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Studentenwohnheime im Visier der Investoren

Das Geschäft mit den Studierenden

Von Madrid über Berlin bis Warschau: Der Bau von Wohnheimen boomt. Denn Wohnraum in europäischen Metropolen wird immer knapper. Wo besonders viele privat betriebene Studierenden-Unterkünfte entstehen – und was das für Städte bedeutet.
Von Madrid über Berlin bis Warschau: Der Bau von Wohnheimen boomt. Denn Wohnraum in europäischen Metropolen wird immer knapper. Wo besonders viele privat betriebene Studierenden-Unterkünfte entstehen – und was das für Städte bedeutet.

In Dublin schlagen Erstsemester Zelte auf dem Campus auf. In Bologna – der ältesten Universitätsstadt Europas – schlafen Studierende einige Nächte am Bahnhof, weil sie keine Zimmer finden. Und in Berlin gibt es gerade einmal für 5,32 Prozent der Studierenden einen öffentlichen Wohnheimplatz – die niedrigste Versorgungsquote deutschlandweit.

Zusammen mit der Wohnungsnot erlaubt das privaten Wohnheimen, Quadratmeterpreise von bis zu 50 Euro verlangen. Der Markt, der entsteht, wirkt noch entfesselter als der normale Mietmarkt.

Die Wissensgesellschaft drängt in die Städte

Deutschland, Spanien, Irland und viele weitere EU-Staaten haben nie im großen Stil staatliche Wohnheime errichtet, wie es zum Beispiel Finnland getan hat. Gleichzeitig kamen immer mehr Studierende in Europas Großstädte. Allein von 2013 bis 2020 wuchs die Zahl der Eingeschriebenen in der gesamten EU um 8,8 Prozent – von 16,6 auf 18 Millionen. Das zeigen Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Aber das Wachstum ist kein homogenes.

Außerdem werden Studierende mobiler. Zwischen 2013 und 2018 stieg die Zahl der internationalen Studierenden in Europa um 24 Prozent, hat die UNESCO errechnet. Sie brauchen besonders dringend Wohnraum und sind besonders abhängig: Wer an einem anderen Ort studiert, kann nicht notfalls erst einmal bei den Eltern wohnen bleiben.

Die Zunahme an Studierenden ist politisch gewollt. Europa ist auf dem Weg zur mobilen Wissensgesellschaft. Aber wo sollen all die Studierenden hin, die man rief? In fast allen großen Städten Europas ist Wohnraum in den vergangenen zehn Jahren knapper und teurer geworden.

Dieser Text ist der erste Teil unserer neuen Recherche zu studentischem Wohnen in Europa. Du studierst? Hilf’ uns bei der Recherche! Mach’ mit bei unserer Umfrage zur Wohnungssituation von Studierenden:

Ein Teufelskreis: Mehr Studierende kamen, was den Anstieg der Mieten begünstigte. Weniger davon als früher ziehen anschließend zurück an ihren Geburtsort. Und die Staaten und Städte schafften zwar mehr Studienplätze, aber keinen zusätzlichen Wohnraum. Dazu kommt eine zunehmende Zentralisierung von innereuropäischer Migration in bestimmte Groß- und Hauptstädte.

Wo der Staat versagt, sehen Investor*innen eine Chance. Denn während der Mangel an Wohnraum mittlerweile das Recht auf ein Studium am Wunschort gefährdet, werden private Wohnheime zum beliebten Anlage-Objekt. Vermarkter*innen bewerben die Wohnblöcke als lukratives Investment, versprechen exklusives Wohnen auf kleinem Raum, manchmal mit Pool und Fitnessstudios.

Entsprechend hoch sind die Quadratmeter-Preise. Investment-Beratungen versprechen gute Renditen und betonen, der Markt habe selbst die Pandemie gut überstanden: 2020 gingen die Buchungen zwar um fünf bis zehn Prozent zurück, aber schon 2021 waren sie zurück auf vorpandemischem Niveau. In den Markt flossen in den vergangenen Jahren Milliarden.

Vorreiter Großbritannien

Die kleinen Wohnheim-Apartments werden besonders attraktiv, wo Wohnraum knapp ist. Großbritannien hat diese Entwicklung schon hinter sich. Die Mieten sind hoch, die Zahl guter Unis ebenfalls, es ist heute der größte Markt für Wohnheime: Hier gibt es die meisten Betten im Verhältnis zu Studierenden. Laut der London School of Economics solle man mindestens 1300 Pfund (etwa 1500 Euro) pro Monat für eine studentische Unterkunft in London einplanen, laut dem privaten Anbieter „Casita“ sogar bis zu 2000 (etwa 2300 Euro).

