Wut, Trauer, Entsetzen, Frust – Gründe zu demonstrieren finden sich viele. Auch in Berlin. 33.083 Demonstrationen und Versammlungen gab es von Januar 2018 bis Ende August 2023, das sind durchschnittlich 16 pro Tag.
Klicken Sie auf das Sechseck, um zu sehen, welche Demos in Ihrem Kiez besonders Viele auf die Straße brachten. Sie können nach Themen filtern und zoomen.
Die Karte basiert auf Polizeidaten zu Demonstrationen. Die Transparenz-Initiative „FragDenStaat“ hat sie per Informationsfreiheitsanfrage von der Berliner Polizei erhalten. Erstmals liegen diese Angaben für Berlin in dieser Genauigkeit für einen längeren Zeitraum vor. Das Tagesspiegel Innovation Lab hat sie ausgewertet und Berlins Protestlandschaft kartografiert. Dafür haben wir den Demos Themen zugeordnet, die seit August 2020 ebenfalls angegebenen Orte geokodiert und überprüft.
Ohne gezielte Nachfrage veröffentlicht die Polizei diese Daten aus ihrer sogenannten Veranstaltungsdatenbank nicht. Sie erlauben Rückschlüsse auf das Protestgeschehen in der Hauptstadt über die Zeit.
Berücksichtigt sind in der Auswertung alle Veranstaltungen. Bei den Angaben zu Teilnehmer*innenzahlen sind nur 73 Prozent der Demos enthalten, denn die Polizei zählt nicht bei allen nach. Bei großen Veranstaltungen handelt es sich bei den Zahlen um Schätzungen, die Beamten orientieren sich etwa „an einer statistischen Personenzahl, die auf einer bestimmten Fläche Platz hat“, teilt die Polizei auf Anfrage mit. Schätzungen der Veranstalter*innen liegen häufig höher.
Zunächst fällt auf: Berlins Protestkultur ist lebendig. Die Zahl der Demo-Teilnehmer*innen ist, abgesehen von Einbrüchen während der Corona-Lockdowns, seit 2018 ziemlich konstant. Aber es gibt mehr Demos.
Das könne ein verschleppter Pandemie-Effekt sein, sagt Swen Hutter, Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung. Er forscht zu politischen Bewegungen. Der Demo-Zuwachs bei stagnierenden Gesamt-Teilnehmendenzahlen könne „darauf verweisen, dass nach der Pandemie noch nicht wieder viele Massendemonstrationen stattfanden“.
Ein Drittel aller Demos finden in Berlin-Mitte statt. Rund um das Brandenburger Tor, Kanzleramt und Co. ist Berlin stellvertretender Ort für ganz Deutschland. Hier fanden auch die größten Demos der vergangenen Jahre statt.
Die ersten drei Plätze belegt der jährliche Christopher Street Day. Seit 1979 gehen queere Menschen für Akzeptanz und gleiche Rechte auf die Straße. Auf Platz vier steht die „Rave the Planet“-Technoparade, die 2023 als Demonstration angemeldet war und Liebe, Frieden sowie den Schutz von Kulturstätten forderte.
Auf Platz sechs folgt die „unteilbar“-Demo gegen Rassismus 2018, organisiert von einem Bündnis gegen Rassismus und für die Aufnahme Geflüchteter. Die Organisator*innen rechneten mit 40.000 Menschen. Am Ende kamen 240.000.
Mit ihren „Fridays for Future“-Demos hatte die Klimabewegung offenbar 2019 die größten Erfolge – und kommt seitdem nicht mehr auf so große Zahlen bei einzelnen Veranstaltungen: Beide „Fridays for Future“-Demos, die es in die Top 10 geschafft haben, fanden 2019 statt.
Fast alle Riesendemos der vergangenen Jahre passierten samstags, es ist ohnehin der beliebteste Tag für Demonstrationen. Die häufigste Startzeit für Demos ist 14 Uhr, die häufigste Endzeit 20 Uhr. Die meisten Veranstaltungen gibt es im Monat Juli.
Die Masse der Demos findet in Berlin-Mitte statt. Aber abgesehen von Ministerien, Großem Stern und weiteren symbolträchtigen Orten gibt es lokale Zentren, häufig rund um das Rathaus der einzelnen Bezirke. Das gilt zum Beispiel für Köpenick, Lichtenberg und Spandau. In Neukölln ist es neben dem Rathaus der Hermannplatz, in Kreuzberg sind es Oranienplatz und Kottbusser Tor.
