Wenn Lisa Marie Kwayie wieder einmal allen anderen Kindern davongerannt war, beim Fangenspielen auf dem Schulhof, stellte sie sich die Frage: Warum bin ich so schnell? An diesen Gedanken kann sie sich noch genau erinnern. Und dass sie unbedingt wissen wollte: Gibt es ein Limit? Kann man das ausreizen? Und wenn ja – wie?
Ihre Kindheitsfragen sind ihre Lebensfragen geworden. Kwayie – in Ghana geboren, in Neukölln aufgewachsen, Berlinerin durch und durch – will als Sprinterin für Deutschland bei den Olympischen Spielen in Tokio antreten, sich einen Traum erfüllen, so wie rund 11.000 Sportlerinnen und Sportler aus aller Welt.
Als Kind lief Lisa Kwayie einfach los, ohne nachzudenken. Als Teenager wurde für sie aus Spaß langsam Ernst, aus der vagen Idee Olympia ein Ziel. Jetzt, auf den letzten Metern in Richtung Tokio, muss sie sich von dem Mädchen lösen, das sorglos über den Schulhof rannte – ohne dessen Leichtigkeit zu verlieren.
Über den Traum Olympia und den Weg dorthin könnte man 11.000 Geschichten erzählen, mindestens. Dies ist Lisa Kwayies Geschichte.
Hinter den großen Glasscheiben der Leichtathletik-Halle des Sportforums Hohenschönhausen lauert die Novemberdunkelheit. Es ist der Tag, an dem die Amerikaner einen neuen Präsidenten wählen, die Sieben-Tage-Inzidenz in Berlin liegt bei 178, eine Woche vorher, an Kwayies 24. Geburtstag, betrug der Corona-Richtwert noch 137.
Die Halle ist fast leer, in einer Ecke wärmt sich die Trainingsgruppe der Neuköllner Sportfreunde von Trainer Frank Paul auf. Dazu gehören neben Kwayie nur vier Nachwuchsläuferinnen, der Rest des Teams darf die Halle nicht betreten: Wegen der Pandemie haben nur Kader-Athleten Zutritt.
Fünf Mal pro Woche kommt Kwayie hierher, jede Trainingseinheit dauert mindestens drei Stunden. Es riecht nach dem Gummi der Tartanbahn, Kwayie massiert schweigend ihre Waden, die vier Mädchen quasseln kichernd über Jungs und Schule. Frank Paul, ein drahtiger Mann von 54 Jahren, der leise spricht und sanft lächelt, ruft die jungen Frauen zusammen.
Es beginnt mit Krafttraining, Stabilitätsübungen auf Gymnastikbällen. Dann baut Paul eine Slackline auf, Kwayie soll auf Socken 30 Zentimeter über dem Boden balancieren, drei Meter vor, drei Meter zurück, meist gerät sie bei der Drehung aus dem Gleichgewicht. „Versuch’, mittig zu bleiben“, sagt Paul.
Nach fast 90 Minuten geht es auf die Laufbahn, Sprints über 30 Meter, zehn erste schnelle, aggressive Schritte, geduckte Haltung, drei Serien á sechs Läufe. Im Winter werden die Sieger des Sommers gemacht, alte Leichtathletik-Weisheit, „Der Winter ist brutal“, sagt Paul. „Lisa muss echt beißen.“
Dass es in diesem Jahr so hart wie noch nie wird, sich für Olympia zu qualifizieren, wissen zu diesem Zeitpunkt weder Frank Paul noch Lisa Kwayie.
Über 100 Meter liegt die Olympianorm bei 11,15 Sekunden, Kwayies Bestzeit steht bei 11,19 – vor ihr liegen Monate harter Arbeit für vier Hundertstelsekunden, solange braucht ein Schmerzreiz ungefähr, bis er das Gehirn erreicht.
Lisa Kwayie läuft konzentriert und kraftvoll, angespannt bis in die Fingerspitzen, ihre Füße berühren den Boden nur so kurz wie möglich, sofort schnellen ihre Knie nach vorne, nach vorne.
