Artikel teilen
teilen

Der lange Weg von Nadine zu Nils - Teil 4 „Für eine Penisplastik ist die Haut des Unterarms am besten geeignet“ Die Operation, die das angeborene Geschlecht dem empfundenen von trans Mann Nils anpasst, steht an. Sein Chirurg Paul Jean Daverio über einen aufwändigen Eingriff, aus einem weiblichen einen männlich aussehenden Körper formt. Text: Ingo Bach
Video: Sophie Peschke

Paul Jean Daverio sitzt gut gelaunt in einem Untersuchungsraum der Meoclinic an der Friedrichstraße, wo er einen Tag später den trans Mann Nils Mertins operieren wird. Mit tiefer Stimme, schweizerischem Akzent und dem einen oder anderen eingeflochtenen Scherz beschreibt er die All-In-One-Operation, die aus dem noch weiblichen Körper seines Patienten an einem Tag einen männlichen formen wird. Man merkt dem inzwischen 80-Jährigen deutlich an, wie stolz er auf das von ihm entwickelte Verfahren ist und wie viel Spaß ihm das macht.

Der Chirurg Paul Jean Daverio hat circa 400 geschlechtsangleichende Operationen für trans Männer durchgeführt. Foto: meoclinic
Das Foto zeigt den Teil der OP, bei dem er den Penoid mit einer Erektionsprothese funktionstüchtig macht. Foto: Tagesspiegel/Sophie Peschke

Herr Daverio, wir treffen uns hier zum Gespräch, kurz bevor Sie mit Ihrem Team einen als Frau geborenen Mann angleichen werden. Wie läuft die OP ab?

Wir werden morgen gleichzeitig drei Operationsteams im OP sein. Eine Gruppe übernimmt die Mastektomie, also die Brustentfernung. Das machen zwei Chirurgen. Das zweite Team entnimmt durch eine Bauch-OP die inneren Geschlechtsorgane, also die Eierstöcke, die Gebärmutter und den Gebärmutterhals. Die dritte Gruppe schließlich, die ich leite, gleicht die äußeren Geschlechtsmerkmale an.

Für viele ist das sicher der entscheidende Teil des Eingriffes. Auch für den Patienten, der morgen auf Ihrem Operationstisch liegen wird, ist dieser OP-Schritt sehr wichtig. Er drückt das so aus: „Ich freue mich darauf, das erste Mal im Stehen zu pinkeln.“ Was müssen Sie dafür tun, damit dieser Wunsch in Erfüllung geht?

Das sind mehrere Schritte. Als erstes verlängern wir die Harnröhre, die bei Frauen kürzer ist als beim Mann, bei dem sie ja noch durch den Penis reichen muss. Dazu lösen wir die inneren Schamlippen von der Vulva und vernähen sie röhrenförmig um einen schmalen Silikonschlauch. Der Schlauch gibt dem Gewebe vorübergehend Halt und Form. Dann wird die Vagina stückchenweise entfernt.

Die Entfernung der Vagina ist sicher der blutigste Teil der gesamten Operation.
Chirurg Paul Jean Daverio

Diese sogenannte Kolpektomie ist sicher der blutigste Teil der gesamten Operation. Bei den übrigen Eingriffen fließt eher wenig Blut. Anschließend verlegen wir die verlängerte Harnröhre. Dazu wird in der unteren Bauchdecke in Höhe des Schamhügels eine neue Öffnung geschaffen und durch sie die Harnröhre nach außen geführt. An dieser Stelle wird dann später der Penoid, also der nachgestaltete Penis positioniert. Die frühere Vagina wird schließlich mit einer Naht verschlossen. Aus dem vernähten Gewebe der äußeren Schamlippen lässt sich dann – aber erst Monate später, nach der vollständigen Abheilung – ein Hodensack formen.

Zur Person
Paul Jean Daverio

Paul Jean Daverio ist Leiter des Fachbereichs für Transgender Operationen bei der Meoclinic Berlin.Der 80-Jährige ist Senior Consultant für die urologische Abteilung des Universitätsspitals Zürich und operiert dort zusammen mit Kollegen, um das erworbene Wissen weiterzugeben. Das in diesem Interview beschriebene All-In-One-Verfahren werde nach eigenen Angaben von weniger als fünf Ärzte-Teams weltweit durchgeführt.

Woraus baut man einen Penis nach?

