Wohnen bleibt das wichtigste politische Problem für Berlin. In einer aktuellen Umfrage von Morgenpost und RBB gaben 39 Prozent der Wahlberechtigten an, dass Probleme rund um Mieten und Wohnen am dringendsten gelöst werden müssten. In Umfragen von Civey und Tagesspiegel vor der Wahl 2021 waren es 32 Prozent. Der Sieg des Volksentscheids für Enteignungen bekräftigte das.
Entsprechend groß waren die Versprechen im Koalitionsvertrag. Der Neubau von bezahlbarem Wohnraum sollte höchste Priorität bekommen. Die neue Regierung gründete ein Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen mit städtischen Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften und privaten Wohnungsunternehmen, um gemeinsam „Wohnungsbauvorhaben konsequent voranzutreiben“. Die Enteignungskampagne argumentierte, das sei bloß Ablenkung vom eigentlichen Problem.
Was hat die Regierung in einem Jahr erreicht? Statistiken aus 2022 zeigen: Die jetzige Regierung hat die Wohnungskrise nicht beenden können, es gibt wenig Anhaltspunkte für Fortschritt. Sie zeigen auch: Es gibt viele Faktoren, die den Prozess behindern.
Im Dezember verkündeten die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) die gute Nachricht: Im Jahr 2022 wurden 630 Wohnungen mehr fertig gestellt als in den Jahren zuvor – ganze vier Prozent. Die versprochenen 20.000 pro Jahr aus dem Koalitionsvertrag sind das nicht.
Die finalen Daten zu fertig gestellten Wohnungen veröffentlicht das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg erst im Mai 2023. Vorab wollte man die Angaben des Senats nicht kommentieren. Tatsache ist: In Berlin dauert es oft Jahre vom Bauantrag bis zur fertigen Wohnung. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die wenigen Wohnungen, die 2022 fertiggestellt wurden, sind nicht unbedingt der Verdienst des amtierenden Bausenators, sondern eher der Vorgänger*innen.
Vorher braucht es Baugenehmigungen. Davon gab es 2022 deutlich weniger – auch wenn man nur die vorläufigen Daten für die Zeiträume von Januar bis November vergleicht. Das liegt in hohem Maße am Ukrainekrieg und Inflation, was die Baupreise treibt, heißt es aus der Branche. Politisch gelöst wurde das nicht.
Trotzdem dürften die sinkenden Genehmigungen die nächsten Jahre zu noch größerem Wohnungsmangel führen. Und selbst wenn der Bau genehmigt wurde, wird die Wohnung noch lange nicht gebaut. Das zeigt auch obige Grafik. Zuletzt kündigte Deutschlands größter Vermieter Vonovia an, wegen steigender Baukosten und Zinsen alle für 2023 vorgesehenen Neubauprojekte zu stoppen – allein 1500 potenzielle Wohnungen in Berlin.
Um die hohen Baukosten reinzuholen, müsste man auf Mieten bis zu 20 Euro pro Quadratmeter hochgehen, sagte Vonovia-Vorstand Daniel Riedl der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«. Doch der größte Mangel in Berlin besteht bei billigen Wohnungen. So steht es auch im Koalitionsvertrag.
Möglichst die Hälfte der angekündigten neuen 20.000 Wohnungen pro Jahr sollte deswegen im gemeinwohlorientierten und bezahlbaren Segment errichtet werden. Ein wichtiger Player sind dabei die städtischen Wohnungsbauunternehmen, die subventioniert bauen könnten. In 2022 gab es gerade einmal ein Prozent mehr Baugenehmigungen für öffentliche Unternehmen – 42 Wohnungen mehr als 2021.
Bei Baugenehmigungen von Organisationen ohne Erwerbszweck, beispielsweise Kirchen oder Wohlfahrtsverbände, gab es eine Zunahme an Baugenehmigungen. Doch ob diese bei aktuellen Baukosten überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum schaffen könnten, ist fraglich. Um den bundesweiten Bedarf von 700.000 Wohnungen zu decken, seien auch Mieten von acht oder neun Euro erforderlich, sagte Vonovia-Chef Riedl.
Wer in Berlin im Jahr 2022 eine Wohnung suchte, merkte schnell, dass Mieten von neun Euro pro Quadratmeter kaum zu finden sind – gerade beim Neubau. Die durchschnittliche Angebotsmiete liegt da inzwischen bei 17,61 Euro. Im ersten Regierungsjahr unter Bausenator Geisel sind die Angebotsmieten noch einmal kräftig gestiegen – um 30,2 Prozent im Vergleich zum letzten Quartal 2021. Bei Neubauwohnungen stiegen die Mieten um 20 Prozent.
Neubauten sind von der Mietpreisbremse ausgenommen. Deswegen sind ihre Mieten generell höher. 2021 endeten außerdem viele der strengen Coronamaßnahmen. Mehr Menschen kehrten in die Stadt zurück. Die Inflation und die Invasion der Ukraine schlagen sich ebenfalls in den Mieten nieder.