„Der Letzte sah ein bisschen müde aus“, sagt Frank Paul. „Sonst war’s gut.“
Eine Woche vor Weihnachten, acht Grad und dichte Wolken über dem Treptower Park, menschenleere Glühweinstände. Eine Familie schiebt einen Tannenbaum im Kinderwagen nach Hause. Ein vereinbartes Treffen ein paar Tage zuvor hat Lisa Kwayie abgesagt, es habe einen Krankheitsfall gegeben. Aber heute kommt sie aus dem S-Bahnhof, grauer Schal, schwarze Stiefel, grauer Daunenmantel, mit ein paar Minuten Verspätung.
Entschuldigung, einer ihrer Uni-Videokurse, sie studiert Soziale Arbeit, habe länger gedauert. Die Dozentin musste noch die Kriterien für eine Hausarbeit erklären. Kwayie will über Grundschul-Pädagogik im jahrgangsübergreifenden Lernen schreiben, zwölf Seiten müssen es sein. „Das war die wichtigste Information für mich“, sagt sie und lacht.
Sie versucht, auch im Jahr vor Olympia ein normales Leben zu führen, einen Ausgleich zum Sport zu haben. Sie möchte den Führerschein machen, nicht immer mit der Tram zum Training fahren müssen, vielleicht kann ihr ein Sponsor ja ein Auto zur Verfügung stellen. Sie wird ernst und erzählt, dass ihre Mutter überraschend schwer erkrankt ist, noch vor Heiligabend müsse eventuell operiert werden.
Nach dieser Nachricht ist es ihr schwergefallen, sich aufs Training zu konzentrieren, sagt Lisa Kwayie, während sie an Ausflugsdampfern vorbeiläuft, die vertäut und nutzlos am Spreeufer liegen. In Gedanken sei sie immer bei ihrer Mutter gewesen. Auch die Monotonie des Aufbautrainings setzt ihr zu, „das Wetter, die Dunkelheit, die Stimmung“.
Zudem hat sie zuletzt ein Zwicken am Hüftbeugeransatz gequält, die Sportmediziner der Charité haben nichts gefunden, nach einer Stoßwellentherapie waren die Beschwerden zum Glück weg.
Aber jedes ungewohnte Signal ihres Körpers macht sie ein bisschen nervös, sie hatte schon Sehnenrisse, Muskelverletzungen, Ermüdungsbrüche. Zwei Jahre ihrer Karriere hat sie fast komplett verloren, weil ihr eine Frauenärztin irrtümlich eine falsche Anti-Baby-Pille verschrieb, die ihren Körper schwächte und Verletzungen begünstigte.
Berlin bereitet sich auf einen erneuten Lockdown vor, eine Art Winterschlaf voll böser Träume hat sich über die Stadt gelegt. Und was ist mit Tokio? „Keiner kann mir garantieren, ob die Spiele stattfinden“, sagt Kwayie. „Man trainiert ein bisschen ins Leere.“
Oft schaut sie sich Videos der amerikanischen Turnerin Simone Biles an, die bei den letzten Olympischen Spielen in Rio de Janeiro vier Mal Gold gewonnen hat. „Wenn ich sehe, was die im Wettkampf macht, wie hart die trainiert, dann denke ich: Lisa, es geht noch viel schlimmer. Beiß dich da durch.“
Frank Paul trägt ein langes, grünes Gummiseil über dem Arm gewickelt. Es ist der 2. Januar, die erste Einheit im Olympiajahr. Wozu das Seil? „Das ist ein Trick, um den Körper dazuzubringen, schneller zu laufen, als er eigentlich kann.“
Im Kraftraum hängt ein Foto des Stadions von Tokio, dazu ein Board mit Motivationssprüchen: „Ich sage Dir nicht, dass es leicht wird. Ich sage Dir, dass es sich lohnen wird!“ Dazu ein Countdown bis zur Eröffnungsfeier: noch 171 Tage. Ein Trainingslager auf Teneriffa wurde abgesagt, eins in Südafrika war schon fast gebucht, dann war plötzlich von einer „südafrikanischen Mutante“ die Rede.
