Wahldiagramme werden meist in ähnlicher Art und Weise dargestellt: geografische Karten, in denen die Wahlbezirke je nach Siegerpartei farblich markiert sind, Tortendiagramme, die den Anteil der Stimmen für die Parteien im Abgeordnetenhaus darstellen. Beide Darstellungsformen sind intuitiv, da Menschen an sie gewöhnt sind.
Doch sie können Wähler:innenverhalten nur lückenhaft abbilden. Wir zeigen zwei Alternativen, die neue Aspekte der Berlin-Wahl 2023 in den Vordergrund rücken.
Die Wahlbeteiligung der Abgeordnetenhauswahl 2023 war so gering wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Nur 63 Prozent der Wahlberechtigen gaben zum 12. Februar im Wahllokal oder zuvor per Briefwahl ihre Stimme ab.
Was in dieser Statistik zur Wahlbeteiligung untergeht, ist der große Anteil der nicht-wahlberechtigten Bürger:innen. Ein Drittel der Berliner:innen ist nicht wahlberechtigt, zum Beispiel weil diese Personen zu jung sind oder keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Für die Wahl des Abgeordnetenhauses ist Volljährigkeit Voraussetzung. Bei den Bezirkswahlen dürfen auch EU-Bürger:innen wählen und das Mindestalter liegt bei 16 Jahren.
In einigen Ausnahmefällen werden Berliner:innen trotzdem nicht zur Wahl zugelassen, zum Beispiel wenn sie erst in den letzten drei Monaten vor der Wahl zugezogen sind. In seltenen Fällen kann das Wahlrecht aufgrund von schweren Straftaten durch einen Richterspruch entzogen werden. Während circa ein Drittel der Berliner:innen gar nicht an der Wahl teilnehmen darf, entscheidet sich ein weiteres Viertel aus freien Stücken dafür, seine Stimme nicht abzugeben. In Deutschland ist die freie Wahl Kernbestandteil des Grundgesetzes. Das schließt die negative Wahlfreiheit mit ein: Alle haben das Recht, nicht zu wählen.
Ein geringer Teil der abgegebenen Stimmen, 0,9 Prozent, wurde als ungültig gewertet. Eine ungültige Stimme kann bedeuten, dass eine Person den Stimmzettel nicht oder falsch ausgefüllt hat und die Stimme deshalb ungültig ist. Sie kann aber auch bedeuten, dass es einen Fehler bei der Wahl-Durchführung gab – die Wahlleitung unterscheidet die beiden Fälle in der Statistik nicht.
Übrig bleiben 41,3 Prozent der Berliner:innen, die an der Wahl des AGH teilgenommen haben. Mit dem Ausschluss der Parteien, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben, spiegelt das Abgeordnetenhaus die Stimmen von 37 Prozent der Berliner:innen wider. Politische Entscheidungen betreffen hingegen ganz Berlin. Es bedeutet aber auch, dass nur 11,6 Prozent der Berliner Bevölkerung die CDU gewählt haben, SPD und Grüne sogar nur 7,5 Prozent.
Was ebenfalls in vielen Wahlkarten untergeht, ist die Verteilung der Stimmen einer Partei. Hat eine Partei nur dank großer Hochburgen viele Stimmen gesammelt, ist in anderen Bezirken aber nicht vertreten? Oder wird eine Partei durch alle Wahlkreise hinweg gleichmäßig stark gewählt?
Ein sogenanntes „Violinendiagramm“ stellt die Verteilung der Wählerstimmen besser dar. Dafür werden die Stimmanteile, die die Parteien in jedem der etwa 1500 (Brief)-Wahlbezirke erzielt hat, betrachtet. Je dicker der farbige Bereich an einer Stelle ist, desto mehr Stimmbezirke haben für die Partei mit dem angegebenen Prozentsatz gestimmt.
Die CDU hat von allen Parteien die breiteste Verteilung: Sie hat in den verschieden Briefwahlbezirken zwischen 5,7 und 58,8 Prozent der Stimmen gesammelt. In manchen Bezirken erfährt sie große Zustimmung, in anderen kratzt sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Am niedrigsten ist der Anteil der CDU-Wähler:innen in vielen Stimmbezirken in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg.
