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Drogenanalyse in 104 Städten

Koks in Europa auf dem Vormarsch – Crystal Meth ebenfalls

Nach der Pandemie steigt der Drogenkonsum wieder an – in einigen Städten besonders. Berlin liegt bei allen Drogen über dem Durchschnitt – besonders sonntags. Alle Ergebnisse der europaweiten Abwasseranalyse in Karten und Grafiken.
Nach der Pandemie steigt der Drogenkonsum wieder an – in einigen Städten besonders. Berlin liegt bei allen Drogen über dem Durchschnitt – besonders sonntags. Alle Ergebnisse der europaweiten Abwasseranalyse in Karten und Grafiken.

Während der Pandemie war der Kokainverbrauch in Europa leicht zurückgegangen. Nun hat er ein neues Allzeithoch erreicht. Crystal Meth gewinnt ebenfalls an Bedeutung, insbesondere in Tschechien, im Osten Deutschlands und einigen nordeuropäischen Ländern. In Berlin steigen besonders Kokain-, Crystal-Meth- und Speedkonsum.

Das geht aus den neuesten Daten einer Abwasseranalyse auf Drogenrückstände hervor, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) am 22. März veröffentlicht hat. Die Studie basiert auf Daten von 2022 aus 104 europäischen Städten und ist die größte ihrer Art. Der Tagesspiegel und der europäische Rechercheverbund ECIJA haben die Daten vorab erhalten. Neben Kokain und Meth wurden auch MDMA, Cannabis und Amphetaminrückstände gemessen. Außerdem wurde erstmals auf Ketamin getestet.

Die EMCDDA nutzt bereits seit 2011 Abwasseranalysen, um den illegalen Drogenkonsum in vielen europäischen Städten zu schätzen. Wir zeigen die auffälligsten Ergebnisse in Karten, Rankings und nach Wochentagen.

Drogensuche in der Kläranlage

Da die meisten Drogen in den meisten Ländern illegal sind, sind Umfragen oder Verkaufsstatistiken nicht brauchbar. Abwasseranalysen sind eine der einzigen Möglichkeiten, Drogenkonsum über die Bevölkerung hinweg zu messen.

Wenn beispielsweise Kokain konsumiert wird, baut der Körper die chemischen Verbindungen ab. Am Ende des Prozesses ist Kokain ein Gemisch neuer Verbindungen im Körper, darunter Benzoylecgonin. Das Abbauprodukt landet in der Toilette und in der Kanalisation, meist in der Nähe des Ortes, an dem die Droge konsumiert wurde. In der Kläranlage werden Proben entnommen und in einem Labor analysiert. Die Proben wurden europaweit in demselben einwöchigen Zeitraum zwischen März und April 2022 entnommen.

Der steigende Koks-Konsum ist nicht neu: „Seit 2015-2016 beobachten wir einen Anstieg der Kokainnachweise in Europa, mit einem nur geringen Rückgang während Covid-19. In diesem Jahr wird dieser steigende Trend erneut bestätigt“, sagt João Matias, wissenschaftlicher Analyst für Drogenkonsum bei der EMCDDA.

Einen vergleichsweise starken Anstieg gab es vielerorts bei Methamphetamin, bekannt als Crystal Meth. „Während wir bereits in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Verfügbarkeit feststellen konnten, gibt es jetzt überall in Europa auch Anzeichen für einen erhöhten Konsum.“ Methamphetamin gehört zur Substanzklasse der Amphetamine, wirkt aber länger und stärker als das als Amphetamin bekannte Speed – und hat weitaus schlimmere körperliche Folgen.

Auch neu: Der Rückgang von MDMA. „Interessanterweise ist bei MDMA nicht der gleiche kontinuierliche Anstieg zu beobachten wie vor der Pandemie“, sagt Matias. In Berlin etwa ist er seit 2018 um rund 20 Prozent gefallen. Zum Vergleich: Der Kokainkonsum stieg in der deutschen Hauptstadt im selben Zeitraum um 58 Prozent, der von Meth sogar um 70.

