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Der lange Weg von Nadine zu Nils - Teil 2 „Meine Tochter sagte: Mama, du wirst ein total cooler Mann“ Nils Mertins kam als Mädchen zur Welt. Schon früh fand er heraus, dass er auf Frauen steht: sein erstes Coming out. Er lebte in einer lesbischen Beziehung, bekam Kinder. 2022 dann das zweite Coming out: Ich bin ein Mann. Text: Ingo Bach
Video: Sophie Peschke

Im ersten Teil unseres Gespräches mit trans Mann Nils Mertins sind wir gemeinsam mit ihm tief in seine frühen Erinnerungen eingestiegen. Wir erfuhren, wie wichtig Kleidung für ihn war, um die äußere Erscheinung von Frau und Mann zu definieren. Und dass er viele Jahre lang das Leben einer lesbischen Frau führte – bis ihm plötzlich klar wurde, dass das nicht das Leben war, das zu ihm passte.

Sie hatten vor zwei Jahren ein zweites Coming out. Das erste Mal als Lesbe, als Sie Ihre Frau kennengelernt haben, und nun als trans Mann.

Das Coming out als lesbische Frau hatte ich schon mit 18. Erst danach habe mit 25 meine Frau kennengelernt. Ich habe aber damals nicht gesagt, ich bin lesbisch. Das Wort habe ich nie in den Mund genommen. Ich habe mich ja nicht selbst als Frau gefühlt, ich habe das nur gedacht, dass es wohl so sein musste. Ich war immer auf der Suche nach meinem Weg. Was bist du? Du bist nicht hetero, habe ich gedacht, weil Du eine Frau bist, die Frauen liebt. Dann ist das wohl der richtige Weg. Nur, dass ich auch im falschen Körper stecke, das hat mein Kopf nicht hergegeben.

„Ich bin ständig unbewusst leicht gebeugt gegangen, damit meine locker sitzenden Shirts meine Brüste verbergen.“ Nils Mertins beim Campen 2005. Foto: privat

Gab es Situationen, wo Sie ihren eigenen Körper angeschaut haben und gedacht haben: Nein, das passt nicht, das bin nicht ich?

Ich sehe ihn eigentlich nie bewusst an, ich kann das meist gut verdrängen, aber nicht immer. Ich war kürzlich mit Freundinnen an der Mosel. Wir wollten in den Fluss springen und ich musste einen Badeanzug anziehen. Ich hätte viel lieber eine Badehose getragen. Aber mir wurde bewusst, dass mein Körper nicht zu einer Badehose passte. Und der Kopf passt nicht zum Badeanzug. Wenn ich nackt bin, kann ich das Thema verdrängen, da kann ich sehen, was ich sehen will. Erst die geschlechtsangepasste Kleiderordnung macht daraus eine Katastrophe für mich.

„Ich hätte viel lieber eine Badehose getragen. Aber mir wurde bewusst, dass mein Körper nicht zu einer Badehose passte.“ Nils Mertins 2021. Foto: privat

In der Pubertät beginnen bei einem weiblichen Körper die Brüste zu wachsen. Eigentlich unübersehbar. Wie blendet man so etwas aus?

Sie erkennen das vielleicht an meiner Körperhaltung. Wenn ich mich jetzt hinstellen würde, werden Sie sehen, dass mein Rücken leicht rund ist. Ich war deswegen sogar in physiotherapeutischer Behandlung. Warum so krumm? Weil ich ständig unbewusst leicht gebeugt gegangen bin, damit meine locker sitzenden Shirts meine Brüste verbergen. Ich habe auch immer unbewusst nach T-Shirts gesucht, die extra weit sind und keinen Ausschnitt haben.

„Als klar war, ich stehe auf Frauen, habe ich einen dafür normalen Weg eingeschlagen: Ich habe meine Frau geheiratet.“ Foto: Privat
Nils Mertins 2006. Foto: privat

Homosexuelle Menschen empfinden nach ihrem Coming out oft eine Erleichterung, endlich ja zu ihrem wahren Leben sagen zu können. Doch Ihnen bleib nach dem ersten Coming Out eine solche Erleichterung verwehrt, weil das Lesbischsein eben nicht ihr wahres Leben war.

Ich wollte immer normal sein. Als klar war, ich stehe auf Frauen, war mein Leben zwar nicht mehr ganz so normal. Aber ich habe dann einen dafür normalen Weg eingeschlagen: Ich habe meine Frau geheiratet. Wir haben zwei Kinder: unser erstes Kind, eine Tochter, habe ich ausgetragen, unseren jüngeren Sohn meine Frau.