Auf der anderen Seite der Halle schleudert ein Sportler immer wieder einen Ball in ein Fangnetz, dazu hat er Musik angemacht, die Red Hot Chili Peppers singen „How long, how lo-o-ong will I slide?“
Kwayie trainiert Starts. Sie misst den Abstand des Startblocks zur Linie aus, 57 Zentimeter für den linken Fuß, 88 Zentimeter für den rechten Fuß, ab sofort geht es um Feinabstimmung. Auf die Plätze, ruft Frank Paul, fertig, ab! Kwayie schießt aus dem Startblock, ihr Trainer filmt mit einem Tablet, gemeinsam analysieren sie die Aufnahme in Zeitlupe. Er zeichnet mit dem Finger gelbe Linien auf den Bildschirm, mit jedem Schritt nach dem Start soll der Winkel zwischen Schienbein und Boden um fünf bis sechs Grad größer werden. Er bittet Kwayie, den Oberkörper schneller aufzurichten: „Mehr Streckung! Einfach mal verrückt sein!“ – „Ich fand das jetzt schon verrückt.“ – „Noch verrückter!“
Kwayie setzt sich auf die Bahn, trinkt einen Schluck, ihr Blick geht minutenlang ins Leere. Sprinter brauchen diese Ruhephasen, erklärt Paul, natürlich gebe es auch Einheiten, in denen seine Sportlerin „zweieinhalb Stunden ballert“, aber das hier entspreche eher der Sprinterseele.
Seit zwölf Jahren arbeitet Frank Paul daran, Lisa Kwayie jenes kleine Mädchen auszutreiben, das uneinholbar über den Schulhof flitzte. Denn dieses Mädchen ging beim Rennen ins Hohlkreuz, schob die Brust nach vorne und den Kopf nach hinten, ließ Arme und Beine wild rotieren. Schnell war es trotzdem, für den Schulhof reichte es, doch echtes Sprinten ist eine Wissenschaft.
„Auf den letzten zehn, zwanzig Metern fällt Lisa manchmal komplett in sich zusammen und verliert hinten raus eine Zehntel“, sagt Paul. Mit einer Sportpsychologin arbeiten sie daran, dass kurz vor dem Ziel nicht immer wieder „das falsche Programm“ ablaufe. Lisa Kwayie spricht davon, sie müsse gegen ihr „Naturell ankämpfen“.
Paul befestigt das Gummiband an einem Gurt um Kwayies Bauch, in der Halle ist es jetzt still. Er entfernt sich auf etwa 40 Meter, spannt das Seil, auf Kommando sprintet Kwayie los, er zieht sie hinter sich her, hilft beim Beschleunigen. Ein Mann, eine Frau, ein Gummiband, im Kampf gegen die Zeit.
Lisa Kwayie geht nicht mehr ans Telefon. Ende Januar soll sie in Karlsruhe in die Saison starten, das erste Rennen seit fast einem halben Jahr. Doch ihr Name ist von den Startlisten verschwunden. Frank Paul ruft an: „Lisa ist durch den Wind.“ Er spricht von einer „emotionalen Achterbahn“ und einer „Sinnkrise“, ausgelöst durch die Sorgen um ihre Mutter, die Ungewissheit wegen Olympia, die Einsamkeit im Training.
Deshalb hätten sie gemeinsam beschlossen, auf die ersten Rennen zu verzichten, damit Kwayie nicht in einen Teufelskreis gerät: Sorgen, schlechte Leistungen, noch mehr Sorgen, noch schlechtere Leistungen: „Wenn du nicht frei bist, kannst du auch nicht frei laufen.“
Anfang Februar tritt Lisa Kwayie in der Berliner Mercedes-Benz-Arena zu ihrem ersten Saisonrennen an, beim „Istaf Indoor“ ist sie über 60 Meter Titelverteidigerin. Fans und Journalisten sind nicht zugelassen, Fotografen und Kamerateams schon. Im Livestream sieht man, wie sie zwei Kusshände in die Kamera wirft, dann wird sie Letzte.
Zwei Wochen später startet sie bei der Deutschen Hallenmeisterschaft in Dortmund, auch hier hat sie im letzten Jahr gewonnen. Das Finale erreicht sie mit einem dritten Platz im Vorlauf nur knapp, der Fernsehkommentator bemerkt: „Sieht so aus, als hätte Kwayie am Ende nicht durchgezogen.“ Im Endlauf, sie wird Vorletzte, gerät sie auf den letzten Metern fast ins Stolpern.
