Zoe Sabot fährt auf einem schwarzen Hollandrad vor. Die 34-Jährige ist Sexarbeiterin, seit sieben Jahren hauptberuflich. Zwei ihrer Spezialgebiete: BDSM und Rollenspiele. Eine Stunde mit ihr ist ab 280 Euro zu haben. Zoe Sabot ist der Name, unter dem sie arbeitet. Sie hat einen Bachelor in Physik, einen Hund und ein Boot.
Friedrich Müller – Brille und Markenhemd – ist seit sechs Jahren Sabots Stammkunde. Er bucht sie etwa alle zwei Monate für eine anderthalbstündige BDSM-Session im Berliner Dominastudio „Lux“. Bis zu seinem Rentenbeginn vor drei Jahren war der 68-Jährige IT-Projektleiter bei einem großen Unternehmen. Zu Sexarbeiterinnen geht er seit Jahrzehnten. Auch er heißt eigentlich anders.
Zur Begrüßung umarmen die beiden sich und sprechen über Müllers Urlaub, aus dem er kürzlich zurückgekommen ist: wie alte Bekannte. Heute wollen sie von ihrer langjährigen Geschäftsbeziehung erzählen.
Frau Sabot, Herr Müller, einer repräsentativen Studie der Universität Hamburg zufolge nimmt jeder vierte Mann mindestens einmal in seinem Leben die Dienste von Sexarbeitenden in Anspruch. Aber kaum jemand redet offen darüber.
Sabot: Gäste von Sexarbeitenden bleiben in der Gesellschaft unsichtbar. Friedrich, du hast mir mal gesagt, es mache dich traurig, dass du niemandem von unseren Sessions erzählen kannst.
Müller: Erst heute Morgen saß ich mit Leuten aus meiner Kirchengemeinde zusammen. Denen könnte ich nicht berichten, was im „Lux“ mit dir passiert, Zoe. Nur meine beste Freundin und meine Ex-Partnerin wissen von meiner Vorliebe.
Mit Ihrer Vorliebe meinen Sie Ihre sexuelle Neigung zu BDSM, kurz für „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“ – ein Sammelbegriff für Sexpraktiken, bei denen es um Dominanz und Unterwerfung sowie um lustvollen Schmerz geht. Wann haben Sie gemerkt, dass BDSM Sie erregt?
Müller: Mit zwölf oder dreizehn, beim „Cowboy und Indianer“ spielen. Die Gefangenen an einen Baum zu fesseln, das fand ich einfach richtig gut. Gleichzeitig hatte ich in meinem Hinterkopf immer den Gedanken: Wenn es mich sexuell erregt, Frauen zu fesseln oder zu peitschen, ist das krank. Erst als ich in den 70ern in den Niederlanden ein Sexheft mit Fesselszenen sah, dachte ich: Vielleicht bin ich ja doch nur ein bisschen krank.
Also erlaubten Sie sich, zu einer Sexarbeiterin zu gehen.
Müller: Das dauerte weitere zehn Jahre. Im Fernsehen lief eine Talkshow, es ging um ein Berliner Bordell. Das war mein nächstes Aha-Erlebnis: Das kann man kriegen, wenn man in ein Studio geht! Als ich das erste Mal vor der Frau stand, war ich unsicher, was ich mit ihr anfangen kann. Zum Glück hat sie mitgespielt. Vielleicht ist das eine Eigenschaft, die Sexarbeiterinnen haben müssen. Dass du guckst: Was wollen die Kunden, und wie spiele ich damit?
Frau Sabot, stimmt das? Sind Sexarbeiterinnen empathische Schauspielerinnen?
Sabot: Genau das ist es, was mir an dem Beruf Spaß macht. Manchmal ist das wie ein Zaubertrick. Ich fühle, was für eine Person mein Gegenüber sich wünscht und setze das um. Für jeden Kunden spiele ich eine andere Rolle. Wäre es immer dieselbe, ich würde mich langweilen.
Bezeichnen Sie sich als Prostituierte?
Sabot: Ich nenne mich meist Sexarbeiterin – auch, weil es das Wort Arbeit beinhaltet –, manchmal Prostituierte oder Hure. Mit keinem der Begriffe habe ich ein Problem. Friedrich, wie würdest du mich denn vorstellen? „Mein Name ist Friedrich und das ist Zoe, meine Sexarbeiterin“!?
