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Demo-Analyse Berlin

Wofür gehen die Leute auf die Straße?

Weniger Teilnehmer bei Klimademos, immer noch Corona-Proteste – und die Inflation verändert, was den Menschen wichtig ist. Demos in der Hauptstadt: die Themen, die Ereignisse, die Erregungswellen.
Weniger Teilnehmer bei Klimademos, immer noch Corona-Proteste – und die Inflation verändert, was den Menschen wichtig ist. Demos in der Hauptstadt: die Themen, die Ereignisse, die Erregungswellen.
Demonstrationen pro Monat in Berlin
33.083 Demos gab es seit 1. Januar 2018 in Berlin. In den letzten zwölf Monaten waren es 6975 – durchschnittlich 19 pro Tag.
Die Zahl der monatlichen Demos hat seit 2018 leicht zugenommen. Bloß während der Corona-Lockdowns brach sie ein. Das zeigt eine exklusive Auswertung von Polizeidaten durch FragDenStaat und Tagesspiegel.
Während die Zahl der Demos leicht zugenommen hat, bleibt die der Teilnehmenden relativ gleich. Das wird deutlich bei einem Blick auf den längerfristigen Trend.
Die monatliche Teilnehmenden-Zahl an allen Demos hingegen zeigt: Es gibt Ausreißer. Große Veranstaltungen bringen bis zu 350.000 Menschen auf die Straße. Bei Teilnehmenden-Auswertungen sind nur Veranstaltungen berücksichtigt, bei denen die Polizei gezählt hat (73 Prozent).
Welche Themen mobilisieren? Anhand der Kategorien von Bewegungsforschern haben wir allen 33.083 Demos seit 2018 Themen zugeordnet. Die wichtigsten Großthemen: 1. Bürgerrechte und Gleichstellung, 2. internationale Politik, 3. Klima, Umwelt, Energie, 4. Arbeits- und Sozialpolitik.
Die Klimabewegung mobilisiert offenbar nicht mehr so viele wie vor der Pandemie.
Und das, obwohl es weiterhin viele Veranstaltungen zum Thema Klima gibt. Seit Anfang 2022 organisiert die „Letzte Generation“ Straßenblockaden.
Als die Klimademo-Teilnehmenden weniger wurden, folgte Corona. Pandemie und Lockdowns veränderten schlagartig das Leben aller und das Demo-Geschehen – bis der Ukraine-Krieg dasselbe tat.
Seit Ende 2022 nimmt die Zahl der Demos zu Corona langsam ab. Aber auffällig ist: Das Thema ist weiterhin präsent.
Mit 22.500 Teilnehmern war der „Tag der Freiheit“ gegen die Maßnahmen im August 2020 die größte Demo zum Thema Corona. Im selben Monat folgte der „Sturm auf den Reichstag“ mit hunderten Teilnehmern.
Die meisten Demos gibt es in Berlin für Anliegen mit internationalem Bezug. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat das Thema weiter an Bedeutung gewonnen.
Der Anstieg der Teilnehmenden bei internationalen Themen ist nicht allein Folge des Krieges. Im August 2023 kamen 50.000 Menschen aus ganz Europa zum Großen Stern, um sich mit Frauen im Iran zu solidarisieren: Berlin wurde zur weltpolitischen Bühne.
Auch Lokales ist präsent. „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ mobilisierte vor dem ersten Volksentscheid 2021. Danach zog das Thema Wohnen und Mieten seitdem weniger Menschen an als davor. Vielleicht ändert sich das bald wieder: DW enteignen bringt ein neues Referendum auf den Weg.
Über die Jahre wichtiger wird außerdem das Thema Gleichstellung: Frauenrechte, sexuelle Selbstbestimmung, Inklusion, die Rechte Queerer und der Opfer von Rassismus. Zählt man die Christopher Street Days mit, ist es das teilnehmerstärkste Thema.

Ohne den Christopher Street Day (CSD) hingegen stünde das Thema Gleichstellung an dritter Stelle, internationale Politik an erster.

Die nachfolgenden Grafiken zeigen, bei welchen Demos der letzten fünfeinhalb Jahre die Polizei die meisten Teilnehmenden gezählt hat – und für welche Themen die meisten Veranstaltungen stattfanden.

