Einige Hundert Meter vom Berliner Hauptbahnhof entfernt steht ein braunes Haus. Nur noch ein Name findet sich am Klingelbrett. Das dreistöckige Wohngebäude wirkt wie ein Fremdkörper zwischen all dem Glas und Beton der „Europacity“. Wo früher Schienen langführten, ist ein luxuriöses Neubau-Quartier mit über 20-stöckigen Hochhäusern entstanden.
„Immobilie zu verkaufen“, steht auf einem Plakat. Im Verkaufsexposé heißt es: „Eine Neubebauung mit einem Büro- und Geschäftsgebäude“ scheine „realisierbar“. Der baufällige Altbau in bester Lage gehört der Bundesrepublik Deutschland:
Jetzt steht das Haus für 5,2 Millionen Euro zum Verkauf. Das Land Berlin hätte es deutlich günstiger bekommen – und dort Wohnungen erhalten oder neu bauen können. Der Bund bietet seine Grundstücke den Ländern zum Vorkauf an. Doch Berlin schlug nicht zu. So schreibt sich im Kleinen fort, was die Stadt im Großen verpasst hat: Boden im öffentlichen Besitz zu halten. Über Jahrzehnte haben Land und Bund haufenweise Flächen an private Investoren veräußert. Ein Fehler, darin sind sich heute die Parteien einig.
Was ist noch übrig geblieben nach dem Verkaufsrausch?
Wir haben im Tagesspiegel die Grundstücke der öffentlichen Hand, also die Liegenschaften von Land und Bund, analysiert. In jeder Ecke Berlins findet sich öffentliches Land. Insgesamt sind es 48.900 Hektar, was 163-mal der Fläche des Tempelhofer Feldes entspricht.
Das Haus in der Heidestraße 45 findet sich auf der Karte als Eigentum des Bundes – genauso wie der Bundestag. Dem Land Berlin gehört zum Beispiel das Grundstück, auf dem die Siegessäule steht, sowie viele weitere, auf denen sich etwa Schulen befinden. Rechnet man alle Flächen zusammen, ist Berlins Stadtraum zu über 50 Prozent in öffentlicher Hand. Das Land besitzt als Großgrundbesitzer 47 Prozent, der Bund kommt auf 7,1 Prozent. Aber auch anderen Bundesländern gehören vereinzelte Flächen in der Hauptstadt.
Aber Boden ist nicht gleich Boden, wie die Karte schon zeigt. Viele der großen Flächen in öffentlichem Besitz sind Wälder am Stadtrand, Flüsse, Seen – und große Teile des Verkehrsnetzes, das 15 Prozent der gesamten Stadtfläche einnimmt.
45-mal das Tempelhofer Feld oder fast so viel Platz wie alle Grünflächen der Stadt nehmen die Verkehrsflächen ein. Dabei sind diese sehr unterschiedlich in Berlin verteilt. In Friedrichshain-Kreuzberg nehmen sie 26 Prozent der Bezirksfläche ein, in Treptow-Köpenick nur zehn. Hier gibt es auch den geringsten Anteil an Wohnflächen – 16 Prozent. Vieles der Fläche im Südosten besteht aus Wald und Wasser. Deswegen besitzt Treptow-Köpenick insgesamt die meisten landeseigenen Flächen im Bezirksvergleich – und hat entsprechend Macht darüber, Flächen in Zukunft umzunutzen.
In allen anderen Bezirken außer in Treptow-Köpenick nehmen Siedlungsflächen, also Flächen mit Gebäuden, mehr als 50 Prozent des Platzes ein. Nicht auf allen Flächen mit Gebäuden stehen Wohnungen. Aber: Während Berlin 96 Prozent des kompletten Waldes innehat, gehören der Stadt auf der Karte nur zwei Prozent der Wohnflächen.
Das bedeutet: Bei dem größten politischen Problem, das sich der Stadt in Form steigender Wohnpreise stellt, hat sie kaum eine eigene Handhabe, als Eigentümerin direkt Einfluss zu nehmen. Die Frage stellt sich allerdings auch, ob sie überhaupt einen Überblick besitzt.
Denn die von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung veröffentlichten Daten beziehen nicht mit ein, was sich an Grundstücken im Besitz der landeseigenen Unternehmen befindet – vor allem der landeseigenen Wohnungsgesellschaften. Anfragen bei den Wohnungsbaugesellschaften blieben unbeantwortet, sodass ein vollständiger Überblick nicht erstellt werden konnte. Außerdem sei es laut Senatsverwaltung möglich, dass nicht alle Bestände der BVG, BWB und BSR vollständig erfasst seien.
Die Karte gibt es außerdem nur vom aktuellen Jahr. „Historisch gewordene Ausgaben werden nicht archiviert“, teilt die zentrale Stadtentwicklungsbehörde auf Anfrage mit. Will sagen: Man kennt immer nur den aktuellen Besitzstand, Verluste werden vergessen. Die Geschichte der Stadt wird anscheinend einfach überschrieben.