Müller: Vorletzten Sonntag habe ich dich gebucht, um gemeinsam einen Kurs zu besuchen. Es ging um den Gebrauch von Peitschen. In der Vorstellungsrunde habe ich dich als meinen Sub vorgestellt. „Sub“ ist der unterwürfige Part beim BSDM. Aber das stimmt ja auch nicht ganz. Wir tauschen mittlerweile Rollen – mal dominiere ich dich, mal umgekehrt. Hätte jemand genauer gefragt, hätte ich wohl geantwortet: „Ich bin Gast von Zoe.“ Oder Kunde.
Ein geläufiger Begriff ist Freier.
Müller: „Freier“ finde ich überhaupt nicht gut. Er beinhaltet eine negative Wertung. Ich zahle für eine Dienstleistung. Also bin ich Kunde.
Frau Sabot, wie kamen Sie zur Sexarbeit?
Sabot: Mit fünfzehn habe ich beim Sex mit meinem damaligen Partner gemerkt, dass ich Machtgefälle spannend finde und Menschen gerne schöne sexuelle Erlebnisse bereite. Außerdem, dass ich gut unterscheiden kann zwischen meinen Bedürfnissen und denen meines Gegenübers. Ich hatte nicht das Berufsziel Sexarbeiterin, fand aber die Idee spannend.
Manche denken bei Prostitution zunächst an Zuhälter, Drogen und Gewalt. Welche Erwartungen hatten Sie an den Beruf?
Sabot: Ich habe mir den Beruf so vorgestellt, wie ich wollte, dass er für mich ist. Angefangen habe ich erst Jahre später, mit 24. Während des Studiums jobbte ich in der Gastronomie – stressig und schlecht bezahlt. In der „Zitty“ wurden für Webcam-Chats „junge Frauen“ gesucht, die „kommunikativ sind und Freude an Erotik haben“. Die Annonce klang sympathisch, die Inhaberin war eine Frau. Also bin ich hin.
Wie sah der Job aus?
Sabot: Ich saß in einer Wohnung in Neukölln auf diesem Sessel vor einem Riesenrechner, total nervös, und chattete auf acht Plattformen gleichzeitig. Zu meiner Überraschung klappte es. Ich musste bloß aufpassen, nicht eine Nachricht an eine falsche Person zu schicken. Der eine will Füße sehen und darüber chatten, der andere Brüste. Parallel fing ich an, privat BSDM-Erfahrungen zu machen.
Was gefällt Ihnen daran?
Sabot: Mir gefällt die Verbindung, die man aufbaut. Wenn man Schmerz wohldosiert hochschraubt, in Wellen, hält man am Ende viel mehr aus. Die Lust steigert sich entsprechend. Es machte mir Freude, aber ich hatte das Gefühl, dass die Männer daraus mehr zogen als ich. Ich fiel automatisch in eine Dienstleister-Rolle, einfach, weil ich das gut kann. Da dachte ich: Ich möchte gerne, dass es einen anderen Ausgleich für mich gibt. Das war das Geld.
Und dann haben Sie entschlossen, das professionell zu betreiben?
Sabot: Eine Bekannte hat mich angesprochen: „Willst du nicht zu uns ins Studio kommen?“ Bis ich das tat, dauerte es weitere anderthalb Jahre. Ich befürchtete, den optischen Anforderungen an eine Sexarbeiterin nicht zu genügen. Meine erste Session im Mai 2017 fühlte sich an wie ein Schwindel. Was, wenn der Gast merkt, dass ich gar keine echte Sexarbeiterin bin?
Haben Sie noch manchmal das Gefühl, den Anforderungen an die Rolle der Sexarbeiterin nicht zu genügen?
Sabot: Nur noch ganz selten. Zum Beispiel, wenn Gäste mich für High-Class-Escort-Dates buchen. Dann stehe ich auf einmal in der größten Suite im Hyatt und halte mich am Klavier fest, während er von hinten über mich herfällt. In solchen Momenten denke ich: Jetzt darf bloß nicht auffallen, dass ich noch nie in einer so großen Suite war.
In Situationen wie diesen übt ein Mann, den Sie nicht kennen, in einem sexuellen Spiel Macht über Sie aus. Geraten Sie da manchmal in beängstigende Situationen?
