Artikel teilen
teilen
Berlin sieht schwarz
Die neuen politischen Grenzen der Hauptstadt
Verdammt, immer zu werden und nie zu sein. So beschreibt ein berühmtes Zitat Berlin. Nun ist die Stadt mal wieder anders geworden, und zwar schwarz. Bei der Wiederholungswahl 2023 ging ein knappes Drittel der Stimmen an die CDU. Das historisch gute Wahlergebnis für die Christdemokraten macht neue politische Grenzen innerhalb Berlins sichtbar. Eine kiezgenaue Analyse.
Vor allem in den Außenbezirken haben die Christdemokraten im Vergleich zu 2021 stark hinzugewonnen. Hier war die CDU schon vorher beliebter als in den Innenstadtbezirken. Der Trend hat sich 2023 deutlich verstärkt.
Verhärten sich die Fronten bei der Verkehrswende? Ist den Menschen in Alt-Lübars die Wohnungsnot in Friedrichshain egal? Oder hat es etwas mit dem Alter zu tun? Betrachtet man die Kieze, in denen viele Menschen über 65 wohnen, erscheinen vor allem schwarze. Hätten nur alte Kieze gewählt, käme die CDU auf 36,6 Prozent. Das ist ein höherer Stimmenanteil als die CSU in München bei der Bundestagswahl erreicht hat.
Vor allem in Süd-Neukölln konnte die CDU punkten. Ausgerechnet in Franziska Giffeys Wahlkreis in Rudow verbuchte die CDU die höchsten Zugewinne mit bis zu 25 Prozentpunkten in einzelnen Stimmbezirken.
Die SPD hingegen verlor hier krachend – und das, obwohl Giffey gerne ihre Basisnähe betont und dort lange Bezirksbürgermeisterin war. In den zu ihrem Wahlkreis gehörenden Stimmbezirken fuhr die SPD einige ihrer größten Verluste ein. Giffeys politischer Aufstieg war lange untrennbar mit Neukölln verbunden. Der Abstieg der Berliner SPD könnte es auch bald sein.
Nur in einzelnen Ortsteilen Neuköllns ist die SPD noch stärkste Kraft. Einer davon ist die Gegend der High-Deck-Siedlung, wenn auch knapp. Auch hier gewann die CDU stark hinzu, bekam 28,6 Prozent der Stimmen gegenüber 12,6 in 2021 – trotz Vornamendebatte nach der Silvesternacht. Allerdings spiegelt das Wahlergebnis die hier Lebenden kaum wider: Die Wahlbeteiligung war mit 31 Prozent die niedrigste in ganz Berlin. Sie sank im Vergleich zu 2021 noch einmal um 16,3 Prozentpunkte. Die Menschen scheinen hier nicht das Gefühl zu haben, dass Landespolitik etwas für sie tut. Der Kiez hat eine hohe Quote an Migrant*innen und den höchsten Anteil an Hartz-IV-Empfänger*innen.
Die High-Deck-Siedlung liegt an einer unsichtbaren Grenze Berlins, die neue politischen Konflikte der kommenden Jahre bestimmen könnte. Nördlich der Ringbahn beginnt ein anderes Neukölln: dicht besiedelt, angesagt, gentrifiziert, teilweise migrantischer – und politisch grüner als im Süden der Stadt.
Innerhalb des Rings ist die politische Landschaft eine andere. Aber auch hier ändert sich etwas. Der als linksgrün verschriene Teil Kreuzbergs rund um das Kottbusser Tor hat nach dieser Wahl erstmals seit 2001 schwarze Flecken bekommen – ausgerechnet rund um den Oranienplatz, dem symbolischen Zentrum der ehemaligen Hausbesetzer*innenszene.
Die schwarzen Flecken könnten Ausläufer einer neuen politischen Grenze sein, die mit diesen Wahlen sichtbar wird: Berlins historische Mitte ist jetzt schwarz. In der Gegend rund um den Teil der Friedrichstraße, den die Grünen öffentlichkeitswirksam verkehrsberuhigen wollen, gewann die CDU. Ist sie die neue Protestpartei? Oder liegt es daran, dass die Bevölkerung sich ändert? Immerhin sind die Angebotsmieten in Mitte seit 2012 am drittstärksten gestiegen von allen Bezirken.
Weniger wohlhabend sind die Menschen am nordöstlichen Stadtrand. Der äußerste Zipfel von Marzahn-Hellersdorf ist Berlins AfD-Hochburg. Die Wahlbeteiligung ist niedrig, die Grünen kommen im Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf 1 auf 3,5 Prozent. Es ist der niedrigste Wert in ganz Berlin.
Hier leben zudem besonders wenige Menschen mit Migrationshintergrund. Allgemein macht der Blick auf den Migrationsanteil die alte Grenze innerhalb der Stadt sichtbar: den früheren Verlauf der Berliner Mauer.
Das Wahlverhalten in migrantischeren Kiezen unterscheidet sich allerdings nur mit Blick auf die AfD wesentlich von weniger diversen Nachbarschaften.
Die härteste politische Grenze jedoch verläuft nicht mehr entlang der ehemaligen Mauer, sondern entlang der Ringbahngleise. Wer wird sich um die politischen Konflikte kümmern, die sich entlang dieser Grenze in der Kiezstruktur niederschlagen? CDU-Spitzenkandidat Wegner Bürgermeister wäre wohl eher der Bürgermeister der Außenbezirke.
Die Regierende Bürgermeisterin der Innenbezirke wäre hingegen: Bettina Jarasch. Die circa 600.000 Wählenden innerhalb des Rings hätten die Grünen zur stärksten Kraft gemacht. Und die SPD? Die ist außen ähnlich beliebt wie in den Innenbezirken – nur eben auf sehr niedrigem Niveau.

Die Wahlergebnisse in der Karte zeigen die Zweitstimmen zur Berliner Abgeordnetenhauswahl für Urnen- und Briefwahl. Zusammen mit wahlbezirksgenauen Daten zu sozialen und demografischen Merkmalen lässt sich auf kleinster Ebene vergleichen, wie Nachbarschaften mit unterschiedlichen Bewohnern wählen. Die Daten stammen vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg.

Wo nur einige Kieze sichtbar sind – etwa mit vielen Menschen über 65, wenigen oder vielen mit Migrationshintergrund –, zeigen wir das Drittel der insgesamt 1507 Wahlbezirke mit dem höchsten bzw. niedrigsten Anteil an Personen mit diesem Merkmal.

In den Balkendiagrammen ist angegeben, wie viel Prozent der Stimmen die jeweiligen Parteien erhalten hätten, wenn nur in den angezeigten Stimmbezirken gewählt worden wäre.

Die Ergebnisse enthalten Urnen- und Briefwahlstimmen. Die so genannten Briefwahlbezirke bestehen aus mehreren Urnenwahlbezirken Stimmbezirken. Durch die Zusammenlegung können die Briefwahlstimmen einem Gebiet zugeordnet werden.

Das Team

Nina Breher
Text & Datenanalyse
Tamara Flemisch
Webentwicklung
Lennart Tröbs
Artdirektion
David Meidinger
Datenaufbereitung & Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Redigatur
Veröffentlicht am 16. Februar 2023.
Zuletzt aktualisiert am 20. Februar 2023.