Illustration: Markus Günther für das Urban Journalism Network „Es macht mich müde“ Die Menschen, die Berlin am Laufen halten, können sich die Stadt kaum noch leisten Ohne Polizisten, Lehrer und Pfleger geht nichts. Doch manche überlegen, Berlin zu verlassen, weil Wohnen hier zu teuer ist. Finden Sie mit unserem interaktiven Tool heraus, für welche Berufe Berlin unbezahlbar wird.
Illustration: Markus Günther für das Urban Journalism Network

Noch sind sie nicht an ihrer Schmerzgrenze, sagt Sven.

Ein Hochbett im Schlafzimmer, eine Zwischendecke im Flur – das könnte der Familie ein paar Jahre mehr im Neuköllner Richardkiez verschaffen. Den Platz, der in der Zweizimmerwohnung knapp wird, seit ihr Sohn vor einem Jahr geboren wurde.

Doch mit drei Jahren soll er ein eigenes Zimmer bekommen. „Das ist doch kein luxuriöser Gedanke“, sagt Sven, der seinen vollen Namen hier nicht lesen will. „Aber für drei Zimmer müssten wir locker 500 Euro mehr zahlen.“ Irgendwann, sagt der 41-Jährige, werden sie Berlin deshalb verlassen.

Für die Hauptstadt ist das ein Problem. Als Sozialarbeiter zählt Sven zu den Menschen, ohne die Berlin nicht funktioniert. Und von denen schon jetzt zu wenige hier leben: Erzieher:innen, Pfleger:innen, Polizist:innen, Feuerwehrleute, Busfahrer:innen. Viele von ihnen können sich Wohnungsangebote in Berlin nicht mehr leisten. Und manche denken deshalb darüber nach, zu gehen.

Schätzen Sie: Welche Wohnungsgröße ist für einen Sozialarbeiter noch gut bezahlbar, sucht er aktuell in Berlin?

Wie Sven geht es vielen in Berufen, die Berlin am Laufen halten. In einer Umfrage unter Tagesspiegel-Leser:innen, die sich an Beschäftigte in systemrelevanten Berufen richtet, schreiben Menschen, sie wollten umziehen, fänden aber nichts Bezahlbares.

Eine Notruf-Sachbearbeiterin ist frustriert, weil sie täglich 90 Minuten zur Arbeit fährt. Ein Psychotherapeut sucht seit mehr als einem Jahr: „Umzug in günstigere Wohnung ist aussichtslos. Überlegen, Berlin zu verlassen.“

Eine Datenanalyse des Tagesspiegels und des „Urban Journalism Network“ zeigt: Hier sprechen nicht nur Einzelfälle. Die Menschen, ohne deren Arbeit die Stadt nicht funktionieren kann, finden in vielen Kiezen keine bezahlbare Wohnung mehr.

Für diese Recherchekooperation haben wir Angebotsmieten und Betriebskosten mit den typischen Gehältern systemrelevanter Berufe verglichen. In interaktiven Grafiken finden Sie heraus, welche Wohnungen sich Krankenpfleger:innen, Sozialarbeiter:innen und Co. in Berlin leisten können.

Vor zehn Jahren kostete die durchschnittliche Wohnung auf gängigen Plattformen 8,50 Euro Miete je Quadratmeter. Heute: 15,74 Euro, wie Zahlen der Berliner Investitionsbank (IBB) von 2024 zeigen.

Damit sind die Angebotsmieten in Berlin stärker gestiegen als in allen anderen deutschen Großstädten. Zwar wuchsen auch die Einkommen um ein Drittel. Doch das reicht zwar, um die Anstiege der ortsüblichen Vergleichsmieten abzufedern (+24 Prozent seit 2015) – nicht aber die bei Neuangeboten in den vergangenen zehn Jahren (+85 Prozent).

Das trifft alle, die in Berlin eine Wohnung suchen. Aber viele der Menschen in systemrelevanten Berufen trifft es besonders hart: Altenpfleger:innen (2028 Euro netto), Rettungssanitäter:innen (2155 Euro netto) und Erzieher:innen (2325 Euro netto) verdienen im Schnitt weniger als die Berliner:innen im Mittel (2882 Euro).

