Spricht man mit zwei Linken über Politik, erhält man drei Antworten. So oder so ähnlich lautet eine Anekdote. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass links der Mitte politische Meinungsverschiedenheiten offener ausgetragen werden. Man erinnere sich an die berüchtigte Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen 1999, auf der Joschka Fischer mit einem Farbbeutel beworfen wurde. Auslöser: Seine Position zum Bundeswehreinsatz im Kosovo. Im Gegensatz dazu wurde die CDU, nicht zuletzt unter Angela Merkel, lange als Kanzlerwahlverein verspottet. Streiten Politiker:innen links der Mitte mehr, obwohl sie eigentlich das gleiche wollen? Und lassen sich ähnliche Tendenzen auch für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus beobachten?
Zwar fliegen keine Farbbeutel, aber auch in Berlin konkurrieren viele Parteien links der Mitte um die Gunst der Wähler:innen. Das zeigt eine Analyse der Positionen von 26 der 34 zur Wahl antretenden Parteien, die vollständig die Fragen des Berlin-O-Mat beantwortet haben. Unsere Datenanalyse der Antworten zeigt, dass viele linksliberale Parteien sich in ihren Grundzügen gar nicht so stark voneinander unterscheiden. Das macht nicht nur die Wahlentscheidung komplizierter. Es wirft auch die Frage auf, was „links“ und „rechts“ im Berliner Wahlkampf eigentlich noch bedeutet und wer wo steht.
Wie entscheiden Bürger:innen, welche Partei sie wählen? Entscheidend sind in der Regel nicht die Positionen im Detail, sondern die großen Linien. Umfragen seit den 1950er-Jahren zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung nur wenig über Politik weiß. Das fängt bei Namen einflussreicher Politiker:innen an, schließt aber auch politische Vorgänge mit ein. Selbst wer sich überdurchschnittlich viel mit Politik auseinandersetzt, hat nicht die Zeit, sich durch Berge von Positionspapieren, Parlamentsreden oder Wahlprogrammen zu quälen.
Wenn sich Programme sogar von Bezirk zu Bezirk stark unterscheiden, wird es erst recht unübersichtlich. Leute orientieren sich dann an der Frage, wo sich Parteien bei wichtigen Themen verorten und vergleichen eigene Einstellungen damit. Das könnten zum Beispiel Fragen zur Bekämpfung der Armut sein – oder, ob mehr gegen den Klimawandel getan werden soll.
Antworten, die Parteien auf einzelne Herausforderungen wie diese haben, erfolgen jedoch nicht unabhängig voneinander, selbst für Themen, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben. Es gibt statistische Methoden, die das zeigen: Die sogenannte Hauptkomponentenanalyse erlaubt es, Parteien anhand ihrer politischen Positionen auf Links-Rechts-Achsen anzuordnen. So werden Ähnlichkeiten und Unterschiede sichtbar, die sonst in der Komplexität einzelner inhaltlicher Positionen verborgen bleiben. Die Hauptkomponentenanalyse kommt ursprünglich aus der Psychologie, wo mit ihrer Hilfe Persönlichkeitstypen erforscht wurden. Sie zeigt, wie Antworten auf unterschiedliche Fragen miteinander zusammenhängen. Inzwischen findet die Methode auch Anwendung in der empirischen Politikwissenschaft und anderen Disziplinen. Und sie kann dabei helfen, die Berliner Parteien etwas genauer zu sezieren.
Nehmen wir zwei Fragen aus dem aktuellen Berlin-O-Mat als Beispiel. Zum einen hat der Tagesspiegel die Berliner Landesparteien gefragt, ob Familien in Armut mehr Unterstützung erhalten sollen. Zum anderen wollten wir wissen, ob die Landesparteien den kommunalen Wohnungsbesitz erhöhen möchten. Die Hauptkomponentenanalyse zeigt, dass man die Antworten der Parteien auf Frage zwei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, wenn man alleine ihre Antworten zu Frage eins kennt. Wer dafür ist, dass das Land mehr Wohnungen besitzt, möchte höchstwahrscheinlich auch, dass arme Familien mehr Unterstützung erhalten. Mit anderen Worten: die Antworten für beide Fragen korrelieren hoch miteinander.