Eine schmucklose Halle in einem Gewerbegebiet in Berlin-Adlershof, durch ein Rolltor gelangt man ins Innere: ein kleiner Kunstrasenplatz, Slalomstangen, Lichtschranken. Der Parcours gehört dem Unternehmen „4talents analytics“, das für Nachwuchsfußballer Daten sammelt und Leistungsanalysen anbietet. An diesem Dienstag wollen sich die Fußballdatenfirma und vier weitere Unternehmen in einer virtuellen Pressekonferenz als neue Sponsoren von Lisa Kwayie vorstellen, die Gründung von „Team Lisa“, wird verkündet, für „die schnellste Frau Berlins“.
Vier Männer tüfteln an einem Tisch an Kameras, Laptops und Mikrofonen herum, Lisa Kwayie kommt zu Frank Paul hinüber, er sagt leise zu ihr: „Nachher in der Fragerunde kannst du gerne sagen: Da gibt es noch eine Sache. Wenn du dich danach fühlst.“ Er nimmt sie in den Arm.
Die Pressekonferenz beginnt, drei Journalisten haben sich eingewählt, die Sponsoren stellen sich vor. Paul erklärt, als Studentin sei Kwayie nun einmal weniger abgesichert als andere deutsche Sportlerinnen und Sportler, die bei Bundeswehr oder Bundespolizei angestellt sind. Dann geht es um die schwachen ersten Rennen. Eine zugeschaltete Sportreporterin stellt die klassische Sportreporterfrage: „Woran lag’s?“
Kwayie richtet sich in ihrem Stuhl auf, ballt die Hände zu Fäusten. „Im Großen und Ganzen müssen wir nicht mehr um den heißen Brei reden“, sagt sie. „Bei mir in der Familie gab es einen schweren Krankheitsfall, mit dem ich nicht gerechnet habe. Das hat mir erstmal den Boden unter den Füßen weggezogen.“
Im Pressekonferenz-Call ist es still, Frank Paul ergreift das Wort, spricht über die „Baustellen in der Beschleunigung und im Finish“. Insgesamt sei er aber „hoffungsfroh“, dass Lisa ihr ganzes Können im Sommer zeigen könne.
Zwischen den Hochhäusern rund um den U-Bahnhof Lipschitzallee pfeift ein kalter Wind. Neukölln, Gropiusstadt, Beton-Berlin, Lisa Marie Kwayies Heimat. Es ist Donnerstag, der 11. März, am Morgen hat der Chef des Robert-Koch-Instituts verkündet: „Die dritte Welle hat schon begonnen.“
Kwayie hat für ein Treffen ihren alten Kiez vorgeschlagen. Mit drei Jahren zog sie her aus der Kleinstadt Sunyani im Westen Ghanas, ihr Vater studierte mit einem Stipendium Bauingenieurwesen in Berlin. Ihre leibliche Mutter blieb in Ghana, die kleine Lisa kam im Winter in Deutschland an und sah zum ersten Mal Schnee. Mit ihren beiden Brüdern, ihrem Vater und seiner neuen Frau, die sie heute selbstverständlich „meine Mama“ nennt, lebte sie in einem der flacheren Wohntürme aus den 60er Jahren, siebter Stock.
Wenige Stunden vor dem Treffen ist ihre Mutter aus der Klinik entlassen worden, nach zehn Tagen ohne Besuch. Die OP hätte schon früher stattfinden sollen, musste aber verschoben werden. Kwayies Mutter hatte sich mit Corona infiziert, eine CT-Untersuchung hatte ergeben, dass die Lunge zu angegriffen für den Eingriff war.
Am Zuhause ihrer Kindheit hat sich wenig verändert, nur die Balkongitter sind jetzt leuchtend blau angestrichen, früher waren sie so grau wie der Rest des Blocks. Ihre alte Kita wurde abgerissen, dort steht jetzt ein Lidl, aber die sportbetonte Janusz-Korczak-Grundschule gibt es noch. Die letzten Kinder verlassen am frühen Nachmittag gerade das Gebäude, der Schulleiter hat gegen einen Rundgang nichts einzuwenden. Das Treppenhaus ist mit dem Wort „Willkommen“ in zwei Dutzend Sprachen bemalt.
