Artikel teilen
teilen
Leben in der Dauerkrise

Sorgen in Deutschland gehen zurück – aber bei einigen steigt die Wut

Sorgen um Geld? Die machen sich heute viel weniger Deutsche als noch vor einem Jahr. Exklusive neue Forschungsdaten aber zeigen: Manche werden in der Dauerkrise wütend. Und sympathisieren mit extremen Parteien.
Sorgen um Geld? Die machen sich heute viel weniger Deutsche als noch vor einem Jahr. Exklusive neue Forschungsdaten aber zeigen: Manche werden in der Dauerkrise wütend. Und sympathisieren mit extremen Parteien.

Die Inflationsrate ist noch immer hoch, im Ukrainekrieg sterben weiter Menschen. Trotzdem machen sich die Deutschen weniger Sorgen um ihre ökonomische Situation als noch vor einigen Monaten. Mittlerweile haben sie weniger Angst um ihren Arbeitsplatz oder persönliche Ausgaben als noch im November. Auch die Sorge um die Energiekrise nimmt ab – und damit die Unterstützung für den Klimaschutz.

Diese Ergebnisse gehen aus einer Langzeitumfrage des FZI Forschungszentrum Informatik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hervor. Seit dem 4. November 2022 befragt das Forschungsprojekt regelmäßig eine repräsentative Gruppe von circa 1500 Menschen in Deutschland. Die Ergebnisse differenzieren nach Region, Geschlecht und Altersgruppe. So lässt sich ungewöhnlich genau die Stimmung im Land abbilden. Da gibt es große Unterschiede unter den Geschlechtern, Regionen und je nach Einkommen. Und in einem Teil der Bevölkerung sorgt die Dauerkrise aus Krieg, Klimawandel und Konsumeinschränkungen für Wut. Ein paar Ergebnisse zeigen wir Ihnen in Grafiken.

Rechnung, Einkauf, Arbeitsplatz – ökonomische Sorgen nehmen ab
Die Grafik zeigt die Antworten auf die Frage: „In welchem Maße bereiten Ihnen die folgenden Dinge Sorgen?“
Daten: SoSec/FZI/KIT

Auf einer Skala sollten die Befragten unter anderem alle paar Wochen angeben, wie sehr sie sich sorgen, ihre Rechnungen nicht bezahlen zu können. Antwortete im November noch die Mehrheit der Bevölkerung, sich sehr große oder große Sorgen zu machen, gaben im August die meisten an, sich „wenig Sorgen” zu machen. Ähnlich beim alltäglichen Konsum:  44 Prozent gaben im November noch an, dass sie Sorgen haben, sich beim Einkauf einschränken zu müssen.

Weniger Unterschiede gab es bei der Angst um den Arbeitsplatz. 7,7 Prozent machten sich im November sehr große Sorgen um ihren Arbeitsplatz, im Juli 2023 waren es nur noch 5,3 Prozent.

Große Unterschiede nach Region und Geschlecht 

Besonders ängstlich waren Frauen: Sie sorgten sich deutlich stärker als männliche Teilnehmer. Inmitten der Gas-Krise im Winter war der Abstand zwischen den beiden Geschlechtern noch größer. Aber auch heute machen sich noch 42,5 Prozent der Frauen in Deutschland Sorgen, sich beim Einkauf einschränken zu müssen. Zumindest auf emotionaler Ebene trafen Inflation und Krieg Frauen wesentlich härter.

Frauen sorgen sich stärker als Männer
Die Grafik zeigt, wie viel Prozent mit „etwas Sorgen“ oder „sehr viel Sorgen“ auf die Frage antworteten: „In welchem Maße bereiten Ihnen die folgenden Dinge Sorgen?“.
Aufgrund der sehr kleinen Stichprobe werden die Ergebnisse für Befragte, die sich als divers identifizieren, nicht angezeigt.
Daten: SoSec/FZI/KIT

