie mag, der ihr sofort, wenn sie es wünscht, eine Infusion legt, deren einschläfernden Inhalt sie – sozusagen per Knopfdruck – selbst in ihre Vene befördert. Assistierter Suizid nennt sich das.
Eva-Maria Kurz ist an Krebs erkrankt, der metastasierte. Sie hat mehrere kleine Schlaganfälle erlitten und sieht auf dem rechten Auge nicht mehr gut. Sie leidet an Schwindelanfällen, die so schlimm sind, dass sie an manchen Tagen durch ihre kleine Charlottenburger Wohnung läuft, als gehe sie an Deck eines schlingernden Schiffes: Ständig muss sie sich irgendwo festhalten. Übel ist ihr außerdem. Ihre Lunge ist schwer geschädigt, sie hat starke Osteoporose, Probleme mit den Bandscheiben, und zuletzt hatten Neurologen den Verdacht auf einen Hirntumor. Die Untersuchungen fördern zutage, dass sie mit Sicherheit dement werden wird.
An einigen Tagen wünscht sie sich, eine Hand zu halten und mit geschlossenen Augen einfach nur dazusitzen. An anderen serviert sie schwungvoll Kaffee, Kekse, Schinken, aufgeschnittene Avocado.
Eva-Maria Kurz sagt:
Sie sagt auch: „Seit ich den Entschluss gefasst habe, seitdem mir gesagt wurde: Wenn ich möchte, kann ich das machen, fühle ich mich sehr viel leichter.“
Doch für den assistierten Suizid muss sie bei klarem Verstand sein. Sie hat Sorge, sich beeilen zu müssen. Gepflegt zu werden oder abhängig von anderen zu sein, ist ihr eine unerträgliche Vorstellung. Sie hadert, aber sie bleibt hart. „Es ist schwer, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, zu sagen: Ich mache es, weil ich es richtig finde.“
„Es kann ja auch falsch sein, aber dann habe ich halt was Falsches entschieden, oder?“ Eva-Maria Kurz, belesen und immer mit Literatur zur Hand, verweist auf Hannah Arendts Kritik an der deutschen Idealisierung des Gehorsams.
Sie macht das im vollen Bewusstsein, dass ihr Weg keinen Raum für Reue lässt.
Obwohl sie oft verliebt gewesen sei, durchaus einige Beziehungen führte, habe sich zum Beispiel nie etwas Dauerhaftes ergeben. „Ich habe mein Leben halt so gelebt. Man kann ja nicht parallel zwei Leben leben.“
Eva-Maria Kurz wird am 17. Mai 1944 in Stuttgart geboren, eine Nachzüglerin in der Familie, ihr Bruder ist sechs, ihre Schwester neun Jahre älter. In diesem letzten Jahr des Krieges sind die beiden Geschwister schon bei den emigrierten Großeltern in der Schweiz untergekommen.
Ihre Kindheit sei wunderbar gewesen, erzählt Eva-Maria Kurz. Die schönsten Erinnerungen verbindet sie mit ihrem Großvater, dem Architekten Karl Beer: bei ihm auf dem Schoss sitzen, mit ihm Hand in Hand spazieren, die Patisserie besuchen, im Züricher Büro zu seinen Füßen spielen. Auf Fotos, die sie in Kisten und kleinen Alben verwahrt, ist ein freundlicher weißhaariger Herr zu sehen, das kleine Mädchen in seiner Nähe lächelt entspannt und durchaus keck.
Einmal, Eva-Maria Kurz ist vielleicht vier Jahre alt, wird sie vom Abendbrottisch verbannt, weil sie sich schlecht benimmt. Daraufhin, so erinnert sich ihr Bruder, steht sie protestierend auf und kehrt kurz darauf mit einem Holzbeil in den hoch erhobenen Händen zurück. So nicht!
Das Kind Eva-Maria ist nicht so duckmäuserisch, wie sie sich selbst Jahrzehnte später charakterisiert. Allein, der Ungehorsam in Gedanken ist leichter als in der Tat.
Und so erfüllt Eva-Maria Kurz den Wunsch ihrer Eltern, eines Oberstudiendirektors und einer Hausfrau, die gern Ärztin geworden wäre: Sie bringt sehr gute Noten nach Hause, spielt nachmittags erfolgreich Tennis – und lässt sich Grafik und Design verbieten zugunsten eines Medizinstudiums in Tübingen.
Etliche Länder erlauben mittlerweile Hilfe zum Suizid, außer Deutschland sind es beispielsweise in der Europäischen Union Portugal, die Niederlande, Spanien und Österreich. In manchen Ländern bedeutet die Hilfe mehr als bloße Assistenz: Sie schließt auch das Töten auf Verlangen mit ein. Allgemein lässt sich sagen, dass die Zahl derer, die freiwillig sterben wollen, überall zunimmt.