„Für mich war immer klar, dass ich ein Kind will. Und tatsächlich hat mein Körper mir das ermöglicht.“ Nils Mertins hochschwanger im März 2010. Foto: privat

Wie würden Sie Ihr Leben bis zum zweiten Coming out als trans Mann beschreiben? Ein Leben voller Unglück, Unzufriedenheit, der andauernden Suche nach sich selbst?

Meine Frau und ich haben gut harmoniert. Das war schon auch ein glückliches Leben. Aber: Ich habe in dieser Zeit 25 Kilo zugenommen. Ich habe den Kummer offenbar in mich reingefressen. In den letzten zwei Jahren, seit dem ich weiß, was ich wirklich will, habe ich die 25 Kilo wieder abgenommen. Das sagt vieles, denke ich.

Der weibliche Körper, den Sie unbewusst abgelehnt haben, hat Ihnen auch ein Geschenk gemacht. Nur mit ihm konnten Sie Ihre Tochter bekommen.

Für mich war immer klar, dass ich ein Kind will. Und tatsächlich hat mein Körper mir das ermöglicht. Ich bin inseminiert worden. Wir haben das in Dänemark machen lassen und es hat auf Anhieb geklappt mit der Schwangerschaft. Ich weiß zum Beispiel genau, wann mein Eisprung ist. Ich kenne diesen Körper also gut und ich habe die Schwangerschaft genossen. In dieser Zeit habe ich mich richtig wohlgefühlt. Aber das Stillen, nachdem meine Tochter geboren war, war eine riesige Herausforderung und ein absoluter Zwiespalt für mich, ohne genau zu wissen warum. Weil ich den Gedanken, dass das der falsche Körper war, in dem ich steckte, nicht zugelassen hatte.

Das zweite Kind hat Ihre Frau ausgetragen – aus diesem Grund?

Nein, das hatten wir gemeinsam von Anfang an so geplant. Wir wollten beide ein Kind austragen, vom selben Spender, damit sie biologisch wenigstens Halbgeschwister sind. Das hat auch geklappt. Unsere Tochter ist jetzt 13, unser Sohn 10 Jahre alt.

„Meine Tochter sagte: Mama, du wirst ein total cooler Mann.“ Nils Mertins mit seiner kleinen Tochter im Juni 2011. Foto: privat

Wie haben Ihre Kinder auf Ihr Coming Out als trans Mann reagiert?

Unsere Tochter ist mit ihrer emotionalen Intelligenz schon recht weit. Sie hat mich im August 2022 sehr überrascht, als sie mich fragte: Mama, du hast doch ein Geheimnis, ich merke das. Puh, das war ein Hammer. Ich sagte ihr, nein, da gibt es kein Geheimnis.

Zwei Wochen später hat sie es noch mal gesagt. Und dann konnte ich nicht anders, als es ihr zu sagen. Ich fragte sie, ob sie wisse, was trans Menschen sind? Ja, antwortete sie. Ich sagte: Ich bin einer. Das Erste, was das Kind darauf gesagt hat, war: Mama, du wirst ein total cooler Mann. Aber du bleibst meine Mama. Das hat mich sehr berührt. Und sie geht den Weg seitdem auch sehr gut mit. Hauptsache, du bist glücklich, sagt sie – und meint das auch so. Sie ist auch mein treuester Follower auf Instagram.

Auf Instagram?

Ja, auf meinem Profil informiere ich über jeden Schritt meiner Angleichung. Ich will das alles ganz offen kommunizieren. Das gehört in die Öffentlichkeit, um es anderen etwas leichter zu machen.

Und wie reagierte ihr Sohn?

Der ist zehn und eben ein Junge. Am besten ist es, wenn alles gleich bleibt. So ist das noch in seiner Welt. Ich habe es ihm zwar auch erzählt, aber er versteht das noch nicht. Intensiver nehme ich ihn noch nicht mit auf dem Weg, das würde ihn überfordern. Nach der OP sehen wir weiter.

Und Ihre Eltern?

In der Familie fällt so was ja einem immer am schwersten. Das sind die Menschen, die einem ganz nahestehen. Meine Mutter hat gesagt, sie habe mit ihrer besten Freundin schon ganz oft über dieses Thema gesprochen. Weil deren Tochter vor den gleichen Entscheidungen stehe. Das hat mich schon sehr überrascht. Und mein Vater sagte: Egal ob Nils oder Nadine, du bleibst mein Kind. Das musste ich schon schlucken. Coole Reaktion für Eltern, die über 70 sind.