Die Wirtschaft erklärt das Problem nicht alleine

„Im vergangenen Herbst hatten anscheinend noch mehr Menschen das Gefühl, die Energiekrise verschlechtert die eigene Situation”, sagt Jonas Fegert, Leiter des Forschungsprojekts. Es habe ein Unsicherheitsgefühl gegeben, weil „es nicht klar schien, wie das Land durch die Energiekrise kommt, teils verstärkt durch die mediale Debatte darum”. Die zugleich steigenden Energiepreise haben dann wohl Ängste ausgelöst, nicht mehr so einkaufen zu können, wie sonst. Recht deutlich spiegelt sich auch die Inflation in den Umfragen wider. Lag sie im Januar noch bei 8,7 Prozent, war sie bis Juli auf 6,2 Prozent gesunken. Die Sorgen nahmen in ähnlichem Maß ab.

Seit einigen Monaten stagnieren Energiepreise und Inflation. Trotzdem sorgen die Menschen sich immer weniger. Es scheint eine Art Gewöhnungseffekt eingesetzt zu haben, sagt Fegert. Das Phänomen wurde schon öfter beschrieben: Stagnieren Preise für einen längeren Zeitraum, setzt laut Forschungen von Marktpsychologen ein Gewöhnungseffekt ein.

Die Sorgen der Befragten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, nahmen hingehen immer weiter ab. Im Mittel gaben die Befragten im August an, sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Das ist nicht sonderlich überraschend: Derzeit sind 850.000 offene Arbeitsstellen gemeldet, ein Rekordwert.

So unterschiedlich sind Sorgen in Deutschland verteilt 

Die ausführlichen Befragungen machen auch regionale Unterschiede sichtbar. Im Südwesten sorgten sich die Befragten weniger, sich beim Einkauf einschränken zu müssen, als in den östlichen Bundesländern. Im Juli sah das leicht anders aus, auch wenn sich, vor allem in Thüringen, immer noch Viele Sorgen machten.

Einkaufssorgen im November
Die Grafik zeigt, wie viel Prozent auf die Frage „In welchem Maße bereitet es Ihnen Sorgen, sich beim Einkaufen einschränken zu müssen?“ mit „sehr viele Sorgen“ antworteten.
Daten: SoSec/FZI/KIT
Einkaufssorgen im Juli
Vor allem in östlichen Bundesländern gaben die Befragten an, größere Sorgen zu empfinden. In Bayern, Thüringen und Schleswig-Holstein nahmen die Sorgen in den vergangenen Monaten von November zu Juli zu.
Daten: SoSec/FZI/KIT

Die gestiegenen Lebenshaltungskosten könnten die Menschen im ehemaligen Osten Deutschlands stärker treffen. Hier sind die Löhne nach Angaben des Instituts für (IW) um rund 10 Prozent niedriger. Gleichzeitig sind Lebenshaltungskosten im Osten kaum noch günstiger. Wer weniger hat, den treffen Einsparungen mehr.

Weniger Probleme, weniger Handlungsbereitschaft? 

Welche Schlussfolgerungen ziehen die Menschen daraus? Fragt man konkret nach den Folgen der Energiekrise, sind die Befragten optimistischer als noch im November. Der Aussage „Die Energiekrise verschlechtert meine Situation” stimmen nun immer weniger Menschen aus allen Einkommensklassen zu.

„Die Energiekrise verschlechtert meine Situation“ – niedriges Einkommen
Die Grafik zeigt Antworten in Prozent – nach Zustimmung und Ablehnung im Zeitverlauf seit Beginn der Umfrage.
Daten: SoSec/FZI/KIT
„Die Energiekrise verschlechtert meine Situation“ – hohes Einkommen
Insgesamt ging die Zustimmung seit November leicht zurück – die Energiekrise trifft Befragte weniger als im Winter.
Daten: SoSec/FZI/KIT

Nahezu parallel dazu nimmt die Zustimmung zur Aussage „Deutschland muss in Sachen Klimaschutz viel mehr machen.“ ab. Trotzdem sind weiterhin Menschen bereit, ihren Energieverbrauch für den Klimaschutz einzuschränken – 44 Prozent stimmten der Aussage zu oder voll und ganz zu.