Sozialarbeiter Sven hat in Neukölln keinen Platz für ein Kinderzimmer – eine größere Wohnung wäre aber zu teuer. Foto: Tagesspiegel/Jana Gäng

1200 Euro Warmmiete zahlen Sven und seine Partnerin, ebenfalls Sozialarbeiterin, nun für 80 Quadratmeter Neuköllner Altbau, nichts Schickes. Unten läuft in der Shishabar nachts Musik, dafür zwei Balkone.

500 Euro mehr Miete würde eine Wohnung mit ausreichend Platz bedeuten, sagt Sven. Aber bei einem Haushaltseinkommen von 4300 Euro auch ein Leben, das enger wird: eine Urlaubsreise weniger, weniger Besuche bei den Schwiegereltern in München, keine Spontankäufe mehr im Penny.

Und selbst wenn sie die 500 Euro abknapsen könnten: Wollen sie das, immer mehr Geld fürs Mieten, nur um zu bleiben? „Als Fachkräfte will man uns in Berlin, aber offenbar nicht als Menschen, die gern hier wohnen. Sonst würde mehr passieren.“

Was glauben Sie: Wie viele Tage muss ein Sozialarbeiter arbeiten, bis die aktuelle durchschnittliche Angebotsmiete in Berlin bezahlt ist?

Seit sie Eltern sind, sagt Sven, haben sie andere Paare kennengelernt. Berlin fühlt sich nicht mehr so anonym an. Doch immer wieder ziehen Freunde weg, weil sie mit Kindern mehr Platz brauchen, sich im Kiez aber keine größere Wohnung leisten können.

„Du fährst nicht 45 Minuten, um eine Runde Karten zu spielen. Beziehungen brechen in Berlin oft weg. Es macht mich müde.“

Lange Fahrtzeiten, weil Wohnungen nur in manchen Gegenden Berlins bezahlbar sind, sind nicht nur ein Privatproblem. Arbeitgeber wie die Berliner Feuerwehr und die Sana Kliniken AG berichten von Beschäftigten, die ihr Arbeitsweg frustriert. Gerade im Schichtdienst wären Wohnungen in der Nähe wichtig, schreibt die Feuerwehr. Homeoffice ist für viele systemrelevante Fachkräfte unmöglich. Rettungswagen steuern, die Straßen in den frühen Morgenstunden reinigen, das funktioniert nicht von zu Hause.

Die Wohnungssituation könne „den Wunsch nach einem Arbeitsplatzwechsel verstärken“, teilt eine Sprecherin der Sana Kliniken mit.

Berlin kann sich solche Verluste kaum leisten. Bis 2031 müssen allein in den Verwaltungen 30.000 Stellen nachbesetzt werden, das geht aus einer Senats-Antwort auf eine schriftliche Anfrage hervor. Die BVG dünnt Linien aus, weil Busfahrer:innen fehlen. Die Polizei hat erneut nicht alle Ausbildungsplätze besetzt.

Einstellungen verzögern sich, Bewerber sagen ab – weil sie keine Wohnung finden

Berlin verliert nicht nur Menschen, die bleiben wollen. Das Mietenproblem macht es auch denen schwer, die kommen würden. Bei der Berliner Feuerwehr kommt rund die Hälfte der Bewerber:innen nicht aus Berlin, teilt ein Sprecher mit. Doch weil bezahlbare Wohnungen fehlen, sei es „äußerst schwierig“ sie unterzubringen. Einstellungstermine würden verschoben, manche Bewerbungen zurückgezogen.

Auch die Sana Kliniken melden verzögerte Arbeitsstarts, direkte Absagen seien selten. Besonders Mieten für möblierte Apartments seien „kaum tragbar“ – für internationale Pflegekräfte, auf die Berlins Kliniken angewiesen sind, sind einzugsfertige Wohnungen aber wichtig. Laut Berliner Mieterverein verstieß jedes zweite Angebot solcher möblierten Apartments in den vergangenen zwölf Monaten mutmaßlich gegen die Mietpreisbremse. Im Mittel kosteten sie 20,41 Euro pro Quadratmeter.

Wie viele Fachkräfte Berlin wegen hoher Mieten tatsächlich meiden oder verlassen, weiß niemand genau. Arbeitgeber wie die BVG, die BSR oder der Gesundheitskonzern Vivantes äußern sich nicht, würden dies nicht erheben. Man wachse aber seit Jahren, heißt es von Vivantes. Der Konzern geht nicht davon aus, dass die hohen Mieten Menschen davon abschrecken, in seinen Einrichtungen zu arbeiten.