Themen mit den meisten Teilnehmern seit 2018
Die Grafik zeigt die Zahl der Teilnehmenden pro Thema von Januar 2018 bis August 2023.
Themen mit den meisten Demos seit 2018
Die Grafik zeigt die Zahl der Demonstrationen pro Thema von Januar 2018 bis August 2023.
Daten: Polizei Berlin, eigene Auswertung

Antisemitismus und Rassismus machen nur einen geringen Teil der Demonstrationen zu Gleichstellung aus, wie der langfristige Teilnehmer*innen-Vergleich zeigt.

Selbst nach dem antisemitischen Anschlag in Halle 2019 verlief sich die Aufmerksamkeit für das Thema schnell.

Teilnehmer an Demos mit Bezug zum Thema Antisemitismus
Die Grafik zeigt die Zahl der Teilnehmenden pro Monat für alle Demos, die dem Thema Antisemitismus zugeordnet wurden.
Daten: Polizei Berlin, eigene Auswertung

Das Beispiel zeigt: Bemerkenswert ist nicht nur, dass bestimmte Demos stattfinden. Auch ihr Ausbleiben oder allmähliches Verschwinden sagt etwas über den politischen Puls der Stadt.

„Viele Proteste sind anlassbezogen und reaktiv“, sagt Swen Hutter, Professor für Politische Soziologie an der Freien Universität Berlin. Der Direktor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung untersucht seit Jahren politische Bewegungen und Demonstrationskultur. Für langfristige Mobilisierung brauche es hingegen „starke mobilisierende Netzwerke, Allianzpartner in der Politik“, außerdem „günstige Gelegenheiten“.

Antisemitismus konnte als Demo-Thema offenbar nicht verfangen, obwohl er das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschland ungebrochen bedroht. Zum Thema Rassismus gibt es 60 Prozent mehr gezählte Teilnehmende als zu Antisemitismus.

Zwar ist das Thema Gleichstellung und Diskriminierung das mit den meisten Teilnehmer*innen. Ohne die großen CSD-Paraden wäre das allerdings nicht der Fall.

Wenig überraschend finden in Mitte viele Demos mit nationalem und internationalem Bezug statt. Vor Kanzleramt, Brandenburger Tor und Co. ist Berlin Stellvertreter-Ort für ganz Deutschland. Aber auch in anderen Bezirken demonstrieren Menschen für nationale und internationale Themen.

Die wichtigsten Themen nach Bezirken
Die Grafik zeigt, welche Themen in den Bezirken prominent waren. In Klammern steht die Zahl der Demos zu diesem Unterthema im genannten Bezirk.
Daten: Polizei Berlin, eigene Auswertung

Die Grafik zeigt, wie unterschiedlich Berlins Bezirke ticken. Wenig überraschend: In Bezirken, in denen die Wohnungsnot groß ist, wird eher für Stadtentwicklungs-Themen demonstriert, zum Beispiel in Friedrichshain-Kreuzberg. Corona-Themen haben in Marzahn-Hellersdorf und Reinickendorf stärker verfangen – beides Bezirke, in denen tendenziell insgesamt wenige Demos stattfinden.

Die Coronaproteste haben sich also verstetigt, und zwar als dezentrale Bewegung, die neue Gruppen der Gesellschaft mobilisiert hat. Das passe zur Entwicklung der Coronaproteste in ganz Deutschland, sagt Hutter. Die Mobilisierung sei zunehmend dezentral verlaufen und habe „oftmals auch Milieus” umfasst, „die nicht zu den gängigen Protestierenden zähl(t)en.“

Außerdem hätten die Corona-Demos zunehmend andere Themen mit einbezogen, zum Beispiel Frieden. „Der harte Kern der Corona-Proteste wurde sehr stark mobilisiert“, sagt Hutter. Es haben sich starke Netzwerke gebildet, gleichzeitig werde das Thema zunehmend mit anderen Themen vermischt, zum Beispiel Frieden.

Eine mögliche Folge davon ist womöglich die vergleichsweise stärkere Präsenz von Demos zu Patriotismus, Pegida und Co. in äußeren Bezirken Berlins, zum Beispiel in Reinickendorf und Spandau. In Pankow und Steglitz-Zehlendorf sind „Querdenken“-Demos Ausreißer nach oben.