In der Videoreportage erzählt Nils, wie sich der erste Teil seines Weges in den richtigen Körper angefühlt hat.

Hat ihre Mutter bei Ihrem ersten Coming Out anders reagiert, als Sie ihr sagten, sie stehen auf Frauen?

Das war eine andere Situation, da war ich 18, fast noch ein Kind. Meine Eltern hatten ganz andere Befürchtungen: Hat sie sich das gut überlegt, was kommt da auf sie zu? Ich habe jetzt selber Kinder und verstehe, dass Eltern möchten, dass sie gut und einfach durchs Leben kommen. Der vermeintlich einfachste Weg ist immer der normale, ohne großartige Hürden. Der Weg, den ich damals ging und den ich heute gehe, ist nicht der Mainstreamweg. Deshalb beschäftigt Eltern dann natürlich die Frage: Wird sie das schaffen? Das war damals so – und heute sicher auch.

„Der Schlüsselmoment war die Craniosakraltherapie-Sitzung. Als ich der Therapeutin so klar sagen konnte: Mein Kopf passt nicht zu meinem Körper, durchlief mich ein Freudenschauer.“ Nils Mertins im Juli 2022, wenige Wochen vor der Craniosakraltherapie. Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Im ersten Gespräch haben Sie von Ihrem Schlüsselmoment berichtet, in dem Ihnen klar wurde, dass Sie trans sind. Was ging damals genau in Ihnen vor?

Der Schlüsselmoment war die Craniosakraltherapie-Sitzung, damals im September 2022. Jeder von uns hat einen maskulinen und einen femininen Teil in sich, und bei mir wurde der maskuline Teil in dieser Sitzung plötzlich so stark spürbar, ich dachte, mir platzt der Schädel. Als ich es dann der Therapeutin so klar sagen konnte: Mein Kopf passt nicht zu meinem Körper, durchlief mich ein Freudenschauer. Und den spürte die Therapeutin auch.

Blieb es bei dieser Freude?

Nach dieser Sitzung hatte ich die Angst meines Lebens. Mir war ganz kalt. Weil mir da etwas klar wurde: Ich muss das ändern, sonst werde ich nicht glücklich. Aber was bedeutet das für mich und mein Leben? Ich kann ja nicht weg und irgendwo ein neues Leben bei null anfangen. Weder kann ich meine Kinder alleine lassen, noch kann ich den Wohnort wechseln oder den Arbeitsplatz ändern. Ich sorge für 120 schwerkranke, behinderte Kinder, die mit Magensonden ernährt werden müssen – und betreue deren Eltern, viele davon mit Migrationshintergrund. Die kann ich alle nicht im Stich lassen. Aber werden sie es akzeptieren, wenn dann plötzlich statt Schwester Nadine Pfleger Nils zu ihren Kindern kommt?

„Ich sorge für 120 schwerkranke Kinder – und betreue deren Eltern, viele davon mit Migrationshintergrund. Werden sie es akzeptieren, wenn dann plötzlich statt Schwester Nadine Pfleger Nils zu ihren Kindern kommt?“ Nils Mertins im November 2023 an seinem Arbeitsplatz. Foto: Sophie Peschke für den Tagesspiegel

War bei Ihrem Schlüsselmoment sofort klar, dass Sie die anpassende Operation wollten?

Nein, ich habe gedacht, vielleicht nimmst Du nur Hormone. Ich habe damals viele Biografien gelesen und mich in der einen oder anderen wiedergefunden. Lange kam für mich nicht in Frage, mich körperlich zu ändern. Ich hatte immer die Kinder im Kopf. Und auch solche Dinge, wie meinen Arbeitgeber und meine Kollegen. Immerhin arbeite ich da schon 25 Jahre, und alle kannten mich als Nadine. Da ist viel Furcht im Spiel, wie meine Umgebung reagieren würde.

Hat sich Ihre Angst bewahrheitet?

Ich habe es nach meinem zweiten Coming out vielen Menschen in meiner engeren Umgebung gesagt, welchen Schritt ich gehen werde. Keiner ist vor Schreck hinten über gefallen. Im Gegenteil, es haben ganz viele gesagt: ja, das passt zu Dir!

Das Team

Ingo Bach
Interview
Julia Brigasky
Bildredaktion
Sophie Peschke
Foto & Video
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Hendrik Lehmann
Produktion
David Meidinger
Webentwicklung
Morten Wenzek
Social Projektleitung
Veröffentlicht am 19. Juli 2024.