Im Winter bestellt Eva-Maria Kurz eine neue Kaffeemaschine bei eBay. Sie überlegt, ihre Haare nachzufärben. Der hellgraue Ansatz ist im rötlich-braunen Haar deutlich zu sehen. Sie nimmt die Einladung eines Bekannten zu einer Silvesterfeier an. Sie sortiert Bücher aus und verkauft sie online. Ansonsten will sie alles so lassen, wie es ist. Um die Auflösung ihrer Wohnung sollen sich andere kümmern.
Eva-Maria Kurz arbeitet weiter als Schauspielerin, lässt sich Drehbücher schicken, diskutiert, streitet, plant und verwirft. Im Musikvideo der Sängerin Masha The Rich Man tanzt sie im zarten Kleid durch karge Räume. Sie mag das Video sehr. Die Sängerin bedankt sich im Lied „Sheyne Ziere“ bei ihrer eigenen Großmutter für alles, was sie ihr beigebracht hat.
Eva-Maria Kurz sagt es gebe Tage, an denen melde sich kein Schwein bei ihr. Viele Bekannte hätten sich zurückgezogen, nachdem sie zunehmend immobil wurde. Als einsam würde sie sich nicht bezeichnen, aber irgendwie…
An ihrem Esstisch, hinter dem an der Wand eine Uhr ständig mahnend laut tickt, stellt sich die Frage: Warum? Geben wir den Alten und Kranken, die nicht mehr in unser Bild einer leistungsfähigen Gesellschaft passen, das Gefühl, sie sollten sich verabschieden?
Auf ihrer Website zitiert Eva-Maria Kurz den rumänischen Philosophen Emile Michel Cioran: „Leben heißt Boden verlieren.“
Was meinst du damit, Eva? „Ich weiß es nicht mehr.“
Im Bundestag wird im Frühling 2023 die Diskussion um eine gesetzliche Neuregelung der Sterbehilfe wiederbelebt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht drei Jahre zuvor das bislang in der Bundesrepublik geltende „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ aufgehoben hatte, ist der assistierte Suizid, wie ihn beispielsweise die DGHS vermittelt, gestattet.
Parteiübergreifend werden zwei Entwürfe ausgearbeitet, wie künftig mit der Sterbehilfe umgegangen werden soll: Der eine ist eher liberal, der andere sieht vor, das, was Eva-Maria Kurz plant, unter Strafe zu stellen.
Das macht sie wütend. Wieder und wieder sieht sie sich die damalige Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts bei Youtube an. Die Worte des Präsidenten Andreas Voßkuhle kann sie mittlerweile auswendig nachsprechen:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
Eine solche Entscheidung sei als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.
Respekt. Selbstbestimmung. Die Worte rühren Eva-Maria Kurz. Sie hat Verständnis für anderslautende Meinungen, doch für Einflussnahme hat sie keins. Sie wird nicht klein beigeben, gefühlt hat sie das schon zu häufig getan.
Wie ihre Eltern es wünschen, beginnt Eva-Maria Kurz ein Medizinstudium in Tübingen. Ein Jahr wird sie es versuchen, so lautet der Kompromiss, den sie unwillig eingegangen ist. Sie schließt Freundschaften mit Studierenden der Psychologie – und wechselt nach dem verordneten Jahr erleichtert den Fachbereich.
Dem zügigen Durchstudieren stehen die 68er im Weg, Freunde und Liebeleien. Eva-Maria Kurz jobbt als Tennislehrerin, zwischenzeitlich lebt sie bei einer französischen Offiziersfamilie als Dienstmädchen, hat eine Affäre mit einem hochrangigen eifersüchtigen Soldaten namens Yves. Erst als die Universität ihr einen Brief schreibt und mit Wiederholung ihrer mündlich längst absolvierten Prüfung droht, falls sie nicht endlich eine Diplomarbeit abgibt, setzt sie sich an ihre Schreibmaschine.
Die Arbeit, die sie im Juli 1974 einreicht, umfasst 281 Seiten und wiegt eineinhalb Kilogramm. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Theodor W. Adornos Überlegungen, warum sich Menschen an Autoritäten binden. Was finden wir so schwer aushaltbar an Ambiguität und Ambivalenz?
Für den experimentellen Teil ihrer Arbeit setzt sie Probanden vor zwei Lampen und bittet sie, die hellere zu bestimmen. Leuchten beide gleich stark, macht sie den Leuten Druck: Sie müssen sich schon entscheiden!