Im Vereinigten Königreich sitzen auch die größten Investoren, die auf den Markt mit Studi-Wohnheimen setzen. Der europaweit größte Anbieter „Unite Students“, Teil von „The Unite Group“, ist ein in Bristol gegründetes Unternehmen, das fast 75.000 Betten verwaltet. Es folgen die Londoner Unternehmen University Partnership Programme (42.000 Betten) und iQ Student Accommodation (32.000), letzteres ist im Besitz des Investmentfonds Blackstone, der auch Tausende Wohnungen in Berlin besitzt.

Großbritannien zeigt, was anderen europäischen Ländern womöglich bevorsteht. Die britische Investitionsberatungsfirma Select Property Group verspricht auf ihrer Website „die höchsten Erträge und die stabilste Nachfrage“. Auch für Berlin wird das mittlerweile versprochen. Das Münchner Unternehmen „Campus Viva“, das Wohnheime in Berlin und anderen deutschen Städten betreibt, verkauft einzelne Wohnungen an Kleinanleger*innen. Auf seiner Website verspricht es „begehrte, renditestarke Immobilien mit Rundum-Sorglos-Paket“. Wer eine der inzwischen ausverkauften Wohnungen erworben hat, erhält den Service dazu – Vermietung, Verwaltung, Staffelmietverträge für Bewohner*innen.

Daten aus den Portfolien zeigen: Mit einem Investment in den Sektor verdient man im Durchschnitt gut, oft besser als mit dem Bauen einer normalen Mietwohnung.

Für Berlin nennt Savills eine Rendite von 3,3 Prozent: knapp unter dem gesamteuropäischen Durchschnitt für Investitionen in Wohnungen, aber immer noch lukrativ.

Kurze Verträge, hohe Erträge: Vom Wohnheim zum Langzeit-Hotel

Rechtlich sind die neuen Wohnheime meist normale Apartment-Komplexe, Investor*innen und Expert*innen nennen den Sektor „Micro-Living“: kleine Wohnungen in guten Lagen, möbliert und für kurze Zeiträume vermietet. Mit ihnen lassen sich höhere Quadratmeterpreise erzielen. Weil die Verträge oft wechseln, können Mieten unkomplizierter erhöht werden.

Die Kundschaft ist zahlungskräftig: Nicht alle Studierenden sind arm, 52 Prozent von ihnen haben Akademiker*innen als Eltern, wie aus der Sozialerhebung des Studentenwerks hervorgeht, während der Anteil der Akademiker*innen in der Gesamt-Bevölkerung laut Statistischem Bundesamt nur 18,5 Prozent beträgt. Die oft überdurchschnittlich wohlhabenden Eltern finanzieren das Studium und freuen sich über die komfortablen, beschützt wirkenden Wohngelegenheiten. Hinzu kommt: Wenn man nicht lange an einem Ort bleibt, ist teuer mieten oft günstiger als lange zu suchen und eigene Einrichtung zu kaufen. Wer es sich irgendwie leisten kann und keine Alternative hat, zieht ein.

Im „Neon Wood“ in Berlin-Friedrichshain kostet der Quadratmeter 50,23 Euro inklusive Nebenkosten, 200 Euro Buchungsgebühr kommen noch dazu. Im „i-Live“ in Neukölln, dessen Bau am Tempelhofer Feld in den letzten Zügen steckt, wird der Quadratmeter einer Standard-Wohnung 34,04 Euro kosten, plus eine einmalige 295-Euro-„Community Fee“ für vom Wohnheim organisierte Partys. Die anteilige Nutzung der Gemeinschaftsräume ist in den Quadratmeter-Preisen nicht berücksichtigt.

Da die kleinen Apartments zwar oft als Studi-Wohnheime vermarktet werden, aber keinerlei Bindung haben, nur Studierende aufzunehmen, treten sie mit anderen Young Urban Professionals in Konkurrenz.

„Wir bewegen uns auf einen Hotelcharakter zu“, sagt Professor Thomas Beyerle, Head of Research für den schwedischen Projektentwickler Catella. Längst wohnten in den Einrichtungen nicht mehr allein Studierende. „Europaweit 20 bis 25 Prozent derjenigen, die in den Wohnheimen leben, sind junge Erwerbstätige: die typische Klientel mit Trolleykoffer, die zwischen München und London pendelt.“ Diese zusätzliche Zielgruppe hätten Investoren „schnell erkannt“.

Das Geschäft boomt. In Paris, London, Leeds, Bristol, Berlin und Dublin befinden sich derzeit besonders viele private Wohnheime im Bau oder in Planung.

Mailand, Lissabon, Amsterdam und Barcelona folgen anscheinend zügig nach: Hier entstehen – abgesehen von Großbritannien – derzeit die meisten privaten Wohnheim-Betten.