Ketamin zum ersten Mal erfasst

Zum ersten Mal wurde Ketamin analysiert, allerdings nur für einige Städte. Die in der Partyszene beliebte Substanz scheint vor allem in Spanien, Dänemark, Italien und Portugal verbreitet zu sein. Barcelona verzeichnet die höchste Menge.

Die höchsten Pro-Kopf-Belastungen im Abwasser mit THC-COOH, dem Abbauprodukt von Cannabis, wurden in der Schweiz, den Niederlanden, Portugal, Spanien, Island und Tschechien festgestellt.

Cannabis ist die am häufigsten konsumierte Droge in Europa, die Abwasseranalyse bestätigt das. Bei Umfragen zum Drogenkonsum in der EU geben 22,2 Millionen Erwachsene im Alter von 15 bis 64 Jahren an, im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert zu haben, verglichen mit 3,5 Millionen für Kokain, 2,6 Millionen für MDMA und 2 Millionen für Amphetamine.

Wo am meisten Kokain in Europa konsumiert wird

Die Entwicklung ist regional teils sehr unterschiedlich. Bei Kokain, der am zweithäufigsten konsumierten Droge in Europa, ist der Tagesdurchschnitt in den Städten mit den höchsten Rückständen, wie Antwerpen, Amsterdam, Brüssel und Zürich, noch mal höher als 2021.

Der Markt für Kokain wächst in Europa weiter, sagt João Matias. Die Verfügbarkeit sei so hoch wie nie zuvor und die Droge günstiger geworden. 2020 wurde in Europa eine Rekordmenge von 214,6 Tonnen Kokain beschlagnahmt, was auf ein wachsendes Angebot hindeutet. Weltweit ist das Kokainangebot so hoch wie nie zuvor, wie eine soeben von den Vereinten Nationen veröffentlichte Studie bestätigt.

Schweizer, belgische, niederländische und spanische Städte liegen bei Kokain weit oben in der Rangliste. Auf dem ersten Platz liegt Antwerpen in Belgien, das fast 50 Prozent mehr Kokainrückstände aufweist als die zweitplatzierte Stadt Terragona in Spanien, gefolgt von Amsterdam, Brüssel und Zürich.

Berlin landet beim Kokainkonsum auf Platz 16 von allen untersuchten Städten und mit Abstand auf Platz eins der deutschen Städte, gefolgt von Dortmund und München. Im Vergleich zu allen untersuchten europäischen Hauptstädten landet Berlin auf Platz fünf.

MDMA-Konsum geht zurück

Bei MDMA, dem Hauptwirkstoff von Ecstasy, sind die Niederlande nach wie vor das Land mit den meisten Städten in den Top 10: Amsterdam, Eindhoven und Utrecht. Erhebungen, die zwischen 2015 und 2020 in 26 europäischen Ländern durchgeführt wurden, legen nahe, dass europaweit zwei Millionen (1,9 Prozent) junge Erwachsene zwischen 15 und 34 Jahren im letzten Jahr Ecstasy konsumiert haben, wobei der höchste Prozentsatz in den Niederlanden verzeichnet wurde: 8,5 Prozent.

Der verbreitete MDMA-Konsum in den Niederlanden lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären. Margriet van Laar, Leiterin der Abteilung Drogenüberwachung und -politik am Trimbos Instituut in den Niederlanden, sagt: „Die Tatsache, dass wir uns in der Nähe der wichtigsten Produktionsstätten befinden, kann zu der hohen Verfügbarkeit beitragen.“ Auch viele Partys und Festivals in einer Stadt, der mit durchschnittlich vier Euro pro Pille geringe Preis und die Verfügbarkeit spielen eine Rolle, sagt van Laar.