Kwayie bleibt im ersten Stock vor einer Wand mit gerahmten Urkunden lange stehen. „Bei der Schnellen Socke 2006 der Neuköllner Grundschulen errang Lisa Marie Kwavie im Jahrgang 1996 mit 7,3 Sekunden den 1. Platz“ steht da, Kwayie staunt und lacht und amüsiert sich darüber, dass ihr Name falsch geschrieben ist.
„Als die ersten Pokale und Urkunden reinkamen, haben die Lehrer gesagt: Du hast anscheinend Talent“, erinnert sie sich. Ihr Sportlehrer Herr Kiesewalter bearbeitet sie mehrere Jahre, bis sie in der sechsten Klasse endlich zur Probe bei den Neuköllner Sportfreunden vorbeischaut. Dort freundet sie sich schnell mit Julia an, deren Vater gerade als Vertretung die Gruppe betreut. Erfahrung als Trainer hat er keine, aber immerhin ist er Sportlehrer an einem Gymnasium: Frank Paul.
Unter seiner Anleitung verbessert sich die Zwölfjährige rasch, für Bestzeiten interessiert sie sich aber noch nicht. Bei Wettkämpfen wollen Konkurrentinnen wissen: Wie schnell bist du denn? Dann fragt sie Frank Paul, der sagt eine Zahl, die Konkurrentinnen machen große Augen. „Ich habe damals nie verstanden, wieso denen das so wichtig ist“, sagt Kwayie. Wenn sie bei einem Jugendrennen Zweite wird, fällt sie der Siegerin um den Hals, jubelt mit. „Erst später, als ich mit dem Leistungssport konfrontiert wurde, habe ich gemerkt: Wir sind nicht alle Freunde.“
Eines Tages führt Frank Paul mit ihr ein ernstes Gespräch. Will Lisa noch mehr? Dann müssen sie die Sache ernsthafter angehen. Gleichzeitig möchte er, dass sie Abitur macht und studiert. Für ihn sei dieses Leistungssport-Ding auch neu, er wolle es aber gerne versuchen, gemeinsam. Sie sagt zu, ohne lange darüber nachzudenken.
Diese Naivität vermisst sie heute manchmal, „dass man einfach macht, einfach loslegt“. Beim Istaf Indoor, dem ersten Saisonrennen, hat sie sich zum ersten Mal als Sportlerin fehl am Platz gefühlt. Die Sorge um ihre kranke Mutter „war überall, hat mich überall verfolgt, war mit im Training dabei, zu Hause auch“, sie konnte sich nirgendwo mehr erholen, wegen Corona auch keine Freunde treffen. „Aber was ich noch viel weniger mag als verlieren, ist aufzugeben“, sagt sie. „Es geht langsam wieder bergauf.“
Als 15-Jährige sitzt Kwayie vor dem Fernseher und verfolgt Olympia 2012 in London. Allyson Felix aus den USA stürmt über 200 Meter zur Goldmedaille, „ich fand ihren Laufstil so unglaublich schön und dachte: Warum sieht das so leicht aus?“ Ab diesem Moment ist klar: Lisa Kwayie will auch Olympische Spiele erleben. Später erzählen ihr erfahrenere Sportler von der großen Hürde, vier Jahre durchzuhalten.
Diesmal sind es sogar fünf Jahre, weil die Spiele von Tokio wegen der Pandemie verschoben wurden. Im vergangenen Jahr wäre Kwayie sicher dabei gewesen, jetzt muss sie sich erneut qualifizieren – ein kompliziertes Procedere. Es gibt Normzeiten und Platzierungen, die sie erreichen muss.