„Die Idee war: Wenn jemand dann schnell darauf eingeht, ist er eher autoritätshörig“, sagt Eva-Maria Kurz an ihrem Charlottenburger Esstisch und lächelt spöttisch. Sie ist nicht mehr überzeugt davon, dass Gehorsam so simpel zu erklären ist.
Und was ist Ungehorsam: Rebellion oder Freiheit? Verpflichtet er zu einer Erklärung? Ist ein Mensch egoistisch, wenn er beschließt zu sterben und somit das eigene Leid in Form von Trauer den Zurückbleibenden überlässt? Eva-Maria Kurz findet, so könne man das nicht sehen.
Als sie sich nachts das Bein aufschlägt und die Wunde stark blutet, ruft sie den Notarzt. Gegen den Schwindel versucht sie es mit Physiotherapie. Sie liest „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrndorf, der sich im Sommer 2013 erschoss, schwer beeinträchtig durch einen Hirntumor.
Eva-Maria Kurz hat Respekt für diese Entscheidung, obschon sie an der Art der Durchführung zweifelt. Weniger wegen ihrer Brutalität, sondern eher ihrer Effektivität. Könnte ja auch schiefgehen.
Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können. #
Täglich suizidieren sich in Deutschland etwa 28 Personen, rund 10.000 pro Jahr. Die meisten erhängen, strangulieren oder ersticken sich. Die Deutsche Depressionshilfe weist darauf hin, dass auf jeden vollendeten Suizid 20 Versuche kommen, was die Größe der dahinterstehenden Verzweiflung erahnen lässt.
Für ihre erste Stelle nach dem Studium zieht Eva-Maria Kurz als Tutorin in die „Waldhäuser Ost“, ein Studentendorf, zu dem auch ein Hochhaus-Ensemble gehört. Immer wieder hatten sich dort Studierende in den Tod gestürzt, was die Tübinger Universität dazu bewog, eine psychologische Betreuung und vor allem niedrigschwellige Anlaufstelle vor Ort zu installieren: Eva.
„Die Studenten kamen mit ganz verschiedenen Sorgen zu mir“, erinnert sie sich. „Von Freundin verlassen bis Prüfungsangst.“ Weil Eva-Maria Kurz selbst mit ihrem Freund, einem Dramaturgen vom Landestheater Tübingen, in einem Penthouse über ihren Klienten wohnt, klopfen die zu jeder Tages- und Nachtzeit an. „Verzweiflung lässt sich nicht aufschieben“, sagt sie.
1983 zieht sie zu einer Bekannten nach Berlin. Durch ihren Tübinger Dramaturgen-Freund hat Eva-Maria Kurz Geschmack am Theater gefunden und bewirbt sich für eine Hospitanz beim Regisseur Klaus Michael Grüber, der Anfang der 80er am Theater der Freien Volkbühne arbeitet. Sie ist begeistert.
Weil sie Geld verdienen muss, fragt sie in kleinen Theatern nach Aushilfsjobs – und wird im Tiger-Theater fündig. Plötzlich, so ganz kann sie selbst nicht rekonstruieren wie, landet sie in einem Stück von Stefan Zweig auf der Bühne.
„Schauspiel“, sagt Eva-Maria Kurz und reißt ihre hellen Augen weit auf, „da hätte ich auch früher drauf kommen können.“ Ist Theater, Spiel nicht am Ende auch reine Psychologie? Gedankenfreiheit, die sie vermisst, findet sie dort.
Eva-Maria Kurz wirft sich mit Ehrgeiz in ihre neue Tätigkeit. Sie will lernen und besser werden und landet in einem Workshop von Rosa von Praunheim, der ihr versichert: Deine Schrägheit ist dein Schatz, bleib wie du bist. In seinem Film „Ein Virus kennt keine Moral“ spielt sie ihre erste Rolle vor einer Kamera, eine Klatschreporterin.
Lächelnd schiebt sie ein Szenenfoto über den Tisch. Darauf steht sie als verdeckt recherchierende Journalistin mit Dildo auf dem Männerklo.
Sie dreht mit Christoph Schlingensief „Das deutsche Kettensägenmassaker“ und spielt in etlichen Fernsehfilmen und „Tatort“-Folgen. Die Abende verbringt sie so oft wie möglich in ihrer Stammkneipe am Savignyplatz, dem Künstlertreff „Diener Tattersall“, wo der Wirt irgendwann ein Bild von ihr in die Galerie der treuen, ein bisschen berühmten Gäste hängt. Die ganz Berühmten hängen an der Wand gegenüber.
„Ich habe das gemacht, wonach mir war. Ich habe versucht zu leben, mich durchzuschlagen“, sagt Eva-Maria Kurz. Jetzt empfinde sie nur noch große Müdigkeit.