Im Zuge des Ukrainekrieges werden eventuell andere Themen wichtiger. 2023 kamen bislang dreimal mehr Menschen zu Demonstrationen mit Russland-Bezug. Auch Finanzpolitik wird wichtiger – 22 Prozent mehr Menschen gehen zu diesen Veranstaltungen. Die Wirtschaftskrise hat Berlins Demo-Kultur erreicht.

Die Themen mit den größten Teilnehmer-Zuwächsen 2023
Die Grafik zeigt in Prozent, welche Themen 2023 (Januar bis August) mehr Teilnehmer*innen pro Monat hatten. Verglichen wurden der Zeitraum Januar 2018 bis Dezember 2022 mit 2023.
Berücksichtigt wurden Themen mit mehr als 500 monatlichen Teilnehmenden. Der massive Zuwachs bei Kultur-Demos erklärt sich aus der „Rave the Planet“-Parade 2023, die als Demonstration registriert war.
Daten: Polizei Berlin, eigene Auswertung

Zwar sei es laut Protestforscher Hutter zu früh, einen Trend abzulesen, vor allem wegen des Pandemie-Effekts. Dennoch sei die Zunahme von Wirtschaftsthemen „interessant“. Das deute möglicherweise „auf die multiplen Krisen unserer Zeit hin, die in ihrer Wechselwirkung das Protestgeschehen prägen“.

Auch mediale Debatten prägen scheinbar, wofür Menschen in Berlin auf die Straße gehen. Gleichstellungs-Themen wie Inklusion, Antidiskriminierung und Queerpolitik werden immer wichtiger. Auch Verkehrsthemen bringen Berliner*innen zunehmend auf die Straßen.

Verdrängen diese Themen andere? Demos zu Flucht und Asyl, Antisemitismus und Armut sind weniger teilnehmerstark geworden. In wirtschaftlich unsichereren Zeiten betrachten Menschen womöglich verstärkt ihre eigene Situation, weniger die anderer – auch wenn sich die Deutschen mittlerweile wieder etwas weniger Sorgen machen.

Die Themen mit den größten Teilnehmer-Abnahmen 2023
Die Grafik zeigt in Prozent, welche Themen 2023 (Januar bis August) weniger Teilnehmer*innen pro Monat hatten. Verglichen wurden der Zeitraum Januar 2018 bis Dezember 2022 mit 2023.
Berücksichtigt wurden Themen mit mehr als 500 monatlichen Teilnehmenden.
Daten: Polizei Berlin, eigene Auswertung

Auch Stadtentwicklungs- und Klimathemen erhalten 2023 bisher weniger Aufmerksamkeit. „Die Klimabewegung hat mit Blick auf Teilnehmerzahlen nicht an ihre Stärke vor der Pandemie anschließen können“, sagt Hutter, der bei seinen Forschungen zu ähnlichen Ergebnissen kam. Gleichzeitig sehe man mehr „konfrontative Formen zivilen Ungehorsams“ von Klimaaktivist*innen sagt er.

Mitte September hat Amnesty International erstmals Deutschland auf die Liste der Länder aufgenommen, in denen die Versammlungsfreiheit eingeschränkt wird.

Die Menschenrechts-NGO bemängelt Repressionen gegen Klimaaktivist*innen und in Berlin auch Verbote pro-palästinensischer Demonstrationen. „Diese Verbote schränken das Recht auf Versammlungsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise ein“, heißt es in dem Bericht.

In Prozessen gegen Klimaaktivist*innen sieht Amnesty zudem „einen gefährlichen Präzendenzfall im Umgang des Staates mit Protestbewegungen“. Beschwerden Demonstrierender über Repressionen haben längst auch Berlin erreicht.

Über die Daten

Die Daten stammen aus der Veranstaltungsdatenbank der Polizei Berlin. Die Informationsfreiheits-Anlaufstelle „FragDenStaat“ hat sie erfragt. Die Polizei wollte sie zunächst nicht herausgeben, sondern tat es erst, nachdem FragDenStaat nachwies, dass die Daten aus der Datenbank exportiert werden können. Das taten die Informations-Aktivist*innen, indem sie zunächst die Anordnung erfragten, in der die Polizei den Umgang mit der Datenbank regelt.

