So viel Wahl war noch nie: Sechs Stimmen auf einmal dürfen die Berlinerinnen und Berliner am 26. September abgeben. Zwei für die Bundestagswahl, eine zum Volksentscheid, zwei fürs neue Abgeordnetenhaus und eine für die Bezirkswahlen, also die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen. Ganz schön viele Entscheidungen auf einmal!
Sich zu den Positionen der Parteien auf Bundes- und Landesebene zu informieren ist recht einfach. Die mediale Berichterstattung ist breit, die Parteien investieren hohe Summen, ihre Positionen an Laternenpfosten und Plakatwände zu hängen und digitale Wahlentscheidungshilfen wie der Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung machen es Unentschlossenen leicht, zu entscheiden, welche Partei die eigenen Überzeugungen am besten vertritt. Die lokalen Bezirkswahlen fallen dabei oft hintenüber. Viele Menschen wählen für den eigenen Bezirk schlicht die Partei, die sie auch für das Abgeordnetenhaus wählen.
Dabei sind die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen wesentlich mächtiger als den meisten klar ist. Kein Wunder. Schließlich leben 245.000 (Spandau) bis 410.000 (Pankow) Menschen in den einzelnen Bezirken. Wären sie separate Städte, würden sie auf Platz 15 bis 30 der deutschen Großstädte landen. Auch die politischen Gestaltungsmöglichkeiten sind umfangreicher als man meinen könnte. Und das gerade bei den Themen, die in Berlin besonders umstritten sind, die den eigenen Kiez betreffen.
Forschende der Humboldt Universität zu Berlin und der Tagesspiegel haben deshalb einen neuen Parteienvergleich entwickelt, mit dem alle unkompliziert die Positionen der Bezirksparteien und der Berliner Landesparteien auf einmal vergleichen können: den Berlin-O-Mat. Erstmals gibt es damit eine kombinierte Wahlentscheidungshilfe für die Landes- und Bezirksebene. Sie ist genauer und deutlich vielfältiger als die politischen Entscheidungshilfen, die bisher existieren.
Hier können Sie den Berlin-O-Mat ausprobieren:
Die Bezirke sind zuständig für Verkehrsplanung, die Schulen, den Ankauf und Schutz von Mietshäusern oder die Einrichtung von Milieuschutzgebieten. Auch andere lebensnahe Fragen wie die Umgestaltung des Parks nebenan, die Schaltung von Ampeln, das Aufstellen von Straßenschildern für die Verkehrsberuhigung oder die Unterbringung von Geflüchteten entscheiden die Bezirke. Außerdem können viele Entscheidungen auf Landesebene von den jeweils regierenden Parteien in den Bezirken entweder verstärkt oder über Jahre blockiert werden.
Und das werden sie auch. Denn während in Friedrichshain-Kreuzberg die grüne Mehrheit den Radverkehr fördert, wird beispielsweise die Bezirksverordnetenversammlung Marzahn-Hellersdorf von der Linken (26 Prozent) und der AfD (23) dominiert. Hier politische Mehrheiten für Entscheidungen zu finden, funktioniert anders. Auch das Wahlrecht ist anders. Auf Bezirksebene darf schon ab 16 Jahren gewählt werden. Und – im Gegenteil zur Abgeordnetenhauswahl – dürfen hier alle Menschen aus EU-Ländern wählen, nicht nur deutsche Staatsbürger. Und auf Bezirksebene gibt es nur eine Drei-Prozent-Hürde. Diese zu erreichen ist für kleine Parteien einfacher als fünf Prozent auf Landesebene.
Aber auch die Parteien unterscheiden sich in ihren Positionen teils drastisch voneinander, je nachdem um welchen Bezirksverband es sich handelt. Das hat schon die Recherche zum Berlin-O-Mat gezeigt. Dafür hat Jochen Müller, Professor für Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland an der HU Berlin gemeinsam mit Master-Studierenden über 300 politische Thesen entwickelt – vom Ausbau bestimmter Straßen in einzelnen Bezirken bis hin zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Gemeinsam mit allen zwölf lokalen Tagesspiegel-Leute-Redaktionen, der Berliner Politikredaktion und dem Tagesspiegel Innovation Lab wurden aus diesen Themen die 120 relevantesten Thesen herausdestilliert. Die lokalen Redakteurinnen und Redakteure der zwölf Tagesspiegel-Bezirksnewsletter konnten sich dabei nicht nur auf ihre Erfahrung aus jahrelanger Berichterstattung aus den Bezirksparlamenten stützen, sondern auch auf das konstante Feedback, das sie ständig von den mehr als 250.000 Abonnentinnen und Abonnenten erhalten. [Hier können Sie die Leute-Newsletter kostenlos abonnieren].
Die 120 Thesen wurden an alle antretenden Parteien und Wahlvereinigungen der zwölf Bezirke und die Landesparteien verschickt. Insgesamt waren das 189 einzelne Organisationen. Letztlich haben sich mehr als 90 Prozent der kontaktierten Parteien und Wahlvereinigungen beteiligt. Über 9162 einzelne Antworten haben wir so gesammelt. Die Parteien konnten die Thesen bewerten: Von starker Zustimmung bis starker Ablehnung. Und sie konnten dazu eine Begründung einreichen, falls gewünscht. Damit ist der Berlin-O-Mat die erste Online-Wahlhilfe, die berlinweit für alle Bezirke angeboten wird.
All diese Positionen können alle Berlinerinnen ab heute kostenfrei und anonym mit ihren eigenen politischen Positionen vergleichen. Als Ergebnis spuckt der Berlin-O-Mat aus, mit welchen Parteien Sie wie viel Übereinstimmung haben – für die Bezirkswahl und für die Abgeordnetenhauswahl. Wer nicht so viel Zeit hat, kann schon nach 15 Fragen aussteigen und sich die Ergebnisse anzeigen lassen. Das dauert gerade einmal fünf Minuten. Wer ein genaueres Ergebnis erhalten möchte, kann sich durch immer weitere Thesen klicken.
Gleichzeitig eröffnet das Projekt der politikwissenschaftlichen Forschung völlig neue Möglichkeiten. So können wir beispielsweise ausrechnen, ob die Wünsche der Menschen in manchen Bezirken wirklich mit den Parteipositionen übereinstimmen – oder auch, wie einig oder uneinig sich die Parteien sind. Bei den Antworten der Parteien sind so manche Überraschungen dabei.