Ein Problem an Katastrophen ist, dass die größte Aufmerksamkeit meist auf ihren Folgen liegt. Wer sich auf die Folgen konzentriert, lernt allerdings wenig darüber, wie man Katastrophen verhindert. Dafür muss man sich ihren Anzeichen widmen. Die sind am Anfang oft undeutlich – oder werden ignoriert.
Ein Forschungsteam vom Jüdischen Museum Berlin und dem Haus der Wannsee-Konferenz hat sich den Anzeichen der größten menschengemachten Katastrophe der Gegenwart gewidmet: der Shoah, ein altes hebräisches Wort für „Unheil“, „Zerstörung“, „Katastrophe“. In Hunderten Quellen untersuchte das Team Übergriffe auf jüdisches Leben von 1930 bis 1938, also den Zeitraum vor den Novemberpogromen 1938, deren Bilder so oft den Beginn der faschistischen Gewalt gegen Juden symbolisieren. Mehrere Jahre dauerte diese Quellenarbeit. 4660 Gewalttaten gegen Personen, jüdische Einrichtungen und Unternehmen in Deutschland haben sie belegt.
Auf Basis dieser Daten hat der Interfacedesigner Fabian Ehmel an der FH Potsdam eine interaktive Karte antisemitischer Gewalt entwickelt, die in der neuen Dauerausstellung am Jüdischen Museum gezeigt wird. Die Masse der Fälle auf dieser Karte macht sehr deutlich, dass lange vor den bekannten Schreckensbildern der NS-Zeit schon etwas schwelte und der großen Katastrophe den Weg bahnte – nicht nur unter Eliten, nicht nur in einzelnen Dörfern oder innerhalb kleiner militanter Gruppen, sondern in der breiten Fläche der Bevölkerung.
Es war keine Katastrophe, die ohne Vorzeichen über das damalige Staatsgebiet kam. Je mehr man sich die Einträge durchliest, desto eindeutiger wird das. Der Tagesspiegel darf diese Karte hier online zeigen.
Auf der Karte finden Sie alle 4660 Fälle, die bislang eindeutig belegt werden konnten. Dabei handelt es sich sowohl um Angriffe auf Menschen als auch Gewalt gegen Orte wie Friedhöfe, Synagogen oder Geschäfte. Weil nur belegte Fälle aufgenommen wurden, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Mit der Veröffentlichung der Karte rufen die Forscher deshalb dazu auf, bisher unbekannte Fälle zu melden.
Sie können in der Visualisierung nach Orten suchen, oder die Auswahl auf Tätergruppen, Jahre oder Ziele der Gewalt eingrenzen.
In der Liste rechts werden alle Fälle angezeigt, die sich im sichtbaren Kartenausschnitt befinden – inklusive der Quellen. In der Ergebnisliste werden alle Fälle angezeigt, die sich im sichtbaren Kartenausschnitt befinden – inklusive der Quellen. Die Liste finden Sie unter „Ergebnisliste ansehen“. In der Ergebnisliste werden alle Fälle angezeigt, die sich im sichtbaren Kartenausschnitt befinden – inklusive der Quellen. Die Liste und Auswahlfunktionen finden Sie über den Menü-Button oben rechts.
Mit zwei Forschern haben wir in der Ausstellung im Jüdischen Museum über das Projekt gesprochen. Christoph Kreutzmüller, Historiker am Haus der Wannsee-Konferenz und Aubrey Pomerance, Historiker und Archivleiter des Jüdischen Museums Berlin. Sie erzählen nicht nur, was ihnen bei der Forschung aufgefallen ist, sondern auch, warum es sie bisher nicht gab und weshalb sie diese Karte in der neuen Dauerausstellung zeigen wollten.
Sie haben mehrere Jahre geforscht, um die Fälle für diese Landkarte, die Topographie der Gewalt, zusammenzutragen und zu belegen. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Kreutzmüller: Zwei Sachen: Einerseits, wie wenig wir über die Ausbreitung von antisemitischer Gewalt eigentlich wissen. Andererseits, wie viel doch noch zu rekonstruieren ist, wenn wir richtig tief graben. Trotzdem stehen wir noch am Anfang der Forschung. Die Karte zeigt nur einen Bruchteil der tatsächlichen Übergriffe.
Pomerance: Ich kann hinzufügen, dass sich in den Archivbeständen des Jüdischen Museums in der Zeit von 1933 bis 1938, in Korrespondenzen, Tagebüchern und in anderen Dokumenten kaum Einträge über beobachtete oder erfahrene Gewalt befinden. Man hatte Angst, etwas niederzuschreiben, was gegen das Regime war, also was einem selbst schaden könnte. Es ist frappierend.