Die Wahlkreise mit den meisten CDU-Wähler:innen sind hingegen diverser. Ein Stimmbezirk sticht heraus: Zwischen Clayallee und Grunewaldsee in Charlottenburg-Wilmersdorf liegt die CDU knapp vier Prozentpunkte über dem darauffolgenden Bezirk in Rudow.
Besonders auffällig ist die unterschiedliche Kurvenform der SPD und der Grünen, obwohl sie auf das gleiche Gesamtergebnis von 18,4 Prozent kommen. Das Ergebnis der Grünen streut stärker, die Stimmverteilung der SPD ist kompakter. Das heißt, die Grünen polarisieren stärker, ähnlich wie die CDU.
Ihr niedrigstes Ergebnis von nur 1,4 Prozent erhielten die Grünen in Treptow-Köpenick. Diesen Stimmbezirk in Altglienicke gewann die AfD mit 28,5 Prozent. Fast die Hälfte der Wähler:innen entschied sich hingegen für die Grünen in einem Stimmbezirk in Friedrichshain-Kreuzberg um den Möckernkiez herum, wo sich eine genossenschaftliche Wohnsiedlung für selbstverwaltetes, soziales und ökologisches Wohnen befindet.
Die Stimmanteile der SPD liegt dagegen nur zwischen 7,6 Prozent in Friedrichshain-Kreuzberg und 32,6 Prozent in Neukölln. Während es grüne und schwarze Hochburgen in Berlin gibt, in denen die Hälfte aller Wähler:innen für die jeweiligePartei stimmten, gibt es dies für die SPD nicht. Stattdessen erreichte sie in den meisten Stimmbezirken zwischen 15 und 25 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass SPD Wähler:innen gleichmäßiger über ganz Berlin verteilt leben und die Zustimmung zur Partei weniger stark von ihrem Wohnort beeinflusst ist als bei Anhänger:innen der anderen Parteien.
Die Verteilungen der Linken und der AfD ähneln sich. Beide erreichten in vielen Stimmbezirken Ergebnisse um die Fünf Prozent. Die AfD erreichte jedoch nur in wenigen Bezirken Ergebnisse über 15 Prozent. Am niedrigen sind die Werte der AfD in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg. Den höchsten Wert von 32 Prozent erreichte sie Marzahn-Hellersdorf um den Belziger Ring herum – dort gewann sie auch ein Direktmandat und den Wahlkreis für sich.
Die FDP erreichte auf ganz Berlin gerechnet nur 4,6 Prozent der Stimmen und knackte damit nicht die Fünf-Prozent-Hürde. Ihren niedrigsten Wert von nur 0,6 Prozent der Stimmen erhielt sie in Neukölln am Reuterplatz. Ihre größten Werte zwischen 10,6 und 16,2 Prozent erzielte sie in Stimmbezirken in Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf.
In Berlin wählten insgesamt neun Prozent der Wähler:innen eine Kleinpartei. Die Partei Mensch Umwelt Tierschutz, kurz die „Tierschutzpartei“, erhielt dieses Jahr in ganz Berlin 2,4 Prozent der Stimmen. Die satirische Partei „Die Partei“ erreichte 1,4 Prozent. Beide konnten in einigen Stimmbezirken mehr Stimmen für sich gewinnen als die FDP.
6,5 Prozent der Wähler:innen entschieden sich in Spandau um den Germersheimer Platz für die Tierschutzpartei, nur zwei Prozent für die FDP, fünf Prozent für die Linke. Gewonnen hat hier die CDU mit 29,5 Prozent der Stimmen, die Grünen belegten mit 7,5 Prozent nur Platz vier. In Stimmbezirken, wo die Tierschutzpartei hohe Werte erzielte, gibt es kein bestimmtes Muster, welche anderen Parteien sich durchsetzten. Werte von vier Prozent oder mehr erhielt die Tierschutzpartei nur außerhalb des Rings.
„Die Partei“ kratzte mit 4,989 Prozent in Friedrichshain-Kreuzberg um die Gürtelstraße nahe des Ring-Centers an der Fünf-Prozent-Schwelle und überholte die FDP, die nur 4,1 Prozent der Stimmen gewann. Dieser Kiez ist stark links-grün geprägt: Beide Parteien kommen hier gemeinsam auf über 50 Prozent der Stimmen. Dies ist häufig der Fall in Stimmbezirken, in denen Die Partei viele Stimmen gewinnen konnte.