Die große Schlacht wird kommen. Davon ist Muhammad überzeugt. Der Mann, der in diesem Text so genannt werden will, sitzt an einem Tag im Januar in einer Wohnung in Beirut und raucht eine Zigarette nach der anderen. Er sagt: „Dann wird die Welt Raketenlärm hören wie nie zuvor.“
Muhammad spricht von der Auslöschung Israels.
Nach einem Raketenangriff auf die israelisch besetzten Golanhöhen mit zwölf Toten am Samstag greift Israel Ziele der Hisbollah im Libanon an. Das bringt Israel und die Hisbollah an den Rand eines offenen Krieges. Er könnte die ganze Region ins Chaos stürzen.
Seit Beginn des Krieges am 7. Oktober feuert die Hisbollah, eine vom Iran finanzierte Miliz, die längst einer Armee gleicht, auf Israel. Israel schießt zurück. Und lenkt die Aufmerksamkeit der Welt darauf, dass sie ihren Einfluss im Libanon seit Jahren stetig vergrößert hat. Was treibt ihre Unterstützer an – und wie funktioniert die Organisation?
Alle in Muhammads Familie seien Mitglieder der Hisbollah, erzählt er. Er selbst? Nein, sagt er, bezeichnet sich aber als „Teil des Projekts Hisbollah“.
Das Projekt Hisbollah durchdringt im Libanon alle Bereiche der Gesellschaft und des alltäglichen Lebens, manche Libanesen unterstützen sie aktiv. Aussteigen? So gut wie unmöglich.
Laut dem US-Thinktank „Center for Strategic and International Studies“ ist die Hisbollah der am schwersten bewaffnete, nichtstaatliche Akteur der Welt. Mit ihren geschätzt 20.000 Kämpfern, 20.000 Reservisten und 200.000 Raketen ist sie weitaus mächtiger als die Hamas – oder die libanesische Armee.
Aber nicht Waffen allein machen die Hisbollah so gefährlich. Ihren politischen und gesellschaftlichen Einfluss im Libanon baut sie seit ihrer Entstehung während des libanesischen Bürgerkriegs – genauer: infolge der israelischen Invasion und Belagerung Beiruts im Jahr 1982 – systematisch aus.
Seit 1992 sitzen Mitglieder als Politiker im Parlament und sind Teil der Regierung. Die Hisbollah betreibt einen eigenen TV-Sender, Schulen, Krankenhäuser, hat ein eigenes Finanz- und Sozialsystem. Teile des Landes sind unter ihrer Kontrolle: die Bekaa-Ebene im Nordosten, der Süden des Libanon sowie den südlichen Teil der Hauptstadt Beirut.
Dort stehen Geldwechsler am Straßenrand, Imbissbetreiber braten Falafel. Dahiye wirkt wie ein normaler Stadtteil – wären da nicht die Checkpoints, die Soldaten und die überlebensgroßen Märtyrer-Plakate an den Häuserwänden.
Muhammad ärgert sich darüber, was europäische Medien über die Hisbollah schreiben. Der Westen missverstehe seine Organisation, vor allem ihr Verhältnis zum Iran. „Wir sind kein iranischer Proxy. Wir sind integraler Teil des Projekts.“
Den Iran beschreibt er als Partner, nicht als Befehlsgeber. „Wir nehmen keine Befehle entgegen“, sagt er und gestikuliert, an seinem Handgelenk trägt er eine Designer-Uhr. Immer wieder verlangt er, dass man ihm in die Augen schaut. Der Beantwortung von Fragen weicht er mit langen historisch-religiösen Exkursen aus.
Muhammad sagt er sei 47 Jahre alt, sieht mit seinem grauen Bart aber älter aus. Er kennt jedes historische Detail. Spricht er über die Terrororganisation, sagt er: wir. Es heißt, seine Familie sei seit der Hisbollah-Gründung 1982 mit ihr verwoben und einflussreich. Verwandte von ihm würden Raketenstützpunkte in den grenznahen Bergen und Trainingscamps in der Bekaa-Ebene betreiben.