Aus der Haut am Unterarm. Während die anderen Teams mit der Entfernung der Brüste und der inneren Geschlechtsorgane beschäftigt sind, forme ich am Arm des Patienten einen Penis.

Am Arm …?

Ja, denn die Haut dort ist dafür am besten geeignet. Sie lässt sich gut rollen und fühlt sich im Vergleich zur Beschaffenheit eines angeborenen Penis am ähnlichsten an. Doch das Wichtigste ist, dass in der Haut am Vorderarm viele Nerven verlaufen. Diese bleiben für den Penis vollständig intakt, das ist wichtig für die Sensitivität der Phalloplastik, die dann jener der Haut vom Vorderarm entspricht. Da die Präparierung des Penoides um die zwei Stunden dauert, bleibt die Haut am Arm über eine Arterie und ein paar Venen so lange mit der Blutversorgung verbunden, bis das fertige Organ an seinen neuen Platz verpflanzt wird. Sonst besteht die Gefahr, dass das Gewebe während der Gestaltung der Plastik abstirbt.

Wenige Wochen nach der Operation zeigt sich trans Mann Nils Mertins glücklich mit freiem Oberkörper im Schwimmbad. Foto: Tagesspiegel/Sophie Peschke

Wie wird aus der Haut am Arm ein Penis?

Zunächst trenne ich die Haut und das dazugehörige Unterhautfettgewebe des Unterarms bis auf die Muskulatur und die Knochen ab. So entsteht ein etwa 15 Zentimeter breiter und ein Zentimeter dicker Hautlappen, den ich um einen Silikonschlauch herum zusammenrolle. Der Schlauch hält die spätere Harnröhre offen. Diese Rolle vernähe ich. Den dünneren Teil der Haut, der vor der Entnahme in Richtung Handwurzel zeigte, schlage ich um. Dadurch entsteht eine Kuppe, die einer Eichel ähnelt.

Am Ende ist ein je nach Vorderarm zwischen zwölf und 14 Zentimeter langer Penoid entstanden, der wie ein beschnittener Penis aussieht. Erst wenn er fertig modelliert ist, kappe ich die Blutversorgung vom Arm und verpflanze die Phallusplastik dorthin, wo sie dann hingehört. Dort folgt ein weiterer längerer OP-Abschnitt. Unter dem Mikroskop verbinde ich die präparierten Gefäße der Hautrolle und die Nerven mit der Haut am Schamhügel und der Gefäße der Leiste.

Aber der Unterarm kann ja nicht ohne Haut bleiben.

Das entnommene Gewebe wird von einem anderen Chirurgen durch die Haut einer der entfernten Brüste, die entsprechend präpariert wird, ersetzt. Manchmal wird dafür alternativ auch Haut von der Leiste verpflanzt.

Wie lange dauert eine solche Operation?

Alles in allem operieren wir durchschnittlich um die sieben Stunden. In komplizierten Fällen kann die Operation aber auch mal bis zu zehn Stunden dauern. Das ist für die Teams eine ordentliche Herausforderung.

Für den Patienten wahrscheinlich nicht minder, auch wenn er in Narkose ist. Wenn an Brust, Bauch, Schamhügel, Vagina und Unterarm operiert wird, gibt es viele große Wunden. Eine heftige Belastung für den Körper des Patienten. Wären einzelne über mehrere Wochen oder Monate verteilte Operationen nicht der schonendere Weg?

Ich denke nicht. Wenn wir ordentlich vorbereitet und gut geplant vorgehen, ist die All-In-One-OP in siebeneinhalb Stunden durch. Würde man nur eines machen, zum Beispiel nur die Entfernung der Vagina und die Phalloplastik, dauert das auch mindestens sechs Stunden. Der zeitliche Unterschied ist also nicht sehr erheblich. Und es wären dann eben weitere Eingriffe nötig. Doch bei All-In-One ist alles in einem Rutsch erledigt.

Das ist auch für den Patienten besser. Schon nach vierzehn Tagen kann er Spaziergänge machen, bereits nach zwölf Tagen kann der Blasenkatheter raus und der Patient kann normal Wasser lassen. Und nach drei Wochen ist es möglich, wieder im Büro zu sitzen, wenn der Patient dann schon arbeiten will. Wenn er schwere Arbeiten durchführen muss, dann sollte er vielleicht vier bis sechs Wochen warten. Aber spätestens dann hat er den Angleichungsprozess weitestgehend hinter sich.