Auffällig ist, dass die Sorge um die Klimakrise allgemein relativ konstant bleibt, ungeachtet der Entwicklungen bei Inflation und der Sorge vor dem Ukrainekrieg.

Mehr Sorgen um Klimawandel als um Wohlstand
Die Grafik zeigt die Antworten auf die Frage: „In welchem Maße bereiten Ihnen die folgenden Dinge Sorgen?“
Daten: SoSec/FZI/KIT

Pessimistischer blicken die Menschen auf die allgemeine Lage hierzulande. Immer weniger Befragte glauben, dass Deutschland besser durch die aktuellen Herausforderungen kommt als andere Länder. Und dass sich Viele bereits an den stattfindenden Krieg gewöhnt haben, ändert wohl auch etwas an ihrer Einstellung dazu.

„In Deutschland kommen wir besser durch die aktuellen Herausforderungen als andere Nationen“
Die Grafik zeigt, wie viel Prozent die oben genannte Aussage ablehnen – und glau­ben, dass das Land schlechter durch Herausforderungen kommt als im November.
Daten: SoSec/FZI/KIT

Die Zustimmung zur Aufnahme von Geflüchteten geht inzwischen leicht zurück. Stattdessen glauben inzwischen immer mehr Menschen, dass Deutschland die Ukraine noch bis zum Ende des Krieges militärisch unterstützen sollte.

Wie leben wir mit der Dauerkrise?

Der Ukrainekrieg ist für einige anscheinend genauso zur Gewohnheit geworden wie Inflation und Klimawandel. Was diese Kombination der Dauerkrisen langfristig mit den Menschen macht, wollen die Forschenden der Langzeitstudie „Social Sentiment in Times of Crises” in der nächsten Zeit herausfinden. Das Projekt, das von der Alfred Landecker Foundation gefördert wird, untersucht, ob es bestimmte „Kippmomente” gibt, innerhalb derer persönliche Sorgen zu gesellschaftlicher Ablehnung werden – oder umgekehrt. Wie werden solche Krisen von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen?

Während die Sorgen bei den meisten Menschen inzwischen zurückgehen und viele außerdem angeben, sich persönlich besser zu fühlen, fällt eine Gruppe aus dem Rahmen. Und zwar bei der Aussage, „Wut über die Situation zu empfinden“. Hier lässt sich kaum ein Trend nach einzelnen Regionen oder Geschlechtergruppen ausmachen. Außer bei der Gruppe der Befragten, die eine hohe Zustimmung zur AfD angeben. Hier nimmt die Wut zu. Insgesamt 73 Prozent von ihnen stimmten der Aussage zu oder voll und ganz zu: „Ich empfinde große Wut, wenn ich über die momentane Situation nachdenke.“ Bei den Sympathisanten aller anderen Parteien nahm die Wut in derselben Zeit ab.

„Ich empfinde große Wut, wenn ich darüber nachdenke, wie wir in die aktuelle Situation geraten sind.“
Die Grafik zeigt, wie viel Prozent der Befragten mit „Stimme voll und ganz zu“ oder „Stimme zu“ geantwortet haben und mit der entsprechenden Partei sympatisieren.
Daten: SoSec/FZI/KIT

Manche politischen Akteure schafften es anscheinend eher als andere, Angst in Wut zu verwandeln, sagt FZI-Forscher Fegert: „Dies steht symptomatisch für eine Verrohung des politischen Diskurses.” In Zeiten gezielter Desinformation berge diese Entwicklung langfristig die Gefahr, „dass einzelne Akteure die Stimmung nutzen, um die Demokratie zu destabilisieren“. Wenn sich Krise zu Wut und Wut zu Sympathie für politische Extreme wandelt, wird es schwer, gesellschaftliche Probleme auszuhandeln.

Die Dauerkrisen treffen also nicht nur unterschiedliche Bevölkerungsgruppen völlig unterschiedlich. Sie werden auch sehr unterschiedlich von der Politik verhandelt – oder eben ausgenutzt.

Das Team

Hendrik Lehmann
Text, Datenauswertung
Lennart Tröbs
Design
Helena Wittlich
Text, Datenauswertung
Veröffentlicht am 20. September 2023.