Das zeigt sich etwa anhand der Antworten, die Die Linke und die FDP auf die Fragen gegeben haben. Die Linke stimmt der Aussage, dass Familien in Armut mehr Unterstützung erhalten sollen, sehr stark zu. Die FDP ist da skeptischer. Der Aussage, dass der kommunale Wohnungsbesitz in Berlin erhöht werden sollte, stimmt die Linke erneut sehr stark zu, während die FDP das sehr stark ablehnt.
Parteien lassen sich basierend auf ihren ökonomischen Positionen kohärent vergleichend anordnen. Politikwissenschaftler:innen bezeichnen diese Einteilung als die sozio-ökonomische Dimension politischer Ideologie. Das Konzept geht auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler und Ökonomen Anthony Down zurück.
Parteien, die auf der sozio-ökonomischen Dimension links der Mitte stehen, sind für ein stärkeres Eingreifen des Staats in die Wirtschaft und befürworten finanzielle Umverteilung zwischen Arm und Reich (zum Beispiel Die Linke). Parteien, die Positionen rechts der Mitte auf dieser Dimension vertreten, lehnen das ab (beispielsweise die FDP). Aber reicht das, um Parteien effektiv voneinander zu unterscheiden?
Die Grafik zeigt die Positionen der Berliner Landesparteien auf einer ersten Links-Rechts-Achse. Sie basiert auf den Antworten der Landesparteien zu ökonomischen Themen. Wie zu erwarten, tritt Die Linke von allen bisher im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien am stärksten für ökonomische Umverteilung ein. Ihr gegenüber steht die FDP, die staatliche Eingriffe in die Wirtschaft am kritischsten sieht. Zwischen diesen beiden Polen landen Grüne, SPD, CDU und AfD. Besonders auffällig ist die Position der NPD. Ihre Haltung zur Wirtschaft liegt ziemlich genau zwischen SPD und CDU. Bedeutet das, dass die NPD in Berlin Teil der politischen Mitte ist?
Nicht wirklich. Wirtschaftliche Themen sind zwar zentral für die Wahlentscheidung vieler. Für die meisten sind sie alleine aber nicht mehr ausschlaggebend. Das trifft in Westeuropa insbesondere seit den 1980er Jahren zu. Neue Parteien wie die Grünen, aber auch rechtspopulistische Parteien wie der Front National in Frankreich oder die FPÖ in Österreich machten Themen wie Umweltschutz, Migration and Geschlechterpolitik zu zentralen politischen Konfliktlinien.
Politikwissenschaftler:innen haben gezeigt, dass Parteipositionen zu diesen Themen oft miteinander zusammenhängen. Im Berliner Wahlkampf lässt sich das beispielhaft anhand von zwei Fragen zu Migration und Geschlechterpolitik zeigen. Im Berlin-O-Mat antworteten Landesparteien auf die Frage, ob der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Verwaltung erhöht werden sollte. Die Grünen stimmen sehr stark zu, die Berliner AfD lehnt ab. Das gleiche Antwortmuster zeigt sich auch hinsichtlich der Frage, ob Führungspositionen in der Verwaltung und in öffentlichen Unternehmen in gleichen Teilen von Frauen und Männern besetzt werden sollten. Das Antwortverhalten der Parteien zu Migrations- und Genderthemen hängt miteinander zusammen. Wissenschaftler:innen sagen dazu, dass die Antworten zu beiden Themen hoch korrelieren.
Politikwissenschaftler:innen bezeichnen dieses Phänomen seit den 1990er Jahren als die sozio-kulturelle Dimension politischer Ideologie. Parteien, die sozio-kulturell links der Mitte stehen, stehen Migration offener gegenüber und setzten sich für mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern ein. Im Gegensatz dazu sind Parteien, die sozio-kulturell rechte Positionen vertreten, migrationsskeptischer und befürworten konservativere Geschlechterrollen. Auch weitere Themen, zum Beispiel aus der Familienpolitik oder zum Umweltschutz, werden traditionell dieser Dimension zugerechnet. Ökonomische und kulturelle Positionen hängen zwar oft miteinander zusammen. Die zwei-dimensionale Unterscheidung politischer Ideologie erlaubt es aber, Unterschiede zwischen Parteien detaillierter zu betrachten.
Beide ideologische Dimensionen hängen zusammen. Linkere sozio-ökonomische Parteipositionen gehen in der Regel auch mit linkeren gesellschaftspolitischen Positionierungen einher und vice versa. Anders formuliert: Wer Wohnungsbesitz kommunalisieren will, will höchstwahrscheinlich auch Geschlechtergleichheit vorantreiben.
Es gibt jedoch ein paar Ausnahmen. Insbesondere die NPD, die sich bei ökonomischen Themen zwischen SPD und CDU einordnet, ist bei sozio-kulturellen Themen weit rechts abgeschlagen zu finden. Ihr Gegenpol ist die Klimaliste Berlin. Die vertritt sowohl bei ökonomischen als auch bei gesellschaftspolitischen Fragen die linkesten Positionen. Nicht weit entfernt: Linke und Grüne. Beide Parteien besetzen unter den bereits im Abgeordnetenhaus vertretenden Parteien auf der sozio-kulturellen Dimension die linkesten Einstellungen. CDU und AfD sind von den derzeit im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien die mit den sozio-kulturell rechtesten Positionen. In ihren Antworten zu gesellschaftspolitischen Themen unterscheiden sie sich kaum, insbesondere zu Migration und Genderrollen. Die CDU steht bloß wirtschaftspolitisch etwas linker als die AfD.
Die Analyse der Positionen der Berliner Landesparteien zeigt außerdem, dass Umwelt- und Klimaschutz zur ökonomischen Streitfrage geworden sind. Zu Beginn der grünen Bewegung in den 1980er Jahren war das nicht so. Politikwissenschaftliche Forschung war sich lange einig, dass Klimafragen mit sozio-kulturellen Fragen zusammenhängen. Jetzt hat sich das geändert: Politische Diskussionen über ökonomische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels haben im Wesentlichen Debatten über Ausmaß und Auswirkungen des Klimawandels ersetzt. Das führt dazu, dass sich etwa FDP und Grüne heutzutage beim Klimaschutz nicht mehr in erster Linie darin uneinig sind, ob sie den Klimawandel als Bedrohung einschätzen. Stattdessen unterscheiden sie sich in der Frage, ob dafür staatliche Eingriffe in die Wirtschaft berechtigt sind oder nicht. Das ist in neuer Trend, über den noch sehr wenig bekannt ist.
Die Analyse zeigt auch, wie viele Parteien im links-liberalen Spektrum liegen, einen sehr ähnlichen Platz auf der Skala einnehmen – und folglich zumindest teilweise um dieselben Wähler:innen konkurrieren. Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen, die SPD, Die Frauen, die Piratenpartei, B*, die Mieterpartei, die Humanisten, das Team Todenhöfer und LD – sie alle vertreten wirtschafts- und gesellschaftspolitisch linke Positionen.
Das könnte theoretisch sogar linke Bündnisse erschweren. Denn geht man von aktuellen Wahlumfragen aus, werden abgesehen von den jetzigen Koalitionsparteien, höchstwahrscheinlich alle linksliberalen Parteien den Einzug in das Abgeordnetenhaus verpassen. Strategisches Wählen stellt für Wähler:innen dieser Kleinstparteien dann möglicherweise eine Versuchung dar. Damit die eigene Meinung mit größerer Wahrscheinlichkeit im Abgeordnetenhaus zum Ausdruck kommt, wäre es möglich, dass einige Wähler:innen sich strategisch für eine Partei entscheiden, die gute Chancen hat, dort auch einzuziehen.
Trotzdem gibt es gute Gründe Kleinstparteien zu wählen. Außerdem gewichten Parteien Themen unterschiedlich, was Wähler:innen anziehen kann. So legen beispielsweise die Humanisten einen besonderen Wert auf die Trennung von Religion und Staat – nicht bei allen Parteien steht das auf der Agenda. Und zuletzt spielen bei Wahlen Personen eine starke Rolle. Wer Jürgen Todenhöfer mag, muss deswegen noch lange nicht Franziska Giffey sympathisch finden.