Eine große Operation ist besser für den Patienten als mehrere vermeintlich kleinere.

Das klingt relativ einfach.

Nein, das sind solche Operation nie. Die Fristen, die ich eben genannt habe, gelten, wenn es keine Komplikationen gibt, also keine Infektionen, Fisteln, Wundheilungsstörungen und so weiter. Und ebenso vorausgesetzt, dass sich die Narben gut schließen und dass das Transplantat anwächst. Aber solche Risiken bestehen bei jeder Operation, und sie werden wahrscheinlicher, je mehr man davon macht. Abgesehen davon, dass auch die Gefahren mit jeder neuen Narkose steigen. Ich bin deshalb fest überzeugt davon, dass eine große Operation besser für den Patienten ist als mehrere vermeintlich kleinere.

Hintergrund: Psychologische Begutachtung
Angleichende Operation nur bei einem Leidensdruck?

Ein Zustand, der keine Krankheit ist, der aber dennoch (oft kostspielige) Eingriffe erfordert – für Krankenkassen und Medizinischen Dienst (früher MDK) ist die Transidentität ein kompliziertes Erstattungsfeld.

Das Dilemma liegt in der Klassifizierung von Transidentität: Bis 1991 galt sie als „sexuelle Abweichung“, global teilweise bis heute als Delikt oder Straftat. Auch das bis vor kurzem gültige Diagnosenverzeichnis ICD-10 der WHO klassifizierte sie im Abschnitt “Mentale und Verhaltensstörungen” noch als „Störungen der Geschlechtsidentität“, was viele Betroffene als eine Pathologisierung kritisierten.

Mit dem neuen, seit 2022 gültigen und auch in Deutschland schrittweise eingeführten Verzeichnis ICD-11 hat sich das geändert. Die Diagnose heißt nun: “Geschlechtsinkongruenz”. Diese wird als “ausgeprägte und beständige Nichtübereinstimmung zwischen dem erlebten und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht” definiert und findet sich im Abschnitt “Zustand mit Bezug zur sexuellen Gesundheit”.

Doch auch, wenn Transidentität damit nicht mehr als krankhafte Störung gilt, erwarten Betroffene, dass die Krankenkassen die Behandlungskosten für die Angleichung des bei der Geburt zugewiesenen an das erlebte Geschlecht übernehmen.

Dem entgegen steht die seit 2020 gültige Begutachtungsanleitung des Medizinischen Dienstes, die dann greift, wenn Betroffene bei gesetzlichen Krankenkassen den Antrag auf eine Kostenübernahme für angleichende Operationen stellen.

Konkret stören sich Kritiker:innen an der Formulierung, eine “wesentliche Voraussetzung für die Befürwortung der medizinischen Notwendigkeit” einer beantragten Operation sei es, dass ein “klinisch-relevanter Leidensdruck (bestehe), der nicht ausreichend durch psychiatrische und psychotherapeutische Mittel behandelt werden konnte”. Zuerst sei eine psychotherapeutische Behandlung anzusetzen, die eventuell den Leidensdruck mindern und geschlechtsangleichende Behandlungen eventuell unnötig machen könne.

Nach Ansicht von medizinischen Fachgesellschaften bedeute eine reine Transidentität nicht immer gleich Leidensdruck und muss das auch nicht.

Der S3-Leitlinie, also der Behandlungsleitlinie der Fachgesellschaften, zufolge dürfen weder Leidensdruck noch eine Psychotherapie zur Voraussetzung für Behandlungen wie Hormontherapie oder operative Eingriffe gemacht werden.

Trotzdem bestehen auch dann Risiken?

Das Hauptrisiko ist, dass sich Thrombosen bilden, also dass durch die Operation Blutgerinnsel entstehen, die Gefäße verschließen können. Diese Gefahr besteht im Prinzip bei jeder Operation. Speziell für die All-In-One-Operation gibt es noch das Risiko, dass sich die kleinen Gefäße, die vor allem bei der Phalloplastik mikrochirurgisch getrennt und wieder verbunden werden müssen, verschließen und das Gewebe deshalb nicht verheilen kann. Das muss dann sofort wieder geöffnet werden, sobald man das bei der OP feststellt. Andere Thrombosen zeigen sich erst bis zu 48 Stunden nach dem Eingriff, weshalb der Patient in dieser Zeit intensiv überwacht werden muss.