Meth im Osten, Speed im Norden

Bei Methamphetamin, auch bekannt als Meth oder Crystal, weisen die tschechischen Städte weiterhin die höchsten Rückstandskonzentrationen auf, wobei Ostrava, Prag und Karlovy Vary die Liste anführen. Und in allen drei Städten sind die Werte im Vergleich zu 2021 erneut gestiegen. „Der Grund dafür ist die Tradition der Selbstherstellung, die bis in die Zeit vor der Revolution zurückreicht, als hier zwanzig Jahre lang Drogen selbst hergestellt wurden“, sagt der nationale tschechische Koordinator für die Drogenbekämpfung, Jindřich Vobořil. „Erst in den letzten Jahrzehnten ist es zu einem marktfähigen Produkt geworden. Dennoch sind es oft die Konsumenten, die es zu Hause für sich selbst herstellen.“

Nach Angaben der tschechischen Behörden werden in Tschechien jedes Jahr schätzungsweise 6,5 Tonnen Methamphetamin hergestellt. Auf Ostrava, Prag und Karlovy Vary folgen im Abwasserdaten-Ranking drei deutsche Städte. João Matias erklärt: „Die Zunahme des Konsums in Deutschland lässt sich durch eine geografische Komponente erklären, d. h. durch die geografische Nähe zwischen den beiden Ländern.“

Die deutsche Stadt mit der höchsten Methamphetamin-Konzentration ist Chemnitz nahe der tschechischen Grenze, gefolgt von Dresden und Erfurt. Berlin liegt auf Platz sechs von acht deutschen Städten, in denen auf die Droge getestet wurde.

Anders als Methamphetamin wird Amphetamin, auch bekannt als Speed oder Pep, vor allem in den nordischen Ländern konsumiert, wobei zwei schwedische Städte unter den Top drei liegen. „In den nordischen Ländern wird traditionell hauptsächlich Amphetamin konsumiert”, erklärt João Matias. Auch Kokain ist in Nordeuropa auf dem Vormarsch, aber im Vergleich zu Amphetamin immer noch auf niedrigem Niveau. Berlin liegt beim Speedkonsum von allen ausgewerteten Städten auf Platz acht – hinter Saarbrücken (Platz vier) und Dülmen (Platz fünf).

„Insgesamt lässt sich die hohe Präsenz von Amphetamin durch die Verfügbarkeit der Substanz in der Region erklären. Interessant ist auch, dass Methamphetamin zurückgeht, wenn der Amphetamingehalt steigt, und umgekehrt”, sagt Matias. Tatsächlich sind die Methamphetaminwerte in Schweden recht niedrig.

Unterschiedliche Drogen, unterschiedliche Tage

Die von der EMCDDA analysierten Abwasserdaten bieten eine weitere interessante Perspektive: den Vergleich über die Zeit hinweg, insbesondere den Unterschied zwischen Wochentagen (Dienstag bis Donnerstag) und Wochenende (Freitag bis Montag). Bestimmte Substanzen stehen eher mit Freizeitkonsum und Nachtleben in Verbindung, andere nicht.

Das deutlichste Beispiel ist MDMA: Die Rückstände sind in allen untersuchten europäischen Städten am Wochenende deutlich erhöht. In den Niederlanden ergab eine vom Trimbos Instituut im Jahr 2020 durchgeführte Studie, in der das Nachtleben junger Erwachsener untersucht wurde, dass neun von zehn Konsumenten eine Party oder ein Festival als einen der drei Orte nannten, an denen Ecstasy von ihnen konsumiert wurde.

Bei Cannabis und Kokain sind die Unterschiede zwischen Wochentagen und Wochenende wesentlich geringer als bei MDMA, auch in Berlin. Sonntags sind die MDMA-Rückstände im Abwasser doppelt so hoch wie an anderen Tagen. Bei Meth ist der Wochenend-Ausschlag deutlich geringer.