Sabot: Mir sind schon unangenehme Dinge geschehen, aber keine Situation, in der ich nicht mehr die Kontrolle hatte. Mit den Jahren und zunehmender Erfahrung wurde es immer besser, mittlerweile habe ich einen guten Riecher. Bei negativen Erfahrungen zögere ich, zur Polizei zu gehen. Zum Beispiel schulden mir zwei Kunden Geld, einer ist sogar Polizist. Würde ich ihn anzeigen, erfährt er meinen wirklichen Namen und meine Adresse. Das ist es mir nicht wert.
Frau Sabot, Herr Müller, Sie treffen sich seit 2017 etwa alle zwei Monate. Hat sich Ihre Beziehung im Lauf der Jahre verändert?
Müller: Während Corona war Sexarbeit nicht möglich, wir gingen stattdessen spazieren. Einmal, im Briesetal, haben wir intensiv darüber gesprochen, mehr Langsamkeit in unsere Sessions zu bringen.
Sabot: Du hattest immer eine Liste im Kopf, die wir abgearbeitet haben, und eine große Tasche mit Sexspielzeug, das du ausprobieren wolltest. Während Corona haben wir besprochen, dass es schön wäre, das zu entschleunigen.
Sie haben Wünsche gegenüber Ihrem Kunden geäußert? Läuft das nicht normalerweise umgekehrt?
Sabot: Dass ich mitsteuere, wohin es geht, Ideen einbringe, ist eigentlich Standard – Teil der Geschäftsbeziehung, auch mit anderen Gästen. Ich konzentriere mich auf mein Gegenüber und etabliere einen Raum, in dem Begegnung möglich ist. Es geht ja nicht nur um den Orgasmus.
Müller: Für mich war das Gespräch gut – auch, um aus dem Gedanken rauszukommen: Da macht jemand etwas nur, weil sie es muss. Wir haben auf Augenhöhe geredet, du hast gesagt, was du dir von mir wünschst. Jetzt sind unsere Sessions ruhiger. Der erste Teil ist BDSM. Nachdem es zum Orgasmus gekommen ist, folgt der Kuschelteil. Auch den schätze ich.
Sabot: Dann liegen wir im Bett, und trinken meistens eine Cola, reden über Urlaube, Unternehmungen, Ausflüge – darüber, was wir halt so machen.
Müller: Das hat für mich dann nichts mehr mit Rollenspiel oder Machtgefälle zu tun. Ich weiß, dass du ein Boot hast und einen Hund. Aber würde ich keine Sessions mehr bei dir buchen, hätte ich sicher nicht den Anspruch, dich abends zu Hause zu besuchen. Unsere Beziehung enthält Persönliches, aber sie ist eine Geschäftsbeziehung.
Haben Sie zu vielen Ihrer Kunden ein solches Verhältnis, Frau Sabot?
Sabot: Das ist durchaus üblich – nicht bei allen Sexarbeiterinnen, aber bei vielen, die ich kenne. Aber es ist und bleibt eine Geschäftsbeziehung. Ist die Session vorbei, muss jeder selbst gucken, wie es weitergeht, ist am Ende allein mit seinen Erfahrungen. Unsere Beziehung, Friedrich, ist aber schon besonders. Ich habe langjährige Gäste, mit denen nichts in dem Sinne passiert.
Bei BDSM geht es um Überschneidungen zwischen Lust und Schmerz. Wie verhandeln Sie beide Grenzen in dem, was Sie miteinander tun?
Sabot: Wir kommunizieren durch Stöhnen, Seufzen, Schmerzlaute, durch Atmung und Körperhaltung. Du merkst, wenn es zu fest wird für mich. BDSM besteht ausschließlich aus Kommunikation, nur mit anderen Mitteln.
Müller: Ein gutes Beispiel sind diese kleinen Schraubzwingen für die Nippel. Man kann sie feinfühlig zu- und den Druck damit hochdrehen. An deinem Stöhnen oder Erschrecken merke ich genau, wenn es zu viel wird, und höre auf.
Kürzlich forderte Unionfraktionsvize Dorothee Bär ein Sexkauf-Verbot, um Frauen zu schützen. Ein Argument der Gegner: Sexarbeit entwürdige Frauen und sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
Müller: Natürlich gibt es im Prostitutionsbereich Dinge, die gar nicht gehen – Menschenhandel, Frauen, die zum Sex gezwungen werden. Aber das ist ja schon verboten! Warum man deshalb die gesamte Sexarbeit verbieten sollte, leuchtet mir nicht ein. Es ist doch lebhaft vorstellbar, dass sich zwei Menschen darauf einigen. Das ist essenziell für mich. Auch, dass die Frau es freiwillig macht und nicht aus wirtschaftlicher Not heraus. Am schönsten ist es, wenn ich merke, dass das, was ich mache, auch für dich geil ist.