Muhammad sagt, er sei im Immobiliengeschäft tätig – Wohngebäude, mehr will er nicht verraten. Medienberichten zufolge bietet die Hisbollah armen Menschen vergünstigte Wohnungen an. Unter einer Voraussetzung: dass dort Waffen gelagert werden dürfen.
Das zeigt, wie unbehelligt die Hisbollah im Libanon militärisch agiert. Analysten zufolge hat sie Militärzonen, betreibt Waffenlager und Trainingscamps. Einige davon befinden sich direkt neben militärischen UN-Einrichtungen und denen des libanesischen Militärs.
Vor allem an der Grenze zu Israel beobachten Analysten das seit Jahren mit Sorge. Dass die Hisbollah bisher nicht voll in den Krieg der Hamas gegen Israel eingestiegen ist, liegt – so interpretieren es manche – daran, dass sie um ihren Rückhalt in Teilen der libanesischen Gesellschaft bange. Ohne ihn könnte sie hier nicht ungestört agieren. Die von Kriegen und Wirtschaftskrise geplagte Bevölkerung will keinesfalls in den Konflikt hineingezogen werden.
Darauf angesprochen, versucht Muhammad sich in islamistischer Diplomatie. Der Krieg sei das Verdienst der Hamas, da wolle man sich nicht einmischen – aus Respekt. „Aber wir unterstützen alle, die gegen die Juden sind.“
Tatsächlich bemüht sich die Hisbollah im Libanon derzeit, moderat aufzutreten. Ihr parlamentarischer Arm, die gleichnamige Hisbollah, gilt als normale Partei. Bei den letzten Wahlen erlangte sie knapp 20 Prozent der Stimmen.
Der libanesische Übergangs-Außenminister Abdallah Bou Habib erklärte das Verhältnis Ende Januar in einem Interview so: „Wir haben kein Problem mit der Hisbollah. Wir reden die ganze Zeit miteinander. Ja, ich teile viele Informationen mit der Partei und umgekehrt.“
Auch Muhammad betont, wie moderat die Ziele der Hisbollah seien. „Wir wollen keinen islamischen Staat im Libanon“, das sei auch so ein Missverständnis. Tatsächlich veröffentlichte die Hisbollah 2009 ein islamistisches Manifest, in dem sie ihren vorherigen Plan für einen islamischen Staat im Libanon verwarf.
In einem Staat, in dem Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen leben, wäre ein islamischer Staat wohl kaum durchsetzbar. Muhammad erklärt, es gehe nicht darum, die anderen religiösen Gruppen loszuwerden, sondern die Kluft zwischen ihnen aufzulösen.
Tatsächlich unterstützen nicht mehr nur Schiiten die Hisbollah. Laut einer Umfrage von 2020 sehen auch 16 Prozent der libanesischen Christen und acht Prozent der Sunniten die Hisbollah „eher positiv“. Jetzt, wo ein neuer Krieg droht, hört man auch von Nicht-Schiiten häufiger, die Hisbollah sei die einzige Kraft, die den Libanon vor Israel beschützen könne. Der Bürgerkrieg in den Achtzigern, die israelische Invasion 2006 und anhaltende Verletzungen des Luftraums belasten das Verhältnis des Libanon zu Israel.
Hinzu kommt, dass es der Hisbollah gelingt, Funktionen des schwachen libanesischen Staats zu ersetzen: Sie verteilt Essenspakete, betreibt Schulen, Jugendorganisationen und Krankenhäuser. In einem Land, in dem es keine funktionierende Regierung und nicht einmal ein stabiles Stromnetz gibt, kommt das gut an.
Muhammad vermittelt vergünstigte Krankenhausbehandlungen an Arme. Dafür rufe er Ärzte der Hisbollah an oder organisiere Geld bei Funktionären. „Das ist Teil meiner islamischen Tugend“, sagt er und betont helfe auch Menschen, die gegen die Hisbollah seien. Andere sagen, die Hisbollah unterstütze nur ihre eigenen Leute.
Er sagt: „Die Hisbollah ist hier Teil der Gesellschaft.“
Ein Mann, der hier Hassan heißen soll, sieht das anders.