Was Arbeitgeber versuchen

In München beschlossen die Stadtwerke vor zehn Jahren, ihren Wohnungsbestand für Mitarbeitende zu verdoppeln. „Berlin läuft etwas nach, weil man lange von günstigen Mieten profitiert hatte. Wohnen spielte bei der Fachkräftebindung keine Rolle“, sagt Simon Wieland vom Forschungs- und Beratungsinstitut RegioKontext.

Dass es einen Bedarf gibt, haben inzwischen aber sowohl das Land Berlin als auch private Arbeitgeber erkannt. Der Wohnungsmarkt mache es „schwerer, neue Fachkräfte zu gewinnen und langfristig zu halten – egal ob in Kitas, Pflege, Krankenhäusern, Rettungsdienst, Müllabfuhr, ÖPNV oder Verwaltung“, teilt die Pressestelle der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales mit.

Es hänge aber nicht am Job, ob jemand Unterstützungsangebote wie Mietzuschüsse vom Land bekommt. Denn: Wer „systemrelevant“ ist, dafür gebe es keine einheitliche Definition. Und deshalb aus Sicht der Senatsverwaltung auch „kein eigenes, separates Wohnungs-Thema nur für systemrelevante Berufe“.

Am stärksten zugeschnitten auf die Berufsgruppen sind wohl die Wohnungen für Beschäftigte des Landes und seiner Unternehmen. 2024 hat Berlin dafür eine Koordinierungsstelle und ein Programm bei der Senatsverwaltung für Inneres eingerichtet; das Thema werde „mit hoher Dringlichkeit“ behandelt, heißt es von deren Pressestelle.

Die landeseigene Berlinovo baut und verwaltet die Einheiten. Mehr als 5600 Wohnungen gibt es, teilt das Unternehmen mit. Bis 2029 sollen es 6800 Wohnungen sein. Weitere Apartments für Polizei, Feuerwehr und Charité entstanden in Kooperationen.

Auch andere systemrelevante Arbeitgeber handeln: Vivantes hat 272 Wohnungen für Pflegekräfte angemietet, die aus dem Ausland nach Berlin ziehen – insgesamt aber mehr als 20.000 Mitarbeitende.

Die private Sana-Klinikgruppe bezahlt Vermittlungsdienste und mietet Wohnungen für neue Fachkräfte an. Zahlen nennt die Sprecherin nicht. Die BVG besitzt bei mehr als 16.000 Beschäftigten 140 eigene Wohnungen, miete zusätzlich eine kleine Zahl möblierter Apartments für Einsteiger:innen an, die für den Job nach Berlin ziehen.

Nur, reicht das?

Ihre Wohnungsvermittler haben immer seltener Erfolg, berichtet Sana. Die Feuerwehr schreibt: „Die Kooperationspartner kommen bei der hohen Zahl von Vermittlungen an ihre Grenzen.“

Eine Wohnung zu kaufen ist für die wenigsten eine Alternative. Zwar sind Immobilienpreise auch hier lange gesunken, Eigentum in Berlin ist aber trotzdem teuer. 5.690 Euro kostet der Quadratmeter laut IBB im Mittel, je nach Lage und Zustand allerdings deutlich mehr oder weniger.

Ärzt:innen schaffen das vielleicht, Sozialarbeiter:innen kaum. Ein Kauf würde sie viele Jahresgehälter kosten. Hier können Sie raten, wie viele Jahreseinkommen ein:e Sozialarbeiter:in aufwenden müsste.

Draußen in Brandenburg schauen sich Freunde Häuser zum Kauf an, sagt Sven. Auch sie selbst haben gerechnet. Auf dem Weg zur Arbeit radelt er durch Biesdorf. „Da ist es übersichtlich, sauber, das ist so schön.“

Aber in den Anzeigen blicken sie auf 70er-Jahre-Häuser mit Holzvertäfelung und veralteter Heizung. Die Preise beginnen bei 400.000, „man müsste locker noch 300.000 Euro reinstecken“, sagt Sven.

Eine Verantwortung über Jahrzehnte, ein Risiko für ihre Altersrücklagen, sie legen den Gedanken beiseite.

„Wir wollen nicht nur Wohnen“, sagt Sven. „Wir wollen auch ein gutes Leben haben.“