Sabot: Die Debatte nervt mich. Wir sitzen hier, um über unsere Beziehung zu sprechen. Jetzt soll ich schon wieder darüber reden, dass Leute wollen, dass mein Job verboten wird?
Prostitutionsgegner würden erwidern, Sie, Frau Sabot, seien eine Ausnahme. Die meisten seien aus Zwang in dem Bereich gelandet und erlebten in dem Beruf schreckliche Dinge.
Sabot: Ich bin keine Ausnahme. Es gibt viele Frauen und Männer, die den Job gerne machen. Oder zumindest lieber als andere. Das Argument der Prostitutionsgegner ist, meine Freiheit rechtfertige nicht das Leid der anderen.
Verlässliche Erhebungen, die das eine oder andere belegen, gibt es keine. In einer österreichischen Befragung von 2014 gaben neun von 82 Befragten an, zur Prostitution genötigt worden zu sein. In einer Studie von 2009 heißt es, 92 Prozent der deutschen Prostituierten hätten in ihrem Leben einmal körperliche Gewalt erfahren. 2022 registrierte das BKA 476 Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, also Menschenhandel im Prostitutionsbereich.
Sabot: Die Behauptung, dass es nur wenigen gut damit geht, aber viele darunter leiden, ist falsch. Mir tut es zudem weh, zu hören, mit welchem Bild da über Sexarbeitende und Kunden gesprochen wird. Das verrät viel über das Menschenbild der Akteure. Geradezu unverschämt finde ich, dass dadurch eigentlich notwendige Debatten nicht geführt werden: Wie können wir Betroffene von Menschenhandel besser unterstützen? Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen in der Sexarbeit sicher sind?
Würden Sie sagen, Sie sind abhängig von Ihrem Beruf?
Sabot: Nicht mehr als Menschen in jedem anderen Beruf. Ich brauche Geld, um mein Leben zu führen. Ich mache alle meine Termine selbst und behalte mir vor, sie jederzeit abzusagen. Das tue ich auch. Die meisten Gäste haben Verständnis. Die, die keines haben, kriegen keinen neuen Termin.
Ich habe Erspartes und bin offiziell als Freiberuflerin tätig. Während Corona war Sexarbeit nicht möglich, ich habe Corona-Hilfszahlungen erhalten. Da ich keinen extravaganten Lebensstil pflege, bin ich damit gut zurechtgekommen. Um den Beruf gerne zu machen, ist es mir wichtig, jederzeit Alternativen zu ihm zu haben. Deshalb baue ich mir derzeit ein zweites Standbein im Bereich sexuelle Bildung und Körperarbeit auf.
Herr Müller, Frau Sabot, was wäre, wenn die jeweils andere Person von heute auf morgen sagen würde: Ich möchte mich nicht mehr mit dir treffen?
Müller: Für mich wäre das der Verlust einer lieben, seit 2017 gewachsenen Beziehung. Und es würde bedeuten, dass ich das wieder neu aufbauen müsste mit einer anderen Person. Das wäre schon sehr, sehr schade.
Sabot: Es gehört zu meinem Beruf, keine Erwartungen an die Gäste zu stellen. Das bedeutet auch, dass du, Friedrich, frei bist, jederzeit zu gehen und nicht wiederzukommen. Auch wenn ich es schade fänd‘.
Herr Müller, Können Sie sich vorstellen, doch mal offen mit Freunden darüber zu reden?
Müller: Vor wenigen Jahren habe ich eine neue Freundschaft geschlossen, wir gingen essen. Nach dem zweiten Bier erzählte sie von ihrem Urlaub: Sie war mit ihrem Mann auf einer einwöchigen BDSM-Veranstaltung! Das war das erste Mal, dass ich außerhalb des professionellen Bereichs mit jemandem darüber sprechen konnte. Sie fand es ganz normal, als ich ihr von meinen Sessions erzählte. Da wurde mir erstmals innerlich klar, dass meine Vorliebe nichts Böses ist. Andere Leute gehen zum Sport. Ich mache solche Geschichten.