Neben wichtigen Orten gibt es wichtige Wege. Fast in jeder Ecke der Stadt existieren Routen, die besonders häufig abgegangen werden. Um die politischen Trampelpfade der Stadt zu finden, haben wir für das Jahr 2022 die Routen von Demonstrationen ausgewertet.
Es ist die erste Analyse dieser Art für Berlin. Sie zeigt, was sonst ignoriert wird: Demos sind räumliche Politik, die Route bedeutet den Protestierenden etwas – und sie entscheiden darüber, wer in der Stadt überhaupt etwas mitbekommt von den Protesten.
In Gegenden mit ingesamt wenig Demos hat ein Thema oft besonders mobilisiert: Corona. Dazu fanden in Reinickendorf, dem Bezirk mit den wenigsten Demos, verhältnismäßig viele Veranstaltungen statt. Es ist das Thema, für das im Bezirk am zweitmeisten Menschen auf die Straße gingen – in den meisten anderen Bezirken rangiert das Thema weiter hinten.
Auch mit Blick auf Gesamtberlin war die Pandemie eine Neuerung in der Protestkultur der Stadt. Denn Demos mit Corona-Bezug – ob für oder gegen Maßnahmen – finden tendenziell ferner vom Zentrum statt als andere Demos. Das Thema bestimmte seit Mitte 2020 das Geschehen in den Außenbezirken maßgeblich mit, in den Innenbezirken ist es nur eines von vielen.
Das passe zur Entwicklung der Coronaproteste in ganz Deutschland, sagt Hutter. „Nach anfänglichen Massendemonstrationen in den Großstädten wie Berlin, Stuttgart, Leipzig kam es auch bundesweit zu einer stärkeren Dezentralisierung der Proteste.“ Das habe teilweise am Verbot großer Demos während der Pandemie gelegen. Andererseits spiegele es die andersartige Mobilisierung, „die oftmals auch Milieus umfasste, die nicht zu den gängigen Protestierenden zähl(t)en.“ Corona mobilisierte eine neue Gruppe Demonstrierender.
Nicht nur Themenschwerpunkte unterscheiden sich nach Bevölkerung des Kiezes. Auch für welche Länder demonstriert wird unterscheidet sich stark. Um Türkei-Themen geht es in den migrantisch geprägten Bezirken Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg besonders häufig. Neukölln ist zudem Hochburg von Palästina-Demos in Berlin.
Im Osten Berlins, wo zu DDR-Zeiten viele Menschen aus Vietnam einwanderten, wird häufiger mit Vietnam-Bezug demonstriert – sichtbar zum Beispiel in Lichtenberg. Im alten Westen, zum Beispiel in Charlottenburg-Wilmersdorf, sind Iran-Themen wichtiger. Im ehemaligen Westdeutschland ist die iranische Community größer als im ehemaligen Osten.
Die Länder-Schwerpunkte in Bezirken zeigen die „starke Internationalisierung des Protestgeschehens“ bei einer gleichzeitigen lokalen Verankerung, sagt Hutter.
Viele Demos gab es seit 2018 mit China-, USA-, Russland, Ukraine-, Iran- und Türkeibezug. Afrikanische und zentralasiatische Länder hingegen spielen kaum eine Rolle.
Von allen Demonstrationen 2022 war der 44. Christopher Street Day die größte. 350.000 Menschen demonstrierten und feierten für die Gleichberechtigung sexueller Orientierungen, begleitet von 95 Paradewagen und Fahrzeugen.
Andere Demos sind weniger groß, aber umso länger. 73 Kilometer fuhr ein Autokorso von der Marzahner Promenade bis zum Pariser Platz. Er richtete sich gegen „Nato-Scholz“, forderte Friedensverhandlungen mit Russland und etliches mehr. Selbst eine angeblich „künstlich inszenierte Inflation“ fand Erwähnung im Demo-Titel.
Noch mehr Strecke legte die 47. ADFC-Fahrradsternfahrt im Juli 2022 zurück, nämlich 1023 Kilometer – wenn man alle 18 Zubringer-Routen addiert. Nach Veranstalter-Angaben nahmen 30.000 Menschen teil.
Aber auch zu Fuß gehen einige recht weit. Nachdem ein Mann aus einem Bus geschmissen wurde, weil er sich weigerte, eine Maske zu tragen, lief er im Juni 2022 aus Protest rückwärts die Busstrecke ab. Begleitet von einem Trabi mit Anhänger legte er dabei beeindruckende 21,3 Kilometer zurück.
Ähnlich lang, aber etwas besser besucht, war eine Gegendemonstration im Mai. Sie richtete sich gegen einen Autokorso zum Thema „Gesundheitsfaschismus“. Nicht alle Demonstrationen haben derart deutliche Titel: Jeden Donnerstag versammeln sich an verschiedenen Orten Berlins „Menschen mit Schildern“.
