Ohne den Christopher Street Day (CSD) hingegen stünde das Thema Gleichstellung an dritter Stelle, internationale Politik an erster.
Die nachfolgenden Grafiken zeigen, bei welchen Demos der letzten fünfeinhalb Jahre die Polizei die meisten Teilnehmenden gezählt hat – und für welche Themen die meisten Veranstaltungen stattfanden.
Antisemitismus und Rassismus machen nur einen geringen Teil der Demonstrationen zu Gleichstellung aus, wie der langfristige Teilnehmer*innen-Vergleich zeigt.
Selbst nach dem antisemitischen Anschlag in Halle 2019 verlief sich die Aufmerksamkeit für das Thema schnell.
Das Beispiel zeigt: Bemerkenswert ist nicht nur, dass bestimmte Demos stattfinden. Auch ihr Ausbleiben oder allmähliches Verschwinden sagt etwas über den politischen Puls der Stadt.
„Viele Proteste sind anlassbezogen und reaktiv“, sagt Swen Hutter, Professor für Politische Soziologie an der Freien Universität Berlin. Der Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung untersucht seit Jahren politische Bewegungen und Demonstrationskultur. Für langfristige Mobilisierung brauche es hingegen „starke mobilisierende Netzwerke, Allianzpartner in der Politik“, außerdem „günstige Gelegenheiten“.
Antisemitismus konnte als Demo-Thema offenbar nicht verfangen, obwohl er das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland ungebrochen bedroht. Zum Thema Rassismus gibt es 60 Prozent mehr gezählte Teilnehmende als zu Antisemitismus.
Zwar ist das Thema Gleichstellung und Diskriminierung das mit den meisten Teilnehmer*innen. Ohne die großen CSD-Paraden wäre das allerdings nicht der Fall.
Wenig überraschend finden in Mitte viele Demos mit nationalem und internationalem Bezug statt. Vor Kanzleramt, Brandenburger Tor und Co. ist Berlin Stellvertreter-Ort für ganz Deutschland. Aber auch in anderen Bezirken demonstrieren Menschen für nationale und internationale Themen.
Die Grafik zeigt, wie unterschiedlich Berlins Bezirke ticken. Wenig überraschend: In Bezirken, in denen die Wohnungsnot groß ist, wird eher für Stadtentwicklungs-Themen demonstriert, zum Beispiel in Friedrichshain-Kreuzberg. Corona-Themen haben in Marzahn-Hellersdorf und Reinickendorf stärker verfangen – beides Bezirke, in denen tendenziell insgesamt wenige Demos stattfinden.
Die Coronaproteste haben sich also verstetigt, und zwar als dezentrale Bewegung, die neue Gruppen der Gesellschaft mobilisiert hat. Das passe zur Entwicklung der Coronaproteste in ganz Deutschland, sagt Hutter. Die Mobilisierung sei zunehmend dezentral verlaufen und habe „oftmals auch Milieus” umfasst, „die nicht zu den gängigen Protestierenden zähl(t)en.“
Außerdem hätten die Corona-Demos zunehmend andere Themen mit einbezogen, zum Beispiel Frieden. „Der harte Kern der Corona-Proteste wurde sehr stark mobilisiert“, sagt Hutter. Es haben sich starke Netzwerke gebildet, gleichzeitig werde das Thema zunehmend mit anderen Themen vermischt, zum Beispiel Frieden.
Eine mögliche Folge davon ist womöglich die vergleichsweise stärkere Präsenz von Demos zu Patriotismus, Pegida und Co. in äußeren Bezirken Berlins, zum Beispiel in Reinickendorf und Spandau. In Pankow und Steglitz-Zehlendorf sind „Querdenken“-Demos Ausreißer nach oben.
Im Zuge des Ukrainekrieges werden eventuell andere Themen wichtiger. 2023 kamen bislang dreimal mehr Menschen zu Demonstrationen mit Russland-Bezug. Auch Finanzpolitik wird wichtiger – 22 Prozent mehr Menschen gehen zu diesen Veranstaltungen. Die Wirtschaftskrise hat Berlins Demo-Kultur erreicht.
Zwar sei es laut Protestforscher Hutter zu früh, einen Trend abzulesen, vor allem wegen des Pandemie-Effekts. Dennoch sei die Zunahme von Wirtschaftsthemen „interessant“. Das deute möglicherweise „auf die multiplen Krisen unserer Zeit hin, die in ihrer Wechselwirkung das Protestgeschehen prägen“.
Auch mediale Debatten prägen scheinbar, wofür Menschen in Berlin auf die Straße gehen. Gleichstellungs-Themen wie Inklusion, Antidiskriminierung und Queerpolitik werden immer wichtiger. Auch Verkehrsthemen bringen Berliner*innen zunehmend auf die Straßen.
Verdrängen diese Themen andere? Demos zu Flucht und Asyl, Antisemitismus und Armut sind weniger teilnehmerstark geworden. In wirtschaftlich unsichereren Zeiten betrachten Menschen womöglich verstärkt ihre eigene Situation, weniger die anderer – auch wenn sich die Deutschen mittlerweile wieder etwas weniger Sorgen machen.
