Im aktuell erfolgreichsten Youtube-Video aus dem Wahlkampf geht es um Schlamm. Das Video der Bild zeigt Armin Laschet bei einem Besuch von Flutopfern im Rhein-Sieg-Kreis. Titel: „Wütende Hochwasser-Opfer gehen auf Laschet los“. Zitatkachel im Aufmacherbild: „Haben sie schon einmal eine Woche im Schlamm gelebt?“. Die aufgebrachten Anwohner gehen nicht wirklich auf Armin Laschet los. Sie regen sich über fehlende Hilfe auf und beschuldigen ihn der Untätigkeit. Handgreiflich wird niemand in dem Video.
User „1SGCarter“, der einen Scharfschützen als Profilbild hat, ist davon offensichtlich enttäuscht. Er kommentiert unter das Video: „Respekt das die Leute sich noch beherrschen können. Ich hätte da nicht stehen dürfen.“ 1240 Likes hat der Kommentar. Ein anderer erwidert: „Dann hätten dich seine Leibwächter erschossen!“ 1SGCarter erwidert: „Das wäre es mir wert!“ Die meisten anderen Youtube-Kommentare sind nicht viel besser. Um inhaltliche Fragen geht es in kaum einem.
Die Kommentarspalten auf Youtube wirken wie eine Schlammschlacht. Aber wer kämpft da eigentlich gegen wen? Unsere umfangreiche Datenanalyse zeigt, dass die Schlammschlacht in den Kommentarspalten nicht einfach chaotisch ist. Sie richtet sich überdurchschnittlich häufig gegen bestimmte Positionen und Personen – und verhilft anderen zu mehr Aufmerksamkeit.
Um das besser einordnen zu können, haben Datenanalysten von Democracy Reporting International und dem Tagesspiegel Innovation Lab insgesamt 404.167 Kommentare unter 2570 Youtube-Videos zu Spitzenkandidat:innen der Bundestagswahl mithilfe von maschinellem Lernen analysiert. Wir wollten wissen, welche Begriffe und Stimmungen besonders häufig im Zusammenhang mit den verschiedenen Kandidierenden auftauchen – und ob sich dabei Muster zeigen.
Laut der ARD/ZDF-Onlinestudie vom Oktober 2020 wird Youtube mittlerweile von 55 Prozent der Deutschen regelmäßig genutzt. Es informieren sich mehr Menschen durch Videos als über Text-Artikel. Und 66 Prozent der Befragten nutzen Videos als Informationskanal für politische Themen. Bei jüngeren Zielgruppen liegt der Anteil noch höher.
Welche Videos allerdings besonders vielen Menschen vorgeschlagen werden, hängt nicht nur vom eigenen Wiedergabeverlauf ab, sondern auch davon, welche Videos besonders häufig gesehen, geliked und kommentiert werden. Es geht also nicht nur um Sprache, sondern auch darum, wer gehört wird.
Videos, die sich mit den Spitzenkandidat:innen beschäftigen, erhalten in etwa doppelt so viele Kommentare wie allgemeinere Videos zur Wahl. Am meisten Kommentare gibt es zu Annalena Baerbock. 31,8 Prozent der Kommentare beschäftigen sich mit ihr. 19,4 der analysierten Kommentare erwähnen Alice Weidel, nur 13,5 Prozent Armin Laschet, dicht gefolgt von Christian Lindner und Olaf Scholz. Mit der linken Doppelspitze Janine Wissler und Dietmar Bartsch beschäftigen sich kaum Kommentare. In die Analyse einbezogen wurden alle Videos, die einen der Kanzler- oder Spitzenkandidat:innen im Videotitel oder Beschreibung erwähnen.
In sehr stark vereinfachter Form zeigt die folgende Grafik die Ergebnisse der Analyse. Je näher ein Wort an einem anderen ist, desto näher sind sie in der Youtube-Sprachwelt beieinander. Je dicker die Linie zu einer der Personen, desto stärker werden sie im Kontext mit diesem Namen verwendet. Sie können zwischen verschiedenen Wortarten und der Zahl der dargestellten Wörter wählen.
Herauszufinden, welche Begriffe besonders häufig zu Baerbock, Laschet & Co. genutzt werden ist aufwändig. Denn Kommentare nennen oft mehrere der Namen und Wörter, viele Begriffe werden ironisch verwendet. Das einfaches Zählen von Wörtern würde daher wenig bringen. Deswegen wurde für die Analyse ein Verfahren des Maschinellen Lernens genutzt, das sich „Worteinbettung“ nennt (die genaue Anwendung heißt Word2vec). Dabei probiert ein Programm alle Wortkombinationen so lange aus, bis es gelernt hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erraten, welches Wort in den Kommentaren im Kontext mit einem anderen verwendet wird. Noch mehr Details dazu hat unser Kollege bei Democracy Reporting International aufgeschrieben.
So lässt sich ein Eindruck gewinnen, welche Wörter besonders stark mit den verschiedenen Kandidierenden assoziiert werden. Das Programm „lernt“ sozusagen die Struktur der Sprache in Youtube-Kommentaren.
