147.330 Unfälle wurden 2019 in Berlin gemeldet, 3000 mehr als im Vorjahr. Bei 14.959 Unfällen wurden Personen verletzt. 17.811 Menschen kamen dabei zu Schaden, 40 kamen ums Leben. Laut der offiziellen Unfallstatistik wird dabei zwischen Leichtverletzten, Schwerverletzten und Getöteten unterschieden. Wir zeigen diese „Unfälle mit Personenschaden” auf der interaktiven Karte. Außerdem haben wir uns angeschaut, in welchen Bezirken am meisten Unfälle passieren, wer die häufigsten Unfallverursacher sind und welche Verhaltensweisen besonders oft dafür verantwortlich sind. 13390
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Die ortsgenauen Daten wurden vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg zusammengetragen und als Teil des jährlichen Unfallatlas veröffentlicht. Dabei werden die Unfalldaten der Polizei vor Veröffentlichung noch einmal von den Statistikern geprüft. Ein Teil der Unfälle, bei denen die Ortsangaben der Polizei ungenau oder fehlerhaft sind, wurden vorsichthalber aussortiert. Das sind circa 10 Prozent. Die Berliner Polizei veröffentlich diese Daten nach wie vor selber nicht. Unklar ist außerdem die Dunkelziffer, da nicht alle Unfälle gemeldet werden, selbst wenn dabei jemand verletzt wird.
Fahrradboom hin oder her: an den meisten Unfälle sind nach wie vor Autos beteiligt. Sie machen ein Vielfaches der Unfälle aus, die mit Fahrrädern oder zu Fuß passieren. Dabei erfasst die Statistik, welche Verkehrsmittel an einem Unfall beteiligt sind. Wer den Unfall verursacht hat, wird in dem Unfallatlas leider nicht ersichtlich. Wir haben die Unfälle aus der Karte einmal nach beteiligten Verkehrsmitteln sortiert. Unfälle, an denen nur Autos beteiligt waren, können dabei sowohl Unfälle von einem Auto mit einem anderen sein als auch Unfälle eines einzigen Autos alleine – beispielsweise, wenn es gegen einen Gegenstand geprallt ist oder von der Fahrbahn abgekommen ist:
Auffällig ist also, dass die Unfälle von Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern in den meisten Fällen nicht untereinander passieren, sondern mit Autos. Bei Fußgängern ist das logischerweise noch extremer.
Wie schon letztes Jahr verunglücken besonders viele Menschen in Berlin-Mitte, egal ob mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß. Das zeigt die Unfallstatistik des statistischen Landesamts. Dass die Leute sich dort besonders verantwortungslos fortbewegen, lässt sich daraus aber nicht schließen. Denn in Mitte liegen auch viele der meistbefahrenen Straßen Berlins, allen voran der Mühlendamm, die Gertraudenstraße und die Leipzigerstraße. Schon 2014 fuhren laut Verkehrszählung knapp 73.000 KFZ und alleine 2500 LKW pro Tag über den Mühlendamm. Und mehr Verkehr erhöht auch die Wahrscheinlichkeit für Unfälle.
Interessanter ist deshalb die Frage, auf welchen Teilen der Straße viele Unfälle passieren. Sind es eher Baustellen oder eher Ampeln, an denen es gefährlich wird? Die Datenanalyse liefert da ein eindeutiges Ergebnis. Je stärker sich verschiedene Verkehrsströme mischen, desto höher die Zahl der Unfälle:
Das Verhalten, das am häufigsten zu Verletzten und Toten führt sind Fehler beim Abbiegen, Losfahren oder Wenden. Das gilt aber nur für denjenigen, die mit dem Auto unterwegs sind. Bei Farradfahrenden ist der häufigste Ursache die falsche Benutzung der Straße, vor allem der falschen Fahrbahn. Fahrradfahrerende sind allerdings wesentlich seltener schuld an Unfällen mit Verletzten. Auch Fußgänger werden von ihnen wesentlich seltener verletzt als durch Autos. Auffällig ist auch: Es gibt viel weniger Unfälle durch zu hohe Geschwindigkeit als durch zu wenig Abstand.
Das Problem hat System. Siegfried Brockmann leitet die Unfallforschung im Gesamtverband der Versicherungswirtschaft. Er sagt, dass es wichtig ist, mehr zwischen den Verkehrsteilnehmern zu differenzieren. Bei Radfahrenden stammten etwa zwei Drittel aller „Personenschäden“, also Unfälle, bei denen sich jemand verletzt hat, von Abbiegeunfällen. Zwar seien Rechtsabbiegeunfälle häufiger, aber auch beim Linksabbiegen kommt es zu schweren Unfällen. Getrennte Ampelphasen könnten hier helfen, sagt Brockmann – nicht nur dem Fahrradverkehr, sondern auch den Autofahrern.
Letztlich hat der Verkehr ein Problem, das sich niemals ganz lösen lässt: Die meisten Leute wollen zur selben Zeit an dieselben Orte. Besonders schnell und gerne wollen sie in den Feierabend. Also steigt jeden Nachmittag nicht nur das Verkehrsaufkommen in Berlin, sondern auch die Zahl der Unfälle, bei denen Menschen verletzt werden.
Bei Fußgängern hingegen liegt das Problem etwas anders. Bei ihnen seien „Überschreiteunfälle“ am häufigsten, also wenn ein Fußgänger quer über eine Fahrbahn läuft. Gerade im Dunkeln würden Fußgänger oft spät gesehen. Das Problem könnte noch größer werden. „Da kommt das Thema alternde Gesellschaft massiv auf uns zu”, sagt Brockmann. Für ältere Menschen sei es, ähnlich wie für Kinder, nicht leicht, die eigene Geschwindigkeit mit der Autogeschwindigkeit zusammenzuführen. Damit sie die Straße sicher überqueren können, brauche es sichere Querungen: Anforderungsampeln, also wo der Fußgänger auf Knopfdruck grün bekommt, Zebrastreifen, oder – besser als nichts – eine Mittelinsel. Schaut man sich die Statistik an, kommt es an Fußgängerfurten allerdings oft zu schlimmen Unfällen.
„Wenn jemand schlecht zu Fuß ist, kann man nicht darauf verweisen, dass in 200 Metern eine Ampel steht”, sagt Brockmann. Um solche Situationen zu verbessern, müsse man mehr darauf achten, wo die Ströme des Fußverkehrs entlangführen. Beim Rad-und Autoverkehr tue man das bisher wesentlich mehr. Für den Fußverkehr sei jedoch in den vergangenen Jahren in Berlin nicht viel getan worden.
Schaut man aufs Auto, fällt auf, dass Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern weniger Verkehrstote pro Kopf hat. Das Phänomen gibt es auch in den anderen Stadtstaaten. Das liege daran, dass eine Geschwindigkeit von 50 Kilometer pro Stunde, wie sie in Städten meist gelte, nicht ausreicht, um einen tödlichen Unfall zu verursachen. „Tödliche Autounfälle passieren in Städten tendenziell eher nachts“, sagt Brockmann. Dann werde oft schneller gefahren. Geschwindigkeitsbegrenzungen alleine würden das Problem aber nicht lösen, glaubt Brockmann. „Wenn ich nur anordne und nie kontrolliere, dann bringt das nichts”, sagt Brockmann.
Je nach Verkehrsteilnehmenden brauchen Unfallschwerpunkte also unterschiedliche Maßnahmen, um mehr Unfälle zu verhindern. Tempo-30-Zonen zum Beispiel. „Davon profitieren Radfahren viel weniger als Fußgänger“, erklärt Brockmann. Denn bei den Abbiegeunfällen seien die Autos im Zweifel schon langsamer. Auch die Eigengeschwindigkeit des Radfahrers spiele eine Rolle.
Deshalb könnten einige Maßnahmen die Gefahr noch verschärfen, meint Brockmann. „Wenn wir dem Radfahrer eine perfekte Infrastruktur anbieten, aber an den Kreuzungspunkten nichts ändern, dann verschärfen wir das Problem“, sagt Brockmann. Die Popup-Radwege könnten deswegen neue Gefahren erzeugen. Sie nähmen auf dieses Problem keine Rücksicht.
Als Beispiel nennt Brockmann die Kantstraße. Hier trennen parkende Autos auf der linken Seite den Radfahrer vom Verkehr. Das Problem: Die Autos parken bis in den Kreuzungsbereich. Aus dem Auto kann man dann oft die Fahrräder nicht mehr sehen. Und die sind nun schneller unterwegs, weil sie sich sicherer fühlen. „Vorher wäre ein Radfahrer die Kantstraße möglicherweise gar nicht gefahren“, sagt Brockmann.
Überhaupt: Die Parkplätze. Der Straßencheck, eine gemeinsame Studie von Tagesspiegel und FixMyBerlin, und weitere Studien haben mehrfach gezeigt, wie wichtig das Thema für die Verkehrssicherheit von Radfahrern und Fußgängern ist. Nicht nur wegen der falschparkenden Fahrzeuge auf Radstreifen und Kreuzungen: „Wenn ich parkende Fahrzeuge in der Nähe eines Radwegs zulasse, muss da der Sicherheitsabstand stimmen“, sagt Brockmann. Man muss also von vorneherein genug Platz zur Verfügung stellen. Keine einfaches Problem. Denn jedes Mal, wenn Parkplätze wegfallen sollen, protestierten die Anwohner. Eine Zwickmühle für die Verwaltung.
Für Brockmann ist klar: „Man kann nicht alles wollen – gleichzeitig genügend Parkplätze vorhalten und Rad- und Fußverkehr sicher machen.“
Ob am Schluss die Bequemlichkeit oder die Sicherheit siegt, bleibt also eine politische Frage.
Die Daten werden über den Unfallatlas des Bundesamts für Statistik veröffentlicht. Sie stammen aus den Berichten der Polizei. Bei jedem Unfall muss die Polizei dabei den genauen Ort des Geschehens erfassen. Leider geschieht das nicht immer gleich genau und auf die ganz exakt gleiche Weise. Auch gibt es unter Umständen Unfälle, die nicht direkt auf einer Straße liegen.
Bei der Zuordnung aller Unfälle in Berlin zu den korrekten Straßenabschnitten werden daher diejenigen Unfälle aussortiert, die sich nicht plausibel zuordnen lassen. Auf der Karte werden deshalb nur 13390 von den 14.959 Unfällen dargestellt.
Wie genau der Prozess der Datenprüfung abläuft, erklärte eine Mitarbeiterin des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg auf Anfrage folgendermaßen:
„Bevor die von der Polizei erfassten Unfallkoordinaten auf Basis von Straßenabschnitten zusammengefasst und als Punkte im Unfallatlas dargestellt werden, müssen sie einen mehrstufigen Plausibilisierungsprozess durchlaufen. Während dieses Prozesses können einzelne Unfälle, die den Plausibilisierungsanforderungen nicht genügen, aussortiert werden. Diese Unfälle werden nicht im Unfallatlas abgebildet.”
Neben unvollständigen Angaben zum genauen Ort, können bestimmte Unfälle aber auch aussortiert werden, weil unterschiedliche Definitionen oder Bezeichnungen der Straßen vorliegen. Das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg erklärt das folgendermaßen:
„Um die Unfallkoordinaten den richtigen Straßenabschnitten zuzuordnen, müssen die Daten plausibilisiert werden. Dabei werden die Unfalldaten auch mit den Straßengeometrien der amtlichen Vermessungsverwaltungen abgeglichen. So wird nicht nur die Entfernung der Unfallkoordinate zu einem Straßenabschnitt beurteilt, sondern auch, ob die von den Polizeidienststellen erhobenen Angaben zur Straßenbezeichnung (Bsp. „B54“) und zur Straßenklasse (Autobahn, Bundesstraße, Landesstraße etc.) mit den Daten der Vermessungsverwaltungen übereinstimmen.”
Die Unfälle sind also nicht vollständig für das Jahr 2019, zeigen aber zumindest 90 Prozent der Unfälle. Bei den statistischen Auswertungen zu Unfallverursachern und den genauen Unfallorten beziehen wir uns deshalb auf einen anderen Datensatz von Statistik Berlin-Brandenburg. In diesem Bericht „Straßenverkehrsunfälle im Land Berlin 2019” auf andere Weise direkt von den Landesstatistikern verarbeitet und sind daher vollständiger.
EIne Angabe über die jeweiligen Verursacher der Unfälle, also die tatsächlich Schuldigen pro Unfall, liegt bei den ortsgenauen Daten des Unfallatlas leider nicht vor. Daher kann lediglich angegeben werden, welche Fahrzeuge am Unfall beteiligt waren.