Auch Stadtentwicklungs- und Klimathemen erhalten 2023 bisher weniger Aufmerksamkeit. „Die Klimabewegung hat mit Blick auf Teilnehmerzahlen nicht an ihre Stärke vor der Pandemie anschließen können“, sagt Hutter, der bei seinen Forschungen zu ähnlichen Ergebnissen kam. Gleichzeitig sehe man mehr „konfrontative Formen zivilen Ungehorsams“ von Klimaaktivist*innen sagt er.
Mitte September hat Amnesty International erstmals Deutschland auf die Liste der Länder aufgenommen, in denen die Versammlungsfreiheit eingeschränkt wird.
Die Menschenrechts-NGO bemängelt Repressionen gegen Klimaaktivist*innen und in Berlin auch Verbote pro-palästinensischer Demonstrationen. „Diese Verbote schränken das Recht auf Versammlungsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise ein“, heißt es in dem Bericht.
In Prozessen gegen Klimaaktivist*innen sieht Amnesty zudem „einen gefährlichen Präzendenzfall im Umgang des Staates mit Protestbewegungen“. Beschwerden Demonstrierender über Repressionen haben längst auch Berlin erreicht.
Die Daten stammen aus der Veranstaltungsdatenbank der Polizei Berlin. Die Informationsfreiheits-Anlaufstelle „FragDenStaat“ hat sie erfragt. Die Polizei wollte sie zunächst nicht herausgeben, sondern tat es erst, nachdem FragDenStaat nachwies, dass die Daten aus der Datenbank exportiert werden können. Das taten die Informations-Aktivist*innen, indem sie zunächst die Anordnung erfragten, in der die Polizei den Umgang mit der Datenbank regelt.
Mit den Daten von Januar 2018 bis Mitte Juli 2020 hat „FragDenStaat“ mit Datenvisualisierungs-Expert*innen von „webkid“ eine Analyse veröffentlicht.
Die Daten von Januar 2018 bis Mitte Mai 2023 hat FragDenStaat dem Tagesspiegel Innovation Lab zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Die Daten von Mitte Mai bis Ende August 2023 haben wir zusätzlich bei der Berliner Polizei angefragt.
Um die Demo-Daten auswertbar zu machen, haben wir allen Demos eines oder mehrere Themen zugeordnet - teilweise automatisch mithilfe von Schlagwort-Listen, deren Ergebnisse wir überprüft haben, teilweise händisch. Bei der Klassifizierung der Themen haben wir uns weitgehend an einer Taxonomie des Wissenschaftszentrums Berlin orientiert.
Ist eine Demo mehreren Themen zugeordnet, werden die Teilnehmer*innen mehrfach gezählt. Eine Veranstaltung, die sich mit der iranischen Frauenbewegung solidarisiert, zählt zum Beispiel sowohl zum Thema internationale Politik (Unterthema: Außenpolitik) als auch zum Thema Bürgerrechte (Unterthema: Frauen und Frauenrechte).
Um mehr über die Orte von Demonstrationen zu erfahren, haben wir die Adressen und Straßennamen von Kundgebungen und Demonstrationen geokodiert. Für das Jahr 2022 haben wir die Routen aller sich bewegenden Demos nachgezeichnet. In der interaktiven Karte sind die Startpunkte der Demos vermerkt.
Da eine Demo zwischen einem und 350.000 Teilnehmer*innen haben kann, ist die Zahl der Veranstaltungen allein nur begrenzt aussagekräftig. Deshalb haben wir das Demo-Geschehen zusätzlich nach Teilnehmer*innen ausgewertet. So lässt sich ein realistischeres Bild davon gewinnen, wie stark welche Themen mobilisieren.
Aber auch diese Zahlen haben Einschränkungen: Die Polizei zählt insgesamt nur rund 73 Prozent aller Demos, große Veranstaltungen haben statistisch betrachtet eine etwas größere Chance, gezählt zu werden. Der 73-Prozent-Anteil der gezählten Demos bleibt über die Jahre mehr oder weniger konstant, bloß während des ersten Corona-Lockdowns gab es einen kurzzeitigen Einbruch. Die Polizei teilt auf Anfrage mit, die Entscheidung, bei einer Veranstaltung nachzuzählen oder zu -schätzen, erfolge nicht nach Thema oder Größe der Veranstaltung.
Es ist möglich, dass nicht alle bekannten Teilnehmer-Zählungen in der Datenbank vorhanden sind. Die Polizei geht von einer Fehlerquote von unter einem Prozent aus, teilte sie auf Anfrage mit. Beim jährlich stattfindenden Christopher Street Day etwa haben wir Teilnehmer-Zahlen für die Jahre 2019 und 2022 bei der Polizei separat erfragt und ergänzt. Für den CSD 2023 liegen keine konkreten Zahlen vor, hier ist seitens Veranstalter und Polizei lediglich von „mehreren Hunderttausend“ die Rede. Für diesen Einzelfall haben wir 200.000 Teilnehmer*innen angenommen.
Auch den Fridays-for-Future-Klimastreik von 2022 haben wir in den Daten ergänzt. In den Polizeidaten waren versehentlich 36 statt 36.000 Teilnehmende vermerkt.
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