Besonders interessant sind die Adjektive. Im Kontext von Armin Laschet werden besonders häufig „eitel“, „aalglatt“ oder „lasch“ verwendet. Bei letzterem handelt es sich nicht um einen Auswertungsfehler, sondern einen albernen Wortwitz. Annalena Baerbock trifft es weitaus schlimmer: Nicht nur sind viele Youtube-Kommentatoren nicht in der Lage, ihren Namen korrekt zu schreiben. Das Auswertungsprogramm bekommt sogar Probleme, zu unterscheiden, ob „Baerbocken“, „gebaerbockt“ oder „baerbocken“ nun Nomen, Verben oder Adjektive sind. Ihr Name wird einfach als alles benutzt. Dazu gesellen sich verunglimpfende Begriffe wie „aufgeblasen“, „schlampig“ oder „saudumm“.
In der folgenden Grafik gibt‘s die relevantesten Begriffe im Kontext mit den jeweiligen Kandidierenden nochmals als Liste.
Vielfach weisen die Begriffe auf Skandale wie Laschets Lachen bei den Flutopfern oder Baerbocks Plagiatsdebatte hin. Bei Scholz sind es besonders die Verben „veruntreuen“ und die Substantive „Cum-Ex“ und „Wirecard“, die klar machen, mit welchem Skandal das Netz ihn nach wie vor am stärksten verbindet. Die Mehrheit der Kommentare ist negativ, wie auch eine automatisierte Stimmungsanalyse (Sentiment Analysis) der Kommentare ergibt, mit deren Hilfe sich die Kommentare grob auf einer Skala von positiv-nett bis negativ-toxisch einteilen lassen. Auch hier ist das Ergebnis bei Annalena Baerbock wieder besonders negativ.
„Wir beobachten Lügen und Hasskampagnen seit langer Zeit im Netz“, schreibt eine Sprecherin der Grünen dazu auf Anfrage: „Aber nach der Verkündung der Kanzlerkandidatur haben wir noch einmal ein völlig neues Ausmaß festgestellt.“ Auffällig bei den Debatten im Netz sei dabei, dass Frauen häufiger auf ihr Geschlecht oder ihr Aussehen reduziert würden oder ihnen die Kompetenz abgesprochen werde.
Tatsächlich fallen verniedlichende oder frauenfeindliche Kommentare bei Annalena Baerbock sehr ins Auge. Dennoch gibt es einen sehr auffälligen Sonderfall: Alice Weidel. Während bei allen anderen die negativen Beschreibungen dominieren, bekommt sie überraschend viel positiven Zuspruch. Und auch die frauenfeindlichen Kommentare sind bei anscheinend sowohl seltener als auch gedämpfter. Im Gegenteil bekommt sie von der auf den ersten Blick so wahllosen aggressiven Youtube-Community so schmeichelnde Adjektive wie „integer“, „wohltuend“ oder „eloquent“ verpasst.
Könnte sich das dadurch erklären lassen, dass in den Youtube-Kommentaren schlicht mehr Rechte als Linke oder gemäßigte User unterwegs sind? Youtube sagt dazu, es lägen dem Unternehmen „keine validen Daten“ zu eventuellen politischen Ausrichtung seiner Community vor. Man nehme Hassrede allerdings sehr ernst, sperre entsprechende Kommentare und berichte darüber in einem regelmäßigen Transparenzbericht. In dem wird das Problem allerdings noch deutlicher. Allein von Januar bis Juni 2021 gingen bei Youtube 84.010 Meldungen wegen Hassrede oder politischem Extremismus ein. Es ist der größte Anteil der gemeldeten Inhalte. Am zweithäufigsten wurden Diffamierungen und Beleidigungen gemeldet, 71.316-mal in einem halben Jahr.
Die AfD sagt auf Anfrage, dass Youtube genug gegen beleidigende Kommentare gegenüber Politiker:innen vorgeht. Zur politischen Ausrichtung der Youtube-Community schreibt der Sprecher: „Da sich laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage jeder zweite Deutsche nicht mehr traut, offen seine Meinung zu sagen, vermag ich darüber, wie die Mehrheit der YouTube-Nutzer politisch tickt, leider keine Einschätzung mehr abzugeben.“
Simone Rafael beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Hassrede und Kampagnen auf Social Media und leitet das Digitalteam bei der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin. „Die rechtsextreme Szene hat gerade wirklich Angst“, sagt sie. Das erkläre, mit welcher Vehemenz diese Kampagnen gerade gefahren werden. Es gäbe auf Youtube allgemein eine sehr aggressive Diskussionsatmosphäre: „Es geht in der Regel nicht um Argumente, sondern schlicht darum, seine Zustimmung oder Ablehnung in den Kommentaren noch zusätzlich auszudrücken“.