Insgesamt ist es auffällig, wie sich die Drogenmengen von Stadt zu Stadt unterscheiden, sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen den Ländern. João Matias sagt: „Es gibt viele Faktoren, die beeinflussen, warum eine Droge in einer Stadt stärker vertreten ist als in einer anderen. An erster Stelle steht die Verfügbarkeit der Substanz.“ Kokain ist eher in West- und Südeuropa auf dem Markt erhältlich, Methamphetamin eher in Mittel- und Nordeuropa verbreitet. Außerdem: Wenn es in einer Stadt mehr Nachtleben gibt, „dann finden wir mit Sicherheit auch mehr Stimulanzien“.

Drogen sind zudem Teil von Mode, Kultur, Ästhetik oder Lifestyle. Und sie werden nicht nur von Orten beeinflusst, sie verändern Städte auch: Wo Menschen mehr aufputschende Drogen wie MDMA oder Kokain konsumieren, bleiben sie länger wach. Das führt zu einem wachsenden Markt für Bars, Clubs und Taxis zu später Stunde. Mit all den potenziell schädlichen Auswirkungen für viele Menschen, die das mit sich bringt.

Wie messen Wissenschaftler Drogen im Abwasser?

Das Abwasser wird von den Forschenden mithilfe der abwasserbasierten Epidemiologie analysiert. Ziel ist es, die Rückstände illegaler Drogen im rohen Abwasser zu identifizieren und ihre Menge zu bestimmen. Aus einer Wasserprobe errechnen die Forschenden mithilfe statistischer Methoden die Menge einer Droge, die von der Bevölkerung im Einzugsgebiet konsumiert wurde.

Zuerst wird das Abwasser chemisch analysiert. Die Grundidee ist es, ein Molekül in zwei Teile zu zerlegen und deren Verhältnis von Masse zu Ladung zu bestimmen. Dieser Wert ist charakteristisch für jedes Teilchen und das kombinierte Signal der beiden Bruchstücke dient als Fingerabdruck des Moleküls. Würde das Abwassers jedoch nur auf Rückstände der Droge selbst untersucht werden, wären die Ergebnisse ungenau, da sich die chemische Struktur der Droge nach dem Konsum verändert.

Vielmehr enthält das Abwasser auch die Rückstände der Droge, nachdem sie den Körper passiert hat. Diese heißen Metaboliten. Zum Beispiel ist das Molekül Benzoylecgonin der Hauptmetabolit von Kokain und wird in der Regel bei Drogenurinanalysen gemessen.

Die Forschenden können auch unterscheiden, ob eine hohe Drogenkonzentration im Abwasser auf einen starken Konsum der Population oder auf die direkte Entsorgung von unkonsumierten Drogen in die Kanalisation zurückzuführen ist. Dies machen sie mithilfe des “enantiomeren Profilings”: Wenn zwei Moleküle identisch, aber spiegelbildlich zueinander sind, nennt man sie Enantiomere.

Viele psychoaktive Drogen, wie MDMA und Kokain, liegen als zwei verschiedene Enantiomere vor, die leicht unterschiedliche biologische Eigenschaften haben. Während das Verhältnis zwischen zwei Enantiomeren nach der Herstellung einer Droge oft gleich ist, ändert sich das Verhältnis, nachdem die Droge den menschlichen Körper durchlaufen hat. So ist es möglich im Labor zwischen den beiden Fällen zu unterscheiden.

Die endgültige Hochrechnung vom Abwasser in der gesammelten Probe auf den Drogenkonsum einer gesamten Bevölkerung erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst rechnen die Forschenden die Probenmenge auf die tägliche Kanalisationsbelastung hoch. Dann korrigieren sie Effekte, die die Ausscheidungsrate einer bestimmten Droge beeinflussen, etwa indem sie den durchschnittlichen Ausscheidungsanteil einer Substanz bestimmen. Schließlich werden die Werte normiert, um einen besseren Vergleich zwischen Städten und Drogen zu ermöglichen.

Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator produziert, einem Netzwerk europäischer Medien, das sich den Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert.

Das Team

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Veröffentlicht am 22. März 2023.