Mit den Daten von Januar 2018 bis Mitte Juli 2020 hat „FragDenStaat“ mit Datenvisualisierungs-Expert*innen von „webkid“ eine Analyse veröffentlicht.

Die Daten von Januar 2018 bis Mitte Mai 2023 hat FragDenStaat dem Tagesspiegel Innovation Lab zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Die Daten von Mitte Mai bis Ende August 2023 haben wir zusätzlich bei der Berliner Polizei angefragt.

Um die Demo-Daten auswertbar zu machen, haben wir allen Demos eines oder mehrere Themen zugeordnet - teilweise automatisch mithilfe von Schlagwort-Listen, deren Ergebnisse wir überprüft haben, teilweise händisch. Bei der Klassifizierung der Themen haben wir uns weitgehend an einer Taxonomie des Wissenschaftszentrums Berlin orientiert.

Ist eine Demo mehreren Themen zugeordnet, werden die Teilnehmer*innen mehrfach gezählt. Eine Veranstaltung, die sich mit der iranischen Frauenbewegung solidarisiert, zählt zum Beispiel sowohl zum Thema internationale Politik (Unterthema: Außenpolitik) als auch zum Thema Bürgerrechte (Unterthema: Frauen und Frauenrechte).

Um mehr über die Orte von Demonstrationen zu erfahren, haben wir die Adressen und Straßennamen von Kundgebungen und Demonstrationen geokodiert. Für das Jahr 2022 haben wir die Routen aller sich bewegenden Demos nachgezeichnet. In der interaktiven Karte sind die Startpunkte der Demos vermerkt.

Da eine Demo zwischen einem und 350.000 Teilnehmer*innen haben kann, ist die Zahl der Veranstaltungen allein nur begrenzt aussagekräftig. Deshalb haben wir das Demo-Geschehen zusätzlich nach Teilnehmer*innen ausgewertet. So lässt sich ein realistischeres Bild davon gewinnen, wie stark welche Themen mobilisieren.

Aber auch diese Zahlen haben Einschränkungen: Die Polizei zählt insgesamt nur rund 73 Prozent aller Demos, große Veranstaltungen haben statistisch betrachtet eine etwas größere Chance, gezählt zu werden. Der 73-Prozent-Anteil der gezählten Demos bleibt über die Jahre mehr oder weniger konstant, bloß während des ersten Corona-Lockdowns gab es einen kurzzeitigen Einbruch. Die Polizei teilt auf Anfrage mit, die Entscheidung, bei einer Veranstaltung nachzuzählen oder zu -schätzen, erfolge nicht nach Thema oder Größe der Veranstaltung.

Es ist möglich, dass nicht alle bekannten Teilnehmer-Zählungen in der Datenbank vorhanden sind. Die Polizei geht von einer Fehlerquote von unter einem Prozent aus, teilte sie auf Anfrage mit. Beim jährlich stattfindenden Christopher Street Day etwa haben wir Teilnehmer-Zahlen für die Jahre 2019 und 2022 bei der Polizei separat erfragt und ergänzt. Für den CSD 2023 liegen keine konkreten Zahlen vor, hier ist seitens Veranstalter und Polizei lediglich von „mehreren Hunderttausend“ die Rede. Für diesen Einzelfall haben wir 200.000 Teilnehmer*innen angenommen.

Auch den Fridays-for-Future-Klimastreik von 2022 haben wir in den Daten ergänzt. In den Polizeidaten waren versehentlich 36 statt 36.000 Teilnehmende vermerkt.

Haben Sie einen Fehler gefunden? Sie erreichen uns unter digital@tagesspiegel.de.

Das Team

Corin Baurmann
Datenverarbeitung
Eric Beltermann
Entwicklung und Datenverarbeitung
Nina Breher
Koordination, Datenanalyse, Recherche
Moritz Valentino Donatello Matzner
Datenverarbeitung und -analyse
Tamara Flemisch
Entwicklung und Datenverarbeitung
Kirk Jackson
Entwicklung
Hendrik Lehmann
Koordination und Redigatur
Lennart Tröbs
Design, Datenvisualisierung
Helena Wittlich
Recherche und Datenverarbeitung
Veröffentlicht am 5. Oktober 2023.