Hamburg, 1910er Jahre. Paul macht eine Bekanntschaft – und benimmt sich daneben. Am nächsten Tag bittet er um Verzeihung und eine zweite Chance, Sonntag um acht am Millerntor. Gibt der Wortlaut sich sittsam, herrscht auf dem umseitigen Postkartenmotiv Sturm und Drang. „Der ewige Augenblick“ heißt das dort abgebildete Gemälde von Maximilián Pirner. Die Ewigkeit fand nicht statt. Die zwei wurden kein Paar.
Die Postkarte (oben) ist eine von Tausenden amourösen Bekundungen, die im Archiv der Sprachwissenschaftlerin Eva Lia Wyss liegen. 1997 hatte die heute in Koblenz lehrende Schweizer Professorin die Idee, Liebesbriefe als Alltagsartefakte zu untersuchen. „Im Jahr darauf hat es Briefe auf mein Pult geregnet“, erzählt Wyss per Video aus ihrem Zürcher Homeoffice, „nach sechs Monaten hatte ich 2500 Stück.“ Inzwischen sind es mehr als 22.000. Wir zeigen einige der schönsten.
Liebesbriefe seien stets auch Selbstinszenierungen, sagt Eva Lia Wyss, der auch nach beinahe 25 Jahren Liebesbriefforschung ihr Enthusiasmus anzumerken ist. „Die Schreibenden betonen, sie wüssten nicht, wie sie ihre Gefühle ausdrücken sollten. Man könnte darin einen Unsagbarkeitstopos sehen, es ist aber auch eine strategische Bescheidenheit: Ich formuliere hier so viele gewichtige Zeilen, weiß aber gar nicht, ob das gut bei dir ankommt.“
Auch in Sachen Sex hätten sich Verliebte lange mit Andeutungen begnügt. „Die Männer schrieben dann über die Augen der Frauen, über ihre Lippen und über ihre Körper. Das waren – und sind bis heute – drei zentrale Elemente des männlichen Codes.“ Erst in den Nachkriegsjahrzehnten sei das „emotionale Regime“ etwas aufgeweicht, sagt Wyss. „In den achtziger Jahren sind dann auch Anreden wie ‚Mein Liebesgott‘ oder ‚Mein Sexgott‘ möglich.“
„Meine Äuglein weinten heute schon viele Thränen“, schreibt die in München vom in die Schweiz abgereisten Oskar unglücklich zurückgelassene Sänli auf das mit Rosen und Vergissmeinnicht-Blüten verzierte Papier. Dass ihr Brief, der von der vorletzten Jahrhundertwende stammt, voller lyrischem Überschwang ist, sei außergewöhnlich, sagt Wyss. „Im 19. Jahrhundert gab es in der Ratgeberliteratur eine Kodierung des Begehrens, laut der Männer Leidenschaftlichkeit durch Literarizität ausdrücken sollten. Frauen dagegen sollten einfach züchtig den Brief beantworten.“
Für solch vornehme Zurückhaltung hatte Sänli keine Geduld. Wie es mit ihr und Oskar weiterging, ist nicht bekannt. Der Rosenbrief war ein Zufallsfund eines Mannes, der Jahrzehnte später das Haus kaufte, in dem sich die Seiten befanden. Er überließ sie Eva Lia Wyss und ihrem Liebesbriefarchiv – das weiterhin um Zusendungen bittet. Die intime Schriftlichkeit früherer Generationen ist in ihm tausendfach verewigt. Geheim bleibt nur, was auch das Papier nichts angeht: die intime Mündlichkeit.
Dieser Brief ist Teil eines Dachbodenfundes, der Korrespondenzen mit mehr als 20 Verehrern aus den Jahren 1926 bis 1939 enthält. Sie gehörten einer Frau in Zürich, die sich Anfang 1931 in Neapel aufhielt, wohl bei ihren Eltern. Der hier als „Solo“, ein Burschenschaftsname, pseudonymisierte Autor schreibt vieldeutig: „Wann kommst Du heim? (…) Wenn man so im elterlichen Hause bemuttert & mit strengem Vaterernste zurückgebunden wird, muss man das Fliegen auf die Zeit verlegen, wo keine Schranken einen hindern. – Begreifst Du?“
Als Soldat im Zweiten Weltkrieg hat der Autor dieses insgesamt achtseitigen Briefes bei einem Flugzeugabsturz schwere Knochenbrüche erlitten. Im Herbst 1946 ist er noch immer angeschlagen. „Am Ende hat sie ihn nicht haben wollen“, erzählt Forscherin Wyss. „Ich habe erst kürzlich mit ihr gesprochen, sie ist über 90. Ich sagte: Warum haben Sie den denn nicht haben wollen? Warum den anderen? Er hat doch viel besser geschrieben!“
„Wie geht es Dir? Mir geht es schlecht“, beginnt die 1980 elfjährige Autorin ihre Feriengrüße. Nach pflichtschuldigem Abhandeln des Wetters (immer sonnig) schreibt sie: „Was machen Deine Tiere? Meinen geht es allen gut. Wenn ich komme, dann bringe ich Dir eine kleine Schildkröte mit. Ich weis nicht mehr was ich schreiben soll.“ Die wichtigste Botschaft steht ohnehin auf der Rückseite.
„Wir haben schnelle Pferde, sind bewaffnet und haben einen eisernen Willen“, informiert der anonyme Verehrer die Empfängerin dieses Briefes von 2009, „nur leider keinen Plan, wie wir die Festung erobern können“. Eingefügt ist ein Bildausriss, der drei Reiter zeigt: „meine Kumpels und ich – die Bandidos“. Ob die Avance zielführend war, ist nicht überliefert.
Wer seine Liebesbriefe dem Archiv überlassen möchte, kann sich an liebesbriefarchiv@uni-koblenz.de oder Liebesbriefarchiv, Universität Koblenz, Universitätsstr. 1, 56070 Koblenz wenden. In Zusammenarbeit mit Forschenden der TU und der Hochschule Darmstadt werden die Bestände derzeit digital erschlossen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seit April 2021 fördert das Bundesforschungsministerium das auf drei Jahre angelegte Projekt mit einer halben Million Euro.
Einige Namen und Orte wurden aus rechtlichen Gründen abgekürzt.