Weitere Gefahren sind Hämatome im Vaginalbereich, eine Komplikation, die sich in der ersten postoperativen Woche zeigen kann. Auch die Brustnarben können Wundheilungsstörungen oder Hämatome zeigen. Und schließlich können sich an der Stelle, an der man die Nerven am Unterarm durchtrennt, Neurome, also Büschel von sprießenden Nerven bilden. Aber die verschwinden meist von allein mit der Zeit.

Die Partnerin oder der Partner des Patienten muss erst einmal lernen, mit dem neuen Penis umzugehen.
Chirurg Paul Jean Daverio

Ein sichtbarer Penis ist für diejenigen, die diese Entscheidung getroffen haben, wichtig. Aber sicher auch ein empfindungsfähiger, der sexuell erregbar ist. Kann man mit Haut, die vom Unterarm verpflanzt wird, einen Orgasmus erleben?

Nicht sofort, aber nach einiger Zeit schon. Wir nutzen dafür zum einen die sogenannten genitalen Nerven, die die großen Schamlippen durchziehen und die nach der Transplantation in den Penoid einwachsen. Diese verleihen ihm die Sensibilität für Berührungen, wie sie die großen Schamlippen haben.

Die andere Sensitivität für sexuelle Reize kommt von der Klitoris. Diese wird bei der Operation nicht entfernt, sondern am Ansatz des Hodensacks, der aus den großen Schamlippen geformt wird, unterhalb der Phalloplastik integriert. Wir nehmen nur die obere Haut der Klitoris weg, so dass die Nerven im Laufe mehrerer Monate ungehindert bis in die Haut des Penoids wachsen können. Im Umfeld der Klitoris bildet sich dann ein Erregungspunkt, der bei sexueller Reizung einen Orgasmus auslösen kann.

Diese Sensitivität ist anders als die Eichel eines angeborenen Penis, oder?

Richtig. Deshalb muss die Partnerin oder der Partner des Patienten auch erst einmal lernen, mit dem neuen Penis umzugehen. So etwas lässt sich aber gut ins Liebesspiel einbauen.

Und schließlich die Funktionsfähigkeit: Kann man mit dem Penoid auch eine Erektion bekommen?

Nicht auf natürlichem Weg, denn ein solcher Penis hat ja keine Schwellkörper. Trotzdem können wir die Fähigkeit zur Erektion bieten. Wir nutzen dafür eine Prothese, wie sie für Männer mit einer schweren organischen Impotenz genutzt wird. Sie besteht aus künstlichen Schwellkörpern, die in den Penis eingearbeitet werden, einer Pumpe und einem Bedienelement, die in den Hodensack implantiert werden. Allerdings steht das nicht sofort zur Verfügung. Die Prothese können wir einbauen, wenn die Nerven für die Sensitivität vollständig ausgebildet sind. Dieser Schritt ist also erst rund acht Monate nach der OP möglich. Dann wird auch erst der Hodensack aus den vernähten äußeren Schamlippen geformt.

Für viele Männer, die mit einem Penis geboren wurden, ist dessen Größe ein Thema. Kann sich ein Patient von Ihnen wünschen, wie groß seine Phallusplastik werden soll?

Er kann sich nur das wünschen, was der Arm hergibt. Die Größe des Penis hängt davon ab, wie groß der Hautlappen ist, den wir aus dem Unterarm entnehmen können. Das sind im Schnitt zwischen zwölf und 14 Zentimeter. Wir können daraus einen normal aussehenden Penis machen, einen Rüssel aber nicht.

Alles in allem kostet die OP zwischen 50.000 und 58.000 Euro.
Chirurg Paul Jean Daverio

Wollen alle, die zu Ihnen kommen, den Weg der Anpassung bis zum Ende gehen?

Nein, viele möchten ihrem Körper einen solch umfassenden Umbau nicht zumuten und sind bereits mit der Entfernung oder umgekehrt mit dem Aufbau einer Brust zufrieden. Denn das prägt die männliche oder weibliche Silhouette am sichtbarsten. Andere sagen, ich will die Brustamputation und auch die Entfernung der Gebärmutter und der Eierstöcke – was sinnvoll ist, damit die männlichen Hormone, die der Patient nehmen muss, besser wirken können. Und umgekehrt kann es für eine Transfrau genügen, die Hoden zu entfernen und die Brust aufzubauen. Und dann gibt es die Gruppe der nonbinären Personen, die für ihren Körper die eine oder andere Entscheidung treffen. Im Prinzip kann die Chirurgie viele Wünsche berücksichtigen.