Eine Demonstration für Demonstrationen?
Nein. Es handelt sich um Gegner*innen von Coronamaßnahmen, die noch immer mehr oder weniger regelmäßig auf die Straße gehen. Meist erscheinen zwischen zehn und 30 Menschen. Das Thema mobilisiert scheinbar in ähnlichem Maße wie ein anderes wichtiges Anliegen: Zur „Mahnwache gegen Farbfernsehen” erschienen am 21. Januar diesen Jahres 20 Menschen auf dem Alexanderplatz.
Die Daten stammen aus der Veranstaltungsdatenbank der Polizei Berlin. Die Informationsfreiheits-Anlaufstelle „FragDenStaat“ hat sie erfragt. Die Polizei wollte sie zunächst nicht herausgeben, sondern tat es erst, nachdem FragDenStaat nachwies, dass die Daten aus der Datenbank exportiert werden können. Das taten die Informations-Aktivist*innen, indem sie zunächst die Anordnung erfragten, in der die Polizei den Umgang mit der Datenbank regelt.
Mit den Daten von Januar 2018 bis Mitte Juli 2020 hat „FragDenStaat“ mit Datenvisualisierungs-Expert*innen von „webkid“ eine Analyse veröffentlicht.
Die Daten von Januar 2018 bis Mitte Mai 2023 hat FragDenStaat dem Tagesspiegel Innovation Lab zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Die Daten von Mitte Mai bis Ende August 2023 haben wir zusätzlich bei der Berliner Polizei angefragt.
Um die Demo-Daten auswertbar zu machen, haben wir allen Demos eines oder mehrere Themen zugeordnet - teilweise automatisch mithilfe von Schlagwort-Listen, deren Ergebnisse wir überprüft haben, teilweise händisch. Bei der Klassifizierung der Themen haben wir uns weitgehend an einer Taxonomie des Wissenschaftszentrums Berlin orientiert.
Ist eine Demo mehreren Themen zugeordnet, werden die Teilnehmer*innen mehrfach gezählt. Eine Veranstaltung, die sich mit der iranischen Frauenbewegung solidarisiert, zählt zum Beispiel sowohl zum Thema internationale Politik (Unterthema: Außenpolitik) als auch zum Thema Bürgerrechte (Unterthema: Frauen und Frauenrechte).
Um mehr über die Orte von Demonstrationen zu erfahren, haben wir die Adressen und Straßennamen von Kundgebungen und Demonstrationen geokodiert. Für das Jahr 2022 haben wir die Routen aller sich bewegenden Demos nachgezeichnet. In der interaktiven Karte sind die Startpunkte der Demos vermerkt.
Da eine Demo zwischen einem und 350.000 Teilnehmer*innen haben kann, ist die Zahl der Veranstaltungen allein nur begrenzt aussagekräftig. Deshalb haben wir das Demo-Geschehen zusätzlich nach Teilnehmer*innen ausgewertet. So lässt sich ein realistischeres Bild davon gewinnen, wie stark welche Themen mobilisieren.
Aber auch diese Zahlen haben Einschränkungen: Die Polizei zählt insgesamt nur rund 73 Prozent aller Demos, große Veranstaltungen haben statistisch betrachtet eine etwas größere Chance, gezählt zu werden. Der 73-Prozent-Anteil der gezählten Demos bleibt über die Jahre mehr oder weniger konstant, bloß während des ersten Corona-Lockdowns gab es einen kurzzeitigen Einbruch. Die Polizei teilt auf Anfrage mit, die Entscheidung, bei einer Veranstaltung nachzuzählen oder zu -schätzen, erfolge nicht nach Thema oder Größe der Veranstaltung.
Es ist möglich, dass nicht alle bekannten Teilnehmer-Zählungen in der Datenbank vorhanden sind. Die Polizei geht von einer Fehlerquote von unter einem Prozent aus, teilte sie auf Anfrage mit. Beim jährlich stattfindenden Christopher Street Day etwa haben wir Teilnehmer-Zahlen für die Jahre 2019 und 2022 bei der Polizei separat erfragt und ergänzt. Für den CSD 2023 liegen keine konkreten Zahlen vor, hier ist seitens Veranstalter und Polizei lediglich von „mehreren Hunderttausend“ die Rede. Für diesen Einzelfall haben wir 200.000 Teilnehmer*innen angenommen.
Auch den Fridays-for-Future-Klimastreik von 2022 haben wir in den Daten ergänzt. In den Polizeidaten waren versehentlich 36 statt 36.000 Teilnehmende vermerkt.
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