Aus der Industrie ist zu hören, Berlin sei ein funktionierender Markt, in dem Nachfrage und Angebot in einem guten Verhältnis stünden. Deutschlands Studierendenwerk-Generalsekretär Matthias Anbuhl spricht hingegen von einem „gewaltigen strukturellen Defizit“ ausreichend bezahlbarer Wohnungen: „Das ist eine der entscheidenden politischen Fragen unserer Zeit.“

Das Gesamt-Investitionsvolumen ist in UK, Spanien, Frankreich und Deutschland am größten.

Nach den offensichtlichen europäischen Unistädten werden die Firmen inzwischen auch ein Auge auf andere Regionen. Die junge Bevölkerung wächst in zentral- und osteuropäischen Städten am stärksten, besonders in Prag, Warschau, Breslau, Krakau und Berlin, berichtet Savills, eine britische Immobilien-Beratungsfirma. In vielen davon, etwa in Warschau, Prag und Krakau, steige die Zahl der Studierenden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich an.

Die Mieten für Studentenwohnheime steigen in Osteuropa zudem schneller als anderswo: in Litauen am stärksten (44,3 Prozent), gefolgt von Lettland (19,6 Prozent), Polen (13,6 Prozent) und Tschechien (13,5 Prozent). Das berichtet Bonard, ein Unternehmen, das sich auf Investment-Beratung für Wohnheime spezialisiert hat, in einem Bericht.

In Polen etwa sei der Markt „erst im Entstehen begriffen“, sagt Julia Momotiuk von Bonard. „Hier haben die Betreiber mehr Spielraum für Mieterhöhungen – anders als auf wettbewerbsintensiveren Märkten wie Deutschland, wo die Betreiber vorsichtiger sind und auf die Konkurrenz achten.“

In vielen zentral- und osteuropäischen Ländern wohnen bisher noch nicht besonders viele in Wohnheimen. Das könnte sich ändern, sobald der Wohnungsmarkt angespannter ist – Studierende mit ihrem niedrigen Einkommen haben auf ihm geringere Chancen als Berufstätige, erst recht, wenn sie sich vor Ort nicht auskennen.

Von Stadtversagen und Staatsversagen

Der Markt für studentisches Wohnen hat das Potenzial, die Städte zu verändern, in denen er sich ansiedelt. „Seit 2007 verzeichnen deutsche Hochschulen einen massiven Zuwachs an Studierenden. Bloß die soziale Infrastruktur ist nicht mitgewachsen. Das wird nun zum Problem“, sagt Deutschlands Studentenwerk-Direktor Matthias Anbuhl. Türme mit Wohnheim-Apartments bringen allerdings so viel mehr Einnahmen pro Quadratmeter Bauland, dass sie lukrativer zu bauen sind als größere Wohnungen, in die WGs oder Familien einziehen könnten.

Die Privaten, die die Lücke füllen, sind im Zeitvorteil. Genehmigungen, Planung, Förderungen, Zuschüsse wollen im Fall einer öffentlichen Finanzierung organisiert und mit der Politik verhandelt werden. Die privaten Investoren rücken nach, können mit Eigenkapital bauen und auf dem freien Markt um das begehrte Bauland einfacher mithalten.

Ist das ein Problem? Die einen sagen, teure Wohnheime entlasten den angespannten Markt. Wer Geld hat, mietet dort und konkurriert nicht um die günstigeren Wohnungen. So zumindest die Theorie. Die andere Perspektive ist: Wo teure Wohnheime entstehen, steigen die Durchschnitts-Mieten und mit ihnen die Preise in den umliegenden Cafés, Bars und Geschäften.

Familien mit weniger Geld können sich die Gegend irgendwann nicht mehr leisten, oder müssen immer größere Teile des Einkommens ausgeben. Wenn die Kinder dieser Familien irgendwann zum Studieren in eine andere Stadt wollen, wird das schwer bezahlbar. Denn Bafög reicht für die neuen privaten Wohnheime nicht aus.

Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator produziert. Es ist ein Netzwerk europäischer Medien, das sich der Recherche gemeinsamer Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert. In unserer neuen Recherche widmen wir uns dem Thema Student Housing. Dies ist der erste Teil der europäischen Investigation.

Das Team

Lorenzo Bagnoli
Recherche-Koordination
Eric Beltermann
Entwicklung Backend und Visualisierungen
Nina Breher
Recherche-Koordination
Alice Facchini
Recherche und Text
Tamara Flemisch
Entwicklung Backend und Visualisierungen
Kirk Jackson
Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Projektkoordination Visualisierung und Daten
David Meidinger
Entwicklung Backend und Visualisierungen
Kilian Rüß
Datenrecherche
Lennart Tröbs
Datenvisualisierung und Illustration
Helena Wittlich
Redigatur
Veröffentlicht am 21. Dezember 2022.