Gerade deswegen sei Youtube in der rechtsextremen Szene sehr beliebt. Eben weil durch massenhafte Likes und Kommentare beeinflusst werden kann, welche Videos mehr Aufmerksamkeit bekommen. „‚Infokrieg‘ heißt das im rechten Szenesprech“, sagt Rafael. Dazu verabrede sich die rechte Community ganz gezielt in Telegram-Gruppen oder auf Twitter. Das erkläre auch, warum es so auffällig viele positive Kommentare zu Alice Weidel gibt.
Gerade die Grünen hingegen verkörperten alles, was man in dieser Szene hasse. Dazu käme der Frauenhass in der rechtsextremen und rechtspopulistischen Szene. In der Person von Annalena Baerbock gipfele diese dämonisierte Ablehnung.
Um hier einen Ausgleich zu schaffen, müsste es eine genauso starke Community von Gemäßigten bis Linken geben, die an der digitalen Debatte auf Youtube teilnehmen. Die Parteien könnten hier im Wahlkampf eine Vorbildfunktion einnehmen und im digitalen Raum stärker mitdiskutieren, sagt Rafael. Doch schaut man auf Youtube, fällt auf, dass die anderen Spitzenkandiderenden nicht mal regelmäßig eigene Videos dort posten. Während Alice Weidel dort regelmäßig eigene Statements postet, haben die meisten anderen Spitzenkandidat:innen nicht mal einen eigenen Kanal.
Die Analyse ist Teil unserer Langzeitrecherche „Social Media Dashboard zur Bundestagswahl 2021“. Sie ist ein gemeinsames Forschungsprojekt von Tagesspiegel Innovation Lab und Democracy Reporting International. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Mercator. In den kommenden Monaten bis Oktober werden weitere Visualisierungen, Analysen und Einordnungen erscheinen.
Die Daten zu Posts auf Instagram und Facebook werden über eine Schnittstelle von Crowdtangle abgerufen. Der Analysedienst ist ein Teil von Facebook und stellt diese Daten über Online-Angebote und maschinenlesbare Schnittstellen (APIs) zur Verfügung. Diese werden von uns regelmäßig abgerufen. Die Twitter-Posts werden direkt über die Schnittstelle von Twitter abgerufen, Daten zu Youtube-Videos direkt über eine Schnittstelle von Youtube.
Die gesammelten Daten werden automatisiert ausgewertet, zumeist mithilfe der Programmiersprache Python. Die Analysedaten werden über einen Tagesspiegel-Server regelmäßig aktualisiert und für die interaktiven Grafiken ausgespielt.
Es werden ausschließlich Daten verarbeitet, die aus öffentlichen Profilen oder Posts kommen. Daten von Nutzer:innen, die ihre Posts nur für Freunde sichtbar teilen, fragen wir weder ab noch können wir sie auswerten. Dadurch ist die Zahl der analysierbaren Posts auf Twitter sehr viel größer als die auf Facebook oder Instagram, wo Nutzer:innen seltener öffentlich posten.
Der Tagesspiegel entwickelt in seinem Tagesspiegel Innovation Lab Darstellungen, Analysen und Datenabfragen. Dabei arbeiten Redakteur:innen, Designer, Datenanalyse-Spezialisten und Softwareentwickler zusammen. Außerdem widmet sich das Team – gemeinsam mit den Politikredakteur:innen und anderen Fachleuten in der Redaktion der Analyse der gewonnenen Daten. Nach und nach werden wir online, in Newslettern und der gedruckten Zeitung tiefergehende Analysen, Expert:innenbeiträge, Interview und Einordnungen zu den Dynamiken des Wahlkampfs auf Social Media veröffentlichen.
Democracy Reporting International (DRI) ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz in Berlin, die weltweit demokratische Institutionen und Prozesse analysiert und stärkt. DRI unterhält sieben Länderbüros, die vor Ort mit demokratischen Akteuren zusammenarbeiten. DRI´s Programm “Digitale Demokratie” beobachtet und analyiert in zahlreichen Ländern, ob Wahlkämpfe online fair geführt werden und nimmt zu Fragen der Regulierung Stellung. Mehr unter democracy-reporting.org
Das Projekt wird gefördert durch die Stiftung Mercator, die ihre Rolle folgendermaßen fasst: „Die Stiftung Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung mit umfassender wissenschaftlicher Expertise und praktischer Projekterfahrung. Sie strebt mit ihrer Arbeit eine Gesellschaft an, die sich durch Weltoffenheit, Solidarität und Chancengleichheit auszeichnet. Um diese Ziele zu erreichen, fördert und entwickelt sie Projekte, die Chancen auf Teilhabe und den Zusammenhalt in einer diverser werdenden Gesellschaft verbessern. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa will die Stiftung Mercator durch ihre Arbeit stärken, die Auswirkungen der Digitalisierung auf Demokratie und Gesellschaft thematisieren und den Klimaschutz vorantreiben. Die Stiftung Mercator engagiert sich in Deutschland, Europa und weltweit. Dem Ruhrgebiet, Heimat der Stifterfamilie und Stiftungssitz, fühlt sie sich besonders verbunden.“
Die Förderer nehmen keinen Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung oder die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts.