Als letzten Dienstag der neue Bundestag das erste Mal zusammenkam, herrschte Trubel. Man traf sich wieder oder lernte sich kennen. Aber nicht alle Abgeordneten durften im Plenarsaal Platz nehmen. Denn wer nicht geimpft war oder einen Corona-Schnelltest verweigerte, musste von der Zuschauertribüne zusehen. Alle 23, auf die das zutraf, waren von der AfD.
Ob Eilantrag gegen die Maskenpflicht oder die Rede vom „Lockdown-Wahnsinn“ – die Partei äußert sich zur Pandemie und ihren Folgen oft und zumeist provokant. Weniger klar ist, warum die AfD in vielen von Corona stark betroffenen Landkreisen häufig besonders stark ist. Im Verlauf der Pandemie kam immer wieder die Frage auf, ob starke AfD-Ergebnisse und hohe Coronazahlen zusammenhängen. Sehr detaillierte Wahlergebnisdaten zeigen: Der Effekt ist auch bei der Bundestagswahl 2021 sichtbar.
Vor allem in Ostdeutschland gewann die AfD überdurchschnittlich viele Stimmen hinzu, wo es insgesamt viele Coronafälle gab. Auf unserer Karte können Sie das beobachten und selbst hin- und herschalten.
Die Partei schnitt in Landkreisen mit vielen Infektionen und vielen Coronatoten oft besser ab als in jenen mit wenigen. Aber Vorsicht ist geboten: Um auszuschließen, dass das Zufall ist oder beides von etwas anderem beeinflusst wird, bräuchte es ausführliche Studien. Die gibt es noch nicht. Wir wollen diese Auffälligkeit also lediglich erst einmal zeigen.
Die Corona- und Wahlkarten ähneln sich. Dunkelblau eingefärbte Landkreise werden zu dunkelroten, hellblaue zu hellroten: Wo viele AfD-Wähler:innen leben, sind zumeist überdurchschnittlich viele Infektionen zu verzeichnen – und umgekehrt.
Dieser Zusammenhang („Korrelation“), der auch rechnerisch nachweisbar ist, sagt noch nichts darüber aus, ob das eine das andere verursacht („Kausalität“). Schlussfolgerungen lassen sich daraus deshalb nur sehr begrenzt ziehen.
Halten AfD-Wähler:innen sich womöglich weniger an Maßnahmen und infizieren sich häufiger, macht die rechte Parteipräferenz eine Region also anfälliger für Corona? Führen hohe Fallzahlen zu einem hohen Anteil AfD-Wählerschaft? Oder gibt es ganz andere Faktoren, die beides erklären?
Es gibt mehrere Ursachen, die eine Schlüsselrolle spielen könnten.
1. Die geografische Lage
Das Virus kennt bekanntlich keine Grenzen. Lange waren viele der AfD-starken Landkreise die, die nah an Nachbarländern und angrenzenden Bundesländern mit hohen Inzidenzen liegen, etwa an Tschechien und Bayern. Das war vor allem im Winter so - und da in dieser Zeit besonders viele Coronafälle registriert wurden, fließen diese Fälle logischerweise auch stärker in die Summe der Fälle ein. Aber die Grenze könnte auch zu mehr Abgrenzung gegen andere führen – und folglich zu mehr AfD-Zustimmung. Wissenschaftliche Analysen haben beispielsweise gezeigt, dass die AfD in grenznahen Regionen schon vor Covid-19 besser abschnitt als woanders.
2. Das Sozialverhalten vor Ort
In den oft ländlichen Regionen im Osten funktioniert das soziale Leben möglicherweise anders als in Großstädten. Wer seine Nachbar:innen kennt und in Austausch mit ihnen steht, hält vielleicht weniger Abstand. Auch Armut, Bildung oder der Zustand der Infrastruktur könnten sowohl Wahlentscheidung als auch Infektionsgeschehen beeinflussen.
3. Die Altersverteilung
Gibt es viele alte Menschen in einer Region, erkranken womöglich mehr Menschen schwer als in Regionen mit jüngeren Menschen. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich testen lassen. Dann werden mehr Fälle registriert. Die fünf ostdeutschen Bundesländer sind zugleich die mit der ältesten Bevölkerung in Deutschland (Statistisches Bundesamt). Ein Indiz dafür wären auch die überdurchschnittlich hohen Corona-Todeszahlen in vielen Landkreisen, in denen auch die AfD gut abschnitt.
4. Die AfD hat die Pandemie befeuert
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass AfD-Wähler:innen die Fallzahlen tatsächlich in die Höhe treiben. Studien und Umfragen, etwa von Infratest dimap, legen nahe, dass AfD-Wähler:innen Maßnahmen häufiger ablehnen und sich seltener impfen lassen. Die drei Bundesländer mit dem größten Anteil Ungeimpfter sind Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Dabei könnte auch Desinformation eine Rolle spielen. An der Universität Leipzig haben Forscher:innen zum Beispiel herausgefunden, dass AfD-Wählende empfänglicher für Verschwörungserzählungen sind.
Wer dem Staat skeptisch gegenübersteht, könnte womöglich seine politische Heimat eher bei der staatskritischen AfD sehen – und sich zugleich vom Staat nicht vorschreiben lassen wollen, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. Das ist aber nur eine Theorie von vielen.
5. Leichtsinn
Eine weitere mögliche Erklärung ist äußerst menschlich: Leichtsinn. Landkreise im Osten Deutschlands, in dem nun einmal viele AfD-Anhänger:innen wohnen, waren in der ersten Welle kaum betroffen, im Winter dann aber umso stärker. Eine Theorie dazu ist, dass die Leute sich wegen der schwachen ersten Welle in der nächsten nicht gut an Maßnahmen hielten – sie hatten die Folgen des Virus noch nicht selbst erlebt. Dieses Argument nannten Epidemiolog:innen mit Blick auf starke zweite Infektionswellen in Mittel- und Osteuropa, zum Beispiel auch in Tschechien und Polen. Dass sich das in den Zahlen niederschlägt, ist gut möglich.
Um auszuschließen, dass die Überschneidung nur ein punktueller Zusammenhang im Winter war, müsste man zum Beispiel Steigerungsraten zu verschiedenen Zeitpunkten berechnen, was schwer ist, weil eben nicht häufig gewählt wird. Und um insgesamt mehr über die möglichen Gründe für den AfD-Corona-Zusammenhang herauszufinden, müsste man genauere Befragungen vor Ort anstellen.
Schaltet man in der Karte auf „Zugewinn oder Verlust seit 2017“, zeigt sie, wo die AfD besonders hinzugewonnen hat. Zum Beispiel im Saale-Orla-Kreis. Hier wählten 2017 26,6 Prozent AfD, 2021 waren es 31,4. Ein Zugewinn von 4,8 Prozentpunkten. Mit 8304 Coronafällen pro 100.000 ist der Kreis besonders stark von der Pandemie betroffen.
Ganz anders im Westen Deutschlands. Da sticht die Stadt Offenbach hervor. Vergleichbar viele Menschen wie im Saale-Orla-Kreis hatten hier das Virus: 8278 pro 100.000. Aber die AfD verlor 4,1 Prozentpunkte und liegt jetzt bei 7,9 Prozent. Offenbar profitiert die AfD in manchen Gegenden mit hohen Fallzahlen, in manchen verliert sie Stimmen. Die folgende Tabelle zeigt, wo was der Fall war.
Während die AfD im Osten in Landkreisen mit mehr Corona-Fällen oft hinzugewinnen konnte, verlor sie im Westen in ebensolchen Regionen häufig. Im Osten ist es meist umgekehrt – viel Corona, hoher AfD-Zugewinn. Diese Korrelation lässt sich auch berechnen. Aber der Effekt ist im Osten nicht ganz so deutlich zu erkennen wie der umgekehrte im Westen.
Für unsere Schlussfolgerungen haben wir nicht nur die absoluten Wahlergebnisse, sondern auch die Differenzen der Wahlergebnisse zwischen 2017 und 2021 zur Grundlage genommen. In der Wissenschaft wird das „Difference-in-Difference-Analyse“ genannt.
Da das Coronavirus erst zwischen den Wahlen 2017 und 2021 auftrat, lassen sich durch die Stimmgewinne und Verluste manche Drittfaktoren ausschließen, die den Zusammenhang zwischen dem Virus und dem Wahlverhalten erklären könnten. So unterscheiden sich Landkreise in Deutschland z. B. stark nach ihrer Wirtschaftsstruktur. Während der Süden oft von starker Industrie geprägt und dementsprechend reich ist, gibt es gerade im Osten viele strukturschwache Gebiete. Das könnte den Zusammenhang zwischen den Virusfallzahlen und dem Wahlverhalten verfälschen. Betrachtet man jedoch die Stimmengewinne und -verluste wird dieses Problem weniger gravierend. Dadurch kann man Störfaktoren besser ausschließen, die sich über die Zeit nicht oder nur wenig verändern. Das ist beispielsweise bei der Wirtschaftsstruktur der Fall. Man kann so zwar auch keine definitiven Schlüsse ziehen, wie genau Coronainfektionen und AfD-Wahlergebnisse zusammenhängen. Immerhin kann man damit aber ein bisschen informierter über diesen Zusammenhang mutmaßen, als würde man nur einen Zeitpunkt und ein Wahlergebnis betrachten.
Ein Argument dagegen, dass der Unterschied einfach an der Sozialstruktur liegt: Sie verändert sich – zumindest mit Blick auf manche Aspekte – derzeit nicht ungleich in Ost und West. Laut Statistischem Bundesamt wirkt sich die Corona-Krise auf die Wirtschaft in Ost und West ähnlich aus. Auch die psychische Gesundheit hat sich laut Forscher:innen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung während der Pandemie in Ost und West wenig verändert.
Andere Faktoren hingegen – zum Beispiel Geschehnisse im Politikbetrieb und in der Gesellschaft – bleiben weiterhin unberücksichtigt. Ein Beispiel: Wenn die AfD sich zu Armut äußert, kann es sein, dass Menschen im Osten das anders rezipieren als Menschen im Westen. Aber Armut mag im Osten auch der Grund dafür sein, warum es mehr Coronafälle gab.
Ist Corona nun also der Grund dafür, dass die AfD im Westen Stimmen verlor, im Osten aber Stimmen gewonnen hat? Manches deutet in unseren Analysen darauf hin, anderes aber nicht.
Haben also höhere Coronazahlen zu mehr AfD-Stimmen geführt oder umgekehrt? Definitiv sagen lässt sich beides weiterhin nicht. Denn dafür müsste man ausschließen, dass ein dritter Faktor beides erklärt. Schließlich ist die Partei in den neuen Bundesländern erfolgreicher, hat in den westdeutschen Bundesländern im Vergleich zu 2017 aber mehr Stimmen verloren als im Osten. Es wäre denkbar, dass der AfD-Wahlkampf, der im Osten sichtbarer stattfand, sich häufig um Coronamaßnahmen drehte, zu weniger Einhalten der Coronamaßnahmen animiert hat.
Verschiedene Studien haben zudem herausgefunden, dass die Pandemie nicht die Ränder, sondern eher den politischen Mainstream stärkt. Und „Mainstream“ ist die AfD schließlich nicht.
Was dagegen spricht, ist ein anderer Fakt: Denn es gibt auch eine hohe Korrelation zwischen den Corona-Fallzahlen und den Zugewinnen der AfD bei der Bundestagswahl 2017 im Vergleich zur Wahl 2013. Das legt eher nahe, dass es in Landkreisen im Osten und in den Wahlkreisen im Westen nach wie vor eine sehr unterschiedliche politische Kultur gibt. Die könnte erklären, warum sowohl anders mit Corona umgegangen als auch anders gewählt wird. Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber immerhin geht es um Menschen und ihr Zusammenleben. Und das lässt sich nie ganz durch Zahlen erklären.