Hintergrund: Begriffe
Wofür stehen „Nicht-binär“ und „trans“?

Nicht-binäre Personen sind Menschen, die sich nicht den Kategorien Weiblich und Männlich zugehörig fühlen. Manche von ihnen sehen sich komplett außerhalb der beiden Pole, andere irgendwo dazwischen.

Trans Personen sind Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Einige identifizieren sich als binär, also als Frau oder Mann, andere als nicht-binär

Der Wunsch ist das eine, ob man sich dessen Erfüllung leisten kann, das andere. Wie viel kostet eine All-In-One-Operation?

Die drei Operationsteams, die Technik, der große zeitliche Aufwand und die stationäre Nachbehandlung über zwei Wochen haben natürlich ihren Preis. Alles in allem sind das zwischen 50.000 und 58.000 Euro.

Zahlen das die gesetzlichen Krankenkassen?

Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen in der Regel leider nur die Angleichung, die in einzelnen, voneinander zeitlich getrennten Schritten vollzogen wird. Nur einige Kassen zahlen freiwillig die All-In-One-Operation oder zumindest einen Teil davon. Ist man bei anderen Kassen versichert, müssen die Patienten die Kosten für die All-In-One selbst tragen. Bei den Privaten Kassen ist das eine Frage des vereinbarten Tarifs.

Warum zahlen die gesetzlichen Kassen eine solche All-In-One-Operation nicht?

Es ist unlogisch. Dafür gibt es keine medizinischen Gründe und es lohnt sich für die Kassen nicht einmal finanziell. Wenn man alle Kosten zusammenrechnet, sind Eingriffe in Einzelschritten sehr viel teurer, als alles in einer Operation zu erledigen. Denn jedes Mal muss ein OP-Saal genutzt werden, muss eine neue Schicht mit Chirurgen- und Narkoseteam plus OP-Pflegekräften bereitstehen und so weiter.

Die Penisse wurden durch die im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen immer realistischer.
Chirurg Paul Jean Daverio

Zum Schluss eine persönliche Frage: Warum haben Sie sich als Chirurg für dieses doch eher seltene Spezialgebiet entschieden und so viel Zeit in die Entwicklung einer Technik zur Phalloplastik gesteckt?

Das war ein Zufall. Ich bin in der Mikrochirurgie ausgebildeter Allgemein- und Neurochirurg. Ich habe viele Jahre als Oberarzt zum Beispiel an der Universitätsklinik Lausanne operiert – und das sehr oft und in vielen Bereichen, denn damals gab es nur wenige Assistenzärzte – und auch keine 45 Wochenstunden für die Chirurgen, sondern eher 90. Das Thema Work-Life-Balance kam erst später in den Krankenhäusern an. Aber so konnte ich reichlich Erfahrungen bei sehr vielen Operationen sammeln und sehr verschiedene Techniken erlernen.

Irgendwann begann ich, Hautlappen aus dem Unterarm an andere Stellen des Körpers zu verpflanzen, um Verletzungen zu reparieren, beispielsweise am Bein oder am Hals. Ich habe mich ebenso intensiv mit der Mikrochirurgie an der Hand beschäftigt, vor allem mit der Verbindung von durchtrennten Nerven und feinen Blutgefäßen. Das alles ist die Erfahrungsbasis, die ich brauchte, um eine Technik für den Aufbau und die Verpflanzung einer Phalloplastik zu entwickeln.

Wie sind Sie von der Hand und dem Hals zum Penis gekommen?

Auf einem Kongress für Mikrochirurgie habe ich gesehen, wie Chirurgen in Shanghai einen Hautlappen aus dem Unterarm genommen haben, um daraus einen Penis, der bei dem Patienten durch einen Unfall schwer verletzt war, wieder aufzubauen. Ich dachte: Super, gute Idee. Mein ehemaliger Professor in Lausanne sprach mich etwas später an: Du hast doch Erfahrungen mit der Verpflanzung der Unterarmhaut. Kannst Du nicht bei einem meiner transsexuellen Patienten einen Penis rekonstruieren? Ich antwortete: Okay, aber das machen wir alles in einer Sitzung.