Weil Berlin es selbst nie wissen wollte, lässt sich nicht bewerten, wie groß der Schaden des Verkaufsrausches an landes- oder auch bundeseigenen Flächen wirklich ist. Was Bund und Berlin einst gehört hat, bleibt unbekannt.
Tatsache ist: Zählt man Statistiken der Senatsverwaltung zusammen, wurden seit 1989 bis 2022 insgesamt etwa 2360 Hektar Land verkauft. Das entspricht der Größe von Friedrichshain-Kreuzberg. Mehr dazu können Sie hier nachlesen.
In der Wilhelminenhofstraße in Oberschöneweide verkaufte Berlin im Jahr 2013 ein unbebautes Grundstück – 500 Meter entfernt von der Hochschule für Technik. Die Serviced Apartments, die sich heute auf dem Grundstück befinden, kosten rund 50 Euro den Quadratmeter:
Oder eben die Heidestraße. Das ganze Areal der Europacity befand sich einst im Besitz des Bundes, bevor es an Investoren ging, die ein neues Stadtquartier bauten.
Wie viele Flächen der Bund in der Hauptstadt verkaufte, ist noch schwerer herauszufinden. Seit 2013 waren es 186 Hektar. In den Jahrzehnten davor dürften es Hunderte mehr gewesen sein. Darunter viele Flächen, auf denen heute Wohnungen stehen.
2021 veröffentlichte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erstmals einen Datensatz, mit dem eine Analyse der Eigentümerstruktur möglich war. 2022 gab es ein Update. Damit wurden Daten über die Besitzverhältnisse im Wohnungssektor der Stadt publik. Sie zeichnen ein ganz anderes Bild als die Liegenschaftskarte – wenngleich viele Kategorien auffällig vage gehalten wurden.
Die Daten zur Eigentümerstruktur werden nicht grundstücksgenau veröffentlicht. Für ihre Analyse fasste die Senatsverwaltung die Grundstücke der verschiedenen Eigentümer in den 542 einzelnen Planungsräumen zusammen. Die entsprechen etwa den Kiezen in Berlin. Berücksichtigt wurden nur Flächen, auf denen tatsächlich auch Wohnungen stehen. Daraus lässt sich berechnen, wie viel Wohnfläche die landeseigenen Unternehmen in der Stadt besitzen. So zeigt sich abermals, wie wenig Einfluss das Land Berlin wirklich hat. Und die Daten liefern ein Indiz dafür, welche wichtige Rolle der Boden in den sozialen Fragen der Stadt spielt.
Denn nur acht Prozent der Flächen für Wohnen sind in der Hand der Landeseigenen. Einzelnen oder mehreren Personen sowie Wohnungseigentümergemeinschaften gehören über zwei Drittel des Berliner Bodens mit Wohnungen.
Was die Analyse nicht berücksichtigt: Es sind eben auch nicht alle Wohnflächen gleich. So gehören Privatpersonen die Einfamilienhäuser am Stadtrand. Die großen Wohnblöcke mit tausenden Wohnungen sind oft im Eigentum von Unternehmen, nehmen aber insgesamt weniger Fläche ein.
So ist es auch mit den Flächen der landeseigenen Wohnungen. Es sind kleinere Flächen mit vielen Wohnungen, weswegen Berlins Anteil an landeseigenen Wohnungen auch nicht mehr als acht Prozent beträgt. Sie sind aber extrem ungleichmäßig verteilt. Die meisten davon gibt es im Osten der Stadt, viele davon im Ortsteil Hellersdorf.
Die Verteilung dieser landeseigenen Wohnflächen hat Folgen für die soziale Durchmischung der Stadt. Vergleicht man Arbeitslosenquoten und den Anteil an Sozialhilfeempfängern in den Kiezen mit ihrer Eigentümerstruktur, zeigt sich: In Kiezen, in denen viel Grund und Boden den städtischen Wohnungsbaugesellschaften gehört, leben mehr Arbeitslose und Transferbezieher – ein Zeichen für die günstigeren Mieten der landeseigenen.
Auf 500.000 Wohnungen will die große Koalition den Bestand der Landeseigenen erhöhen. Rund 360.000 Wohnungen sind es aktuell. Der Raum für weitere landeseigene Wohnungen ist begrenzt. Im vergangenen Jahr hat das Land nur neun Grundstücke für den Wohnungsbau an die landeseigenen Unternehmen übergeben, 2021 waren es 14, 2016 noch 44 Grundstücke.
Beeinflussen kann die Stadt ihre Entwicklung nur noch außerhalb des „Rings“, der durch Autobahn und S-Bahn gebildet wird, wo dem Land nicht nur viele Wohnungen, sondern auch viele Flächen gehören. Im Stadtentwicklungsplan für 2030 sind innerhalb des Rings deutlich weniger landeseigene Wohnungen vorgesehen als privatwirtschaftliche Projekte. Allerdings wollen da viel mehr Menschen wohnen.