4660 Einträge finden sich nun in der Karte. Welche Quellen haben Sie alle herangezogen?
Kreutzmüller: Zunächst einmal haben wir über 250 lokale Studien ausgewertet, uns also auf die tolle Arbeit von lokalen Initiativen aus teils mehreren Jahrzehnten gestützt. Bis 1933 gibt es außerdem jüdische Zeitungen, die intensiv über Gewalt berichten. Denn es gab ja noch keine Zensur. Ab 1933 stammen viele Informationen aus der Arbeit des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der sich damals gegen die Verfolgung stemmt, sie dokumentiert und zahllose Eingaben macht.
Pomerance: Es wurde auch einiges aus Berichten von Gestapo, Justiz, NSDAP-Ortsgruppen und aus dem Auswärtigen Amt zusammengetragen, was sehr interessant ist. Ausländische Regierungen haben sich dort über Gewalttaten gegen ihre Staatsbürger in Deutschland beklagt.
Welche regionalen Schwerpunkte sind Ihnen aufgefallen?
Kreutzmüller: Wirklich auffällig ist eine Ballung der Angriffe im Osten des damaligen Deutschen Reiches, vor allem Ostpreußen. Da gab es relativ wenige jüdische Gemeinden, aber offenbar eine große politische Gewalttätigkeit. Auch auffällig ist dann 1937 das Gebiet in Schlesien, wo es zu vielen Übergriffen kommt.
Was ist da passiert?
Kreutzmüller: Nach einer Volksabstimmung 1922 kommt dieses Gebiet zum Deutschen Reich, aber es gibt eine große polnische Minderheit. Insofern gibt es einen Kommissar vom Völkerbund, der versucht, einen Ausgleich zu finden. Der wird 1937 abgezogen. Und dann holen die lokalen Nazis nach, was sie die ganze Zeit nicht tun durften. Das soll aber nicht davon ablenken, dass es eigentlich überall Übergriffe gab, wo es auch jüdische Gemeinden gab.
Pomerance: Im Verlauf der ersten Jahre der NS-Zeit wurden in Franken, wo es im 19. Jahrhundert eine der höchsten Konzentration von jüdischen Gemeinden gab, viele Gemeinden stark dezimiert, was teils auf die Gewalt zurückzuführen ist, die dort wütete. Das führte häufig zu einer Abwanderung der jüdischen Bevölkerung aus kleineren Orten in die großen Städte.
Sie sprechen gerade über Stadt und Land. Gibt es da noch mehr erkennbare Muster?
Kreutzmüller: Ja. Sobald es in den kleineren Dörfern eine gewaltbereite Ortsgruppe Nationalsozialisten gibt, können die den Jüdinnen und Juden dort das Leben schon vor 1933 zur Hölle machen. Denn sie haben ganz klare Ziele. Viele Juden hatten kleine Geschäfte. Da stellen die sich dann tage- oder wochenlang davor und bedrohen alle Kunden. Nach ein paar Monaten kommt dann keiner mehr. Die Gewalt zerstört in kleinen Gemeinden schneller und brutaler.
Pomerance: Eine Rolle spielt dabei, dass in kleineren Städten alle Bewohner wussten, welche Geschäfte jüdische Inhaber hatten. Denn sie wurden teils seit Jahrzehnten von jüdischen Familien geführt. In großen Städten wusste die Bevölkerung dagegen nicht immer, ob ein Geschäft in jüdischem Besitz war.
Trotzdem gab es auch in Großstädten viele Übergriffe auf jüdische Leben, wie die Karte zeigt. Wie kam es dann dazu?
Kreutzmüller: In den Großstädten gab es natürlich auch viel Gewalt, doch die Städte funktionierten auch als Schutzraum. Da mussten die Verfolger viel mehr tun, um die Ziele der Gewalt zu markieren. Sie veröffentlichen Namenslisten, beschmieren Läden, schreiben Artikel in Zeitungen, diffamieren, wo es nur geht.
Pomerance: 1938 wurde dann in Berlin eine Polizeiverordnung erlassen, dass jüdische Geschäftsinhaber ihre Läden als jüdisch kennzeichnen müssen.
Kreutzmüller: Das war sozusagen die Vorbereitung für die Pogrome im November 1938. Die Markierung ist der Wegweiser: Da könnt ihr plündern! Die Plünderungen in Berlin beschreiben wir hier in der Ausstellung auch. Sie dauerten drei Tage.
Welche Gruppen von Tätern wurden bei Ihrer Forschung deutlich?