Das war mein erster Patient für eine All-in-One-OP, damals im Jahr 1986. Die Erfahrungen damit haben wir dann auch publiziert. Seit dem habe ich die Technik immer weiterentwickelt. Denn ich sah, wie groß das Bedürfnis von Menschen ist, das Aussehen und die Funktionen ihres Körpers möglichst nahe an das Geschlecht anzugleichen, dem sie sich im Inneren zugehörig fühlen. Wir schenken Penisse. Und die wurden durch die im Laufe der Jahre gesammelten Erfahrungen immer realistischer.

Die Phalloplastik ist sozusagen die Kirsche auf der Torte.
Chirurg Paul Jean Daverio

Aber macht das „Geschenk“ die Patienten immer glücklich? Sie operieren in einem Feld, in dem sich auch psychologische Fragen stellen. Zum Beispiel: Wie sicher ist sich der Patient, dass er diese Anpassung tatsächlich und wirklich will und vor allem, ob sich allein dadurch sein Leben verbessert?

Deshalb operieren wir nicht jeden gleich, der sich einen Penis wünscht. Alle Patienten, die zu mir in den OP kommen, sind umfangreich psychologisch untersucht worden, um zu klären, ist das wirklich ein transsexueller Mensch, der unter seiner körperlichen Situation leidet. Und sie haben dann ja auch schon eine längere Therapie hinter sich, haben über Monate Testosteron bekommen. Es gibt also Ergebnisse, wie jemand die Hormone verträgt.

Dann muss der Patient natürlich in die soziale Welt integriert sein, oder anders gesagt, er muss sein Outing gehabt haben vor der Familie, Freunden, im Job … Erst dann kann man sagen, das passt, der nächste Schritt der körperlichen Angleichung ist möglich. Dann sind in diesem Prozess schon mindestens zwei oder drei Jahre vergangen, bevor ich erst ich ins Spiel komme. Da ist die Phalloplastik sozusagen die Kirsche auf der Torte.

Trotzdem werden Ihnen sicher auch Transsexuelle begegnen, die sehr viel Erwartungen in die Operation stecken, dass ihr Leben danach ein anderes, besseres sein wird. Setzen Sie solche Erwartungen, die über den medizinischen Erfolg einer Operation ja weit hinausgehen, unter Druck?

Eigentlich nicht, denn ich weiß ja inzwischen, dass das Leben der Betroffenen danach tatsächlich meist besser ist. Wenn alles normal läuft, die OP ohne Komplikationen, wie Fisteln, Verengungen oder Thrombosen verläuft und die anatomische Situation den Patienten danach zufriedenstellt, dann integrieren sich die Betroffenen sehr gut in die Gesellschaft, in die Familie. Sie heiraten, adoptieren Kinder und das funktioniert perfekt.

Bei manchen, wenigen Patienten frage ich mich aber schon, wie werden sie in ihrem weiteren Leben mit den Veränderungen klarkommen. Da gibt es die einen, bei denen die Integration so gut klappt, dass man kaum erwarten konnte, wie wohl sich der Mensch ein Jahr nach der Operation fühlen würde. Es gibt aber auch die anderen, die ein Leben lang psychotherapeutische Unterstützung benötigen.

Ist Ihnen schon mal ein Fall begegnet, wo ein Patient oder eine Patientin die anatomische Angleichung bereut hat?

Bei der Angleichung von Mann zu Frau gibt es einen einzigen Fall in meiner Statistik – ich habe etwa 400 solcher Operationen durchgeführt – wo die Patientin sagte: Hätte ich gewusst, dass es so schwierig danach werden würde, hätte ich das vielleicht nicht gemacht. Die Frau wurde danach wahrscheinlich nicht gut integriert in der Gesellschaft oder war zuvor nicht ausreichend intensiv psychologisch untersucht worden. Aber auf der anderen Seite gab es unter den 1200 Phalloplastiken, die ich im Laufe der Jahre durchgeführt habe, nicht einen einzigen solchen Fall. Ich denke, das sagt einiges darüber aus, was ich seit 1986 mache.

Das Team

Ingo Bach
Interview
Julia Brigasky
Bildredaktion
Sophie Peschke
Foto & Video
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Hendrik Lehmann
Produktion
David Meidinger
Webentwicklung
Morten Wenzek
Social Projektleitung
Veröffentlicht am 20. Juli 2024.