Nachdem dort viele Flächen verkauft wurden, dürfte das Land die wenigen freien verfügbaren Bauflächen aber kaum zurückkaufen können. Der Berliner Boden ist teuer – zu teuer, um bezahlbaren Wohnraum in staatlicher Trägerschaft zu ermöglichen.
Die Bodenverteilung in Berlin hat soziale Folgen. Gerade landeseigener Wohnungsbau ist für eine soziale Durchmischung der Kieze wichtig. Vor allem in der Innenstadt dürfte diese weiter abnehmen.
Berlins Politiker verfügen nicht über einen ausreichend hohen Haushalt, der mit steigenden Bodenpreisen mithalten könnte. Sie werden von einer Entwicklung abgehängt, die sie selbst befeuert haben.
An der Heidestraße ist der Erhalt der 16 Wohnungen ungeklärt. Unklar ist auch, warum das Land das Grundstück in Premiumlage nicht vom Bund übernehmen wollte. Die Landeseigenen hätten „kein weitergehendes Interesse bekundet“, schreibt die BIM, die die Immobilien des Landes verwaltet, auf Anfrage.
Der Bund teilt mit, dass man es dem Land durchaus angeboten habe, jedoch keine Rückmeldung erfolgte. Das bestätigt auch der Bezirk, der es gerne genommen hätte. Gefragt hatte das Land den Bezirk nicht.
Der europäische Bodenmarkt ist intransparent. Das erschwert es, Unternehmen zu identifizieren, die Land kaufen, um damit zu spekulieren, oder die Politik für verantwortungslose Deals zur Rechenschaft zu ziehen. Und es verhindert eine transparente Debatte darüber, wie wir als Stadt die letzten Freiflächen nutzen können. Deswegen recherchieren Medien in verschiedenen europäischen Hauptstädten gemeinsam urbanen Landbesitz. Mithilfe von Datenanalysen, Satellitenbildern, Vor-Ort-Reportagen und Experteninterviews versucht die Recherche „Ground Control”, Licht ins Dunkel zu bringen. Eine Übersicht aller internationalen Veröffentlichungen finden Sie auf der Projektwebseite.
Belgien: Apache, Tschechien: Deník Referendum, Frankreich: Mediapart, Polen: Gazeta Wyborcza, Ungarn: Telex, Slowakei: ICJK, Norwegen: iTromsø, Italien: Irpi Media,
In den nächsten Wochen werden weitere Egebnisse veröffentlicht. Einige Rechercheergebnisse aus anderen Städten und Sprachen werden wir zusammenfassen und auf Deutsch übersetzen.
Die Recherche wird von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) Fonds sowie durch Journalismfund unterstützt. Die Entwicklung der Technologien für das Urban Journalism Network sowie diese Recherche werden durch das Programm Stars4Media unterstützt.
Der Liegenschaftsplan des Landes Berlin: Die Daten für die Karte der öffentlichen Grundstücke stammen aus dem Liegenschaftsplan des Landes Berlin, der jährlich im sogenannten „Fis broker“, dem Geoportal des Landes Berlin, veröffentlicht wird. Grundlage für die Veröffentlichung ist Paragraph 25 des Berliner Landesvermessungsgesetzes, der vorsieht, dass die Liegenschaften veröffentlicht werden müssen und für jedermann einsehbar sein sollten.
Diesen Datensatz haben wir mit zwei Datensätzen aus dem Amtlichen Liegenschaftskataster (ALKIS) zusammengeführt. Mithilfe des Datensatzes zu Flurstücken erhielten wir die jeweilige Größe des Grundstückes. Mit dem Datensatz zur Nutzung konnten wir die Flächennutzung ergänzen.
Da sich nicht alle öffentliche Grundstücke eindeutig dem Flurstückdatensatz zuordnen ließen, haben wir für rund 500 von etwa 70.000 Flurstücken die Größe selbst berechnet. Die Diskrepanz der Datensätze ergibt sich laut Senatsverwaltung aus den unterschiedlichen Aktualisierungszyklen der beiden Datensätze. Der Datenstand des Liegenschaftsplans ist der 28. Februar 2023, der der Flurstückkarte aus ALKIS der 01. September 2023.
Bei Flurstücken, die mehrere Flächennutzungen haben, zeigen wir diese als zwei unterschiedliche Shapes auf der Karte an. Auch hier haben wir die Größen der Teilgrundstücke selbst berechnet.
Flächennutzung: Die Daten zur Flächennutzung stammen vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Die Erhebung basiert auf dem ALKIS.
Eigentümerstrukturen der Wohnflächen: Die Auswertung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung basiert auf nichtöffentlichen Daten aus dem Amtlichen Liegenschaftskataster, Stand 2022. Die Angaben beziehen sich auf Flurstücke, also den Grund und Boden, nicht auf die Wohnungen, die auf den Grundstücken stehen. Die Auswertung erfolgte auf der Planungsraum-Ebene, also etwa auf Größe der Kieze. Wir haben die jeweiligen Anteile für die ganze Stadt zusammengerechnet.
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