Kreutzmüller: Die große Erkenntnis ist, wie viel Gewalt von den Nachbarn ausging. Es ist lokale Gewalt, nicht die gesichtslose Gewalt der Gesetze oder Anordnungen des NS-Regimes. Es sind lokale Täter, die ihre Nachbarn bedrohen und verletzen.
Eine naive Frage: Konnte es für die Menschen damals erkennbar sein, dass es nicht nur Einzelfälle sind, sondern welches Ungetüm diese Taten vorbereiten?
Kreutzmüller: Das war eine Massenbewegung, eine massive Ausübung von Gewalt. Das ist klar. Aber hätten die Betroffenen wissen können, wohin das läuft? 1933 eher nicht. 1938 wird es dann klar. Dann wird es allerdings noch schwieriger, rauszukommen aus diesem Land, das einem Übel will. Im Ausland will sich kaum eine Regierung dem, wie es seinerzeit hieß, „deutschen Flüchtlingsproblem“ stellen…
Pomerance: Die physische Gewalt gegen Juden und die Gesetze gegen sie bildeten eine Zange, aus der es immer schwerer wurde, zu entkommen. Wie haben Individuen darauf reagiert? Das versuchen wir in der Ausstellung zu zeigen.
Und die restliche Bevölkerung? Hätte sie sehen müssen, wohin das führt?
Pomerance: Hinter diesen gewalttätigen Ereignissen steckt auch eine Zeugenschaft. Wir können jedoch nicht wissen, wie groß die Zahl der Zeugen war. Aber denken Sie nicht, dass jüdische Geschäfte immer nachts um drei Uhr überfallen wurden! Die Verfolgung der Juden in Deutschland hat immer unter den Augen von Zuschauern stattgefunden, die nicht eingriffen. Das zeigen wir anhand von Deportationsfotografien. Auf Bildern aus Eisenach sieht man wie Juden am helllichten Tag durch die Stadt zum Bahnhof laufen müssen, von wo sie deportiert wurden. Sie werden flankiert von der lokalen Bevölkerung.
Sagt Ihnen diese Karte etwas über die Gegenwart?
Kreutzmüller: Als wir Ende 2015/Anfang 2016 angefangen haben, an dieser Karte zu arbeiten, gab es vielerorts wieder schwere Übergriffe in Deutschland. Ein Stück weit gibt uns diese historische Karte selbstverständlich zu denken über unsere Gesellschaft heute. Auch als Kuratoren sind wir ja politische Menschen.
Aubrey Pomerance ist Historiker und Archivleiter des Jüdischen Museums Berlin. Für die neue Dauerausstellung hat er den „Epochenraum Katastrophe“ und den „Themenraum Familienalbum“ kuratiert.
Christoph Kreutzmüller ist Historiker und war Kurator der neuen Dauerausstellung für den „Epochenraum Katastrophe“. In der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz arbeitet er zusammen mit dem Jüdischen Museum Berlin an der Weiterentwicklung des Projekts.
Einen ausführlicheren Aufsatz über das Projekt hat Christoph Kreutzmüller gemeinsam mit Jana Fritsche in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlicht. Sie können ihn unter diesem Link herunterladen.
Die interaktive Karte ist innerhalb des Urban Complexity Labs an der FH Potsdam entstanden. Sie wurde gemeinsam mit den Historikern entworfen und an der FH Potsdam von Fabian Ehmel gemeinsam mit Marian Dörk und Viktoria Brüggemann entwickelt. Mehr zu dem Projekt und der Forschung am UCLAB finden Sie auf der Webseite der FH Potsdam (in englischer Sprache).
Das Verzeichnis der Gewalttaten gegen jüdisches Leben in Deutschland von 1930-1938 ist als langfristiges Forschungsprojekt angelegt, an dem sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen können.
Dazu kann man über ein Onlineformular unkompliziert weitere Fälle einreichen. Wichtig ist es, einen Beleg zu liefern, also eine stichhaltige historische Quelle. Die eingereichten Übergriffe werden von den Forschenden verifiziert. Ist der Fall historisch belegbar, findet er Eingang in den Datenbestand des Jüdischen Museums Berlin.
Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum ist seit dem 23. August 2020 täglich für Besucherinnen und Besucher geöffnet. Die interaktive Karte findet sich, neben zahlreichen Gesetzestexten aus dieser Zeit, im „Epochenraum Katastrophe”.
Adresse: Jüdisches Museum Berlin, Lindenstr. 9-14, 10969 Berlin
Eintritt: 8 Euro regulär, 3 Euro ermäßigt, Kinder bis 18 Jahre kostenlos
Corona-bedingt ist der Eintritt zur Zeit nur mit Zeitfenster-Ticket möglich, das im Online-Shop des Museums erhältlich ist.
Mehr Infos unter jmberlin.de