Eine Deckelung der Mieten war im Koalitionsvertrag nach dem Scheitern des Mietendeckels in 2021 nicht vorgesehen – ein freiwilliges Mietenmoratorium soll im Zweifel die steigenden Preise stoppen. Dass mehr Neubau allein die Preise nicht senken kann, zeigt das Beispiel Hamburg. Hier stiegen die Preise, obwohl es eine erhöhte Bautätigkeit gibt. Ein Blick auf die Bezirke zeigt außerdem: In keinem liegen die Angebotsmieten für Neubau bei den von Vonovia-Chef erwähnten neun Euro pro Quadratmeter.
Auch ein WG-Zimmer ist für Studierende keine günstige Alternative mehr. Daten von WG-Gesucht.de, die das Portal dem Tagesspiegel zur Verfügung gestellt hat, ergeben Preissteigungen für WG-Zimmer von 16 Prozent in 2022. Im Januar lag der Durchschnittspreis für ein WG-Zimmer in Berlin bei 593 Euro.
Die Gehälter in der Hauptstadt sind nicht in gleichem Maße wie die Mieten angestiegen. Einer aktuellen Analyse des Immobilienportals Immowelt zufolge frisst die Kaltmiete eines Singles mit einer 50-Quadratmeter-Wohnung bereits bei 33 Prozent des Nettoeinkommens – ohne Nebenkosten und Strom. Die vertretbare Mietbelastungsquote inklusive dieser Kosten liegt bei 30 Prozent des Nettoeinkommens.
Um Verdrängung entgegenzuwirken, können die Bezirke ein Gebiet zu einem Milieuschutzgebiet erklären. So soll die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erhalten bleiben. In diesen Gebieten müssen Modernisierungen oder Nutzungsänderungen vom Bezirk genehmigt werden.
„Die Koalition wird die Bezirke bei der Ausweisung neuer Milieuschutzgebiete … unterstützen, und, falls nötig, neue Gebiete auch auf Landesebene festsetzen”, heißt es im Koalitionsvertrag. Selbst festgesetzt hat der Senat kein Gebiet. Und wie sieht es in den Bezirken aus?
Zwei Erweiterungen und zwei neue Gebiete gab es 2022. Für Tempelhof-Schöneberg wurden zwei neue Gebiete für 2023 festgelegt. In Steglitz-Zehlendorf und in Marzahn-Hellersdorf gibt es noch immer keine sozialen Erhaltungsgebiete.
Eine weitere Regelung im Milieuschutz: Der Bezirk kann von einem Vorkaufsrecht Gebrauch machen, sollte ein Wohnhaus verkauft werden. Einige Bezirke hatten das in der Vergangenheit getan und so den Bestand an landeseigenen Wohnungen vergrößert.
2022 war das weder in Neukölln noch Tempelhof-Schöneberg oder Pankow der Fall, obwohl diese Bezirke in den Jahren von 2017 bis 2021 davon Gebrauch gemacht hatten, Neukölln in diesem Zeitraum sogar 23 Mal.
Grund für die Untätigkeit 2022 sind allerdings nicht die neuen Bezirksbürgermeister*innen, die seit der Wahl 2021 im Amt sind, sondern ein Gerichtsurteil des Bundesverwaltungsgerichts Ende 2021. Das Vorkaufsrecht, wie es Berlin und andere Städte bis dahin angewandt hatten, sei nicht gesetzeskonform ausgelegt worden. Rot-Grün-Rot hatte deshalb im Koalitionsvertrag den Bund aufgefordert, die Regelung zu überarbeiten. Denn Milieuschutz ist im Baugesetz geregelt und somit – wie auch die Mietpreisbremse – Sache des Bundes.
Besserung am Berliner Mietmarkt gab es also im ersten Regierungsjahr von RGR nicht in statistisch nachweisbarer Weise – und auch wenig, woran potenzielle Nachfolger anknüpfen könnten. Im Neubau bleib die Koalition hinter ihren Versprechen zurück. Dass bei den aktuellen Baupreisen in den kommenden Jahren ein Bauboom folgt, ist unwahrscheinlich. Währenddessen steigen die Mieten schneller als in den vergangenen zehn Jahren.
57,6 Prozent der Berliner*innen sprachen sich 2021 für die Enteignung großer Wohnungskonzerne aus. Die Zahl der Enteignungen in Berlin beträgt weiterhin null. Denn ob der Entscheid umzusetzen ist, darin sind sich die Koalitionsparteien uneinig. Die Expertenkommission, die die Umsetzung des Entscheids prüft, soll Ende April oder Anfang Mai ihren Abschlussbericht vorlegen. Mit dem muss sich dann die neue Regierung beschäftigen.