Gegenden wie die Dahiye habe die Hisbollah „an den Eiern“, sagt er. „Wir sind Versuchskaninchen des Iran.“
Das Treffen mit Hassan erfolgt unter strengen Auflagen: keine Fotos, keine Sprachaufnahmen, keine Ortsangaben. Er sei aus der Hisbollah ausgestiegen, sagt er, und es klingt an: Das ist riskant und verlangt Vorsicht. Wem vertrauen? Schnell gilt man als Verräter. Hassan sagt, er habe Familie und Freunde, die in der Hisbollah aktiv sind. So richtig raus kommt er nicht, auch, weil die Hisbollah überall im Land Einfluss nimmt.
Auch Hassan, der 60 Jahre alt ist, hat die Hisbollah „15 oder 20 Jahre“ unterstützt. Als die Miliz im Entstehen begriffen war, kämpfte er im libanesischen Bürgerkrieg gegen Israel. Mit der islamistischen Ideologie habe er schon damals wenig anfangen können, sagt er. „Ich wollte nicht als Märtyrer sterben.“
Während seiner zwölf Jahre, die er für die Hisbollah arbeitete – Zeitraum und Tätigkeit lässt er offen –, sei er kein Kämpfer mehr gewesen. Trotzdem zeigt er in einem Fotoalbum Bilder von sich in Militär-Uniform und mit Maschinengewehr im Schnee; er in einem Panzerfahrzeug. Die Aufnahmen seien in Syrien und kurdischen Gebieten entstanden, erzählt er.
Die Hisbollah kollaboriert mit dem syrischen Assad-Regime, schickte zu Beginn des dortigen Krieges Tausende Kämpfer ins Land. Im Libanon – und in der ganzen arabischen Welt – sehen viele den blutigen Einsatz kritisch, selbst Hisbollah-Unterstützer.
Hassan berichtet von seinem Bruder, der dort gesehen habe, wie die Hisbollah Zivilisten ermordete. Ihn selbst habe zudem geärgert, dass er nicht befördert worden sei, weil andere bevorzugt wurden. „Ich fühle mich von ihnen betrogen“, sagt Hassan.
Außerdem würden sie den Schiiten im Libanon nicht helfen, sondern sie abhängig machen. „Sie halten die Leute strategisch arm, damit sie keine andere Wahl haben, als Kämpfer zu werden.“ Während die dann in den Tod geschickt würden, führen die Söhne der hohen Funktionäre in Geländewagen in den libanesischen Städten herum. „Die Korruption hat die Hisbollah aufgefressen“, sagt er. Und dann sei da noch die Sache mit der Kampfdroge Captagon.
Analysten zufolge finanziert sich die Hisbollah unter anderem mit Geldern aus dem Ausland und internationalen Drogengeschäften. Vor allem handele sie mit im Libanon angebautem Cannabis und dem Amphetamin Captagon, das größtenteils in Syrien hergestellt wird und eine der meistgenutzten Drogen im Nahen Osten ist. Immer wieder wird die Hisbollah bei Drogengeschäften und anderen kriminellen Aktivitäten erwischt – ihr Netzwerk umfasst fast alle Regionen der Welt.
Als auch sein Bruder, der Kämpfer, bei der Hisbollah aussteigt und nach Deutschland geht, stehen Hisbollah-Funktionäre vor Hassans Tür. Sie hätten gefragt, ob sein Bruder nicht von Deutschland aus für die Hisbollah arbeiten wolle. Hassan sagt, er habe eine Whiskeyflasche nach ihnen geworfen. Dann hätten sie ihn in Ruhe gelassen.
Dass sich „das jüdische Problem“ militärisch lösen lässt, daran glaube er nicht mehr, sagt er. „Wir haben genug Zerstörung gesehen, aber keine Resultate.“ Viele, die er aus seiner Zeit bei der Hisbollah kenne, seien mittlerweile tot oder alkoholabhängig. „Wieso lösen wir es nicht friedlich?“ Mit Gewalt klappe es ja offenbar nicht.