Dreimal wurde sie im Film erschossen, außerdem vergiftet.
Bist du gern gestorben?
„Nein“, sagt sie „es ist anstrengend, man muss ganz still sein und darf nicht mehr atmen.“
Einmal spielt sie eine alte demente Dame, die ins Heim soll. Bewaffnet mit einer Pistole und im Nachthemd stellt die Alte klar: „Ich gehe nicht in den Rosenhof.“ Das, sagt Eva Kurz, würde sie heute auch tun, wenn jemand käme und sagte, sie müsse nun ins Pflegeheim.
Es ist keine schöne Vorstellung, in einem Land, das seinem Pflegenotstand nicht beikommt, abhängig zu werden. Aber sterben?
Im Sommer ist Eva-Maria Kurz verzagt. Sie versucht, einen Text für eine Abschiedsnachricht an alle ihre Bekannten zu dichten, und immer bleibt sie gleich hinter den Anfangsworten stecken: „War’s das? Das war’s!“ Immerhin hat sie schon ein Foto ausgesucht, das sie dem Text beilegen will. Darauf ist sie als vier Wochen altes Baby in einer Badewanne zu sehen.
Mit ihrem Bekannten Bernd Boßmann diskutiert sie alle Arrangements für ihre Beerdigung. Eva-Maria Kurz, Atheistin aus fester, wissenschaftlicher Überzeugung, weiß, dass sie davon nichts sehen und spüren wird, wünscht aber dennoch, es möge schön gestaltet sein.
Blumen? Ach nein. Oder vielleicht doch. Sekt gern, aber bitte keinen Käsekuchen und keine Fleischbällchen.
Eva-Maria Kurz sagt: „Ich weiß noch nicht wirklich definitiv, wann ich tot bin. Mal denke ich fest entschlossen: Jetzt ziehe ich es nicht mehr lange hin. Und dann denke ich: Eilen brauchst du nicht.“ Oder?
Beunruhigt verfolgt sie im Juli die Bundestagsdebatte über die Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe. Sie hat Sorge, dass verboten wird, was sie geplant hat; dass sie sich doch sputen muss, was ihr generell nicht liegt.
Doch bei der Abstimmung können sich die Abgeordneten nicht auf ein neues Gesetz einigen, die Diskussion wird vertagt. Eine Mehrheit gewinnt allein der Antrag, die Suizidprävention auszubauen.
Eva-Maria Kurz findet es kurios, dass überhaupt jemand meinen kann, er könne für einen anderen irgendetwas entscheiden.
Als junges Mädchen, etwa 20 Jahre alt, wird sie schwanger. Es ist ihr ein Rätsel wie, sie war doch nicht mal nackt. Aber es ist so und kann so nicht bleiben, auch wenn der Kindsvater Gefallen an der Vorstellung findet. Über Freunde von Freunden im Tennisklub wird eine „Engelmacherin“ organisiert, es ist Mitte der 60er und wer abtreibt, dem droht grundsätzlich eine Gefängnisstrafe.
Eva-Maria Kurz erzählt, wie sie Stunden in einem dunklen Raum verbringt, dass sie nicht weiß, was dort mit ihr geschieht, nur dass es weh tut. Sie erzählt von den einsetzenden Blutungen, die beim Besuch zuhause in Stuttgart das Bettlaken versauen. Sie ist allein auf der Toilette, als neben dem Blut auch ihr Embryo abgeht.
„Verlier darüber kein Wort“, habe ihr die Mutter gedroht. Mehr als 50 Jahre lang hielt sie sich daran. Jetzt ist auch diese Erinnerung aufgeräumt, die in der Rückschau viel ihres Schreckens verloren zu haben scheint. Das Leben wirkt geglättet wie ein frisch gemachtes Bett.
Selbstbestimmt sterben, sagt Eva-Maria Kurz scherzhaft, sei, „als wenn ich aus einem Film rausgehe, weil er mich langweilt“. Man wisse nie, ob man so nicht das Beste versäumt.
Jetzt oder später – es ist eine unmöglich zu treffende Entscheidung.
Im Herbst geht es Eva-Maria Kurz zunehmend schlecht, sie hat Schmerzen in den Knochen und findet keine Linderung. Sie notiert handschriftlich letzte Änderungen zu ihren sorgfältig angefertigten Verfügungen.
Dann legt sie ein Datum fest.
Am 17. November 2023 tauchen bei ihr nachmittags nacheinander eine gute Freundin, zwei liebe Bekannte, der Arzt und eine Anwältin auf. Es heißt, Eva-Maria Kurz habe ohne Zögern die Infusion mit dem Medikament aufgedreht, das sie erst einschlafen lässt und dann das Herz zum Stillstand bringt.