Auf dem Rückweg zur U-Bahn sagt Kwayie: „Das letzte Jahr hat ein bisschen den Zauber rausgenommen. Wahrscheinlich wird alles wegfallen, was Olympia besonders macht.“ Sie glaubt nicht mehr daran, Simone Biles mit eigenen Augen turnen zu sehen oder Allyson Felix zu treffen. „Aber der Traum ist so groß, ich kann jetzt nicht aufgeben.“
Ende März sind die Bäume rund um den Trainingsplatz des Sportforums noch kahl, aber die ersten Gänseblümchen strecken ihre Köpfe der Sonne entgegen. Zwei Flieger malen Streifen in das Blau, in vier Tagen wollen auch Lisa Kwayie und Frank Paul ins Flugzeug nach Gran Canaria steigen: endlich ein Trainingslager, endlich raus, eine Sprinterseele braucht Wärme. Kwayie hat eine Schleimbeutelentzündung an der Achillessehne einigermaßen überstanden, heute stehen Wechselübungen für die Staffel an, mit der sie ihren bisher größten Erfolg gefeiert hat: Bronze als Startläuferin bei der EM 2018, im ausverkauften Berliner Olympiastadion. Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey hat sie dafür mit der Neuköllner Ehrennadel ausgezeichnet.
Frank Paul hat seinen eineinhalbjährigen Sohn Lenny mitgebracht, der über die Bahn stolpert und mit dem Maßband herumklappert, während Kwayie abermals den Startblock einstellt. „Lenny“, sagt Paul, „erzähl mal was, um Lisa abzulenken.“ Dann fordert er Kwayie auf, sich beim Startsignal mit aller Kraft abzudrücken, richtig nach hinten auszutreten.
Sie fragt: „Kann ich das nicht erstmal so probieren, wie ich es fühle?“
Mitte Mai, das Trainingslager war gut, die ersten Freiluftrennen waren schlecht. Kwayie ist umgezogen, vom Ostkreuz nach Mitte in die erste gemeinsame Wohnung mit ihrem Freund. Die Waschmaschine wurde gerade geliefert, in der neuen Wohnung ist alles noch ein bisschen chaotisch, „aber man kann leben.“
Die Hausarbeit für die Uni hat sie nie geschrieben, in zwei Semestern nur zwei Teilnahmescheine geschafft, weder die Theorieprüfung für den Führerschein noch eine Fahrstunde absolviert.
Sonne und Regen wechseln sich ab an diesem Donnerstag, im Café sitzen darf man immer noch nicht, in Friedrichshain spazieren gehen ist aber erlaubt. Sie führt durch den Kiez, in dem sie bis vor Kurzem gewohnt hat, zeigt ihr italienisches Lieblingsrestaurant. Pizza oder ein großes Eis isst sie aber nur samstags, „das ist der Tag, an dem ich mir was gönnen darf.“
Kwayie kommt vom Sportforum, ihr Physiotherapeut war gerade mit den Wasserspringern beim Weltcup in Tokio. Das Hotel durfte er nur im Bus zu den Wettkämpfen verlassen, die Mahlzeiten wurden eingeschweißt wie im Flugzeug vor die Tür gestellt, essen musste man allein im Zimmer. „Richtig crazy“, sagt sie. „Die Japaner haben da wirklich was zusammengezaubert.“
Kwayie erzählt, andere Sportler hätten im Kraftraum Nachrichten für sie an der Motivationswand hinterlassen, „Du schaffst das, Lisa!“ oder „Don’t be a worrier, be a warrior!“ Sie lacht. „Je schlechter die Wettkämpfe, desto schöner wird das Board.“ Bis zur Deutschen Meisterschaft in Braunschweig, wo sie die Olympia-Qualifikation endlich schaffen will, bleiben ihr noch sieben Trainingseinheiten. Sie hat sich vorgenommen, mehr auf ihr Bauchgefühl zu achten, nicht alles zu „zerdenken“.
Sie wartet weiter auf den Wettkampf, „der alles auslöst, nach dem ich mich befreit fühle“. Die Besonderheit beim Sprint sei aber nunmal, dass man auf den Punkt Leistung bringen müsse, einen schlechten Tag könne man sich nicht erlauben.
„Du musst dir einreden: Das ist der Tag meines Lebens! Mir geht’s super!“, sagt Lisa Kwayie. „Auch wenn du dich schlecht fühlst.“
Am Tag ihres Lebens fühlt sich Kwayie schlecht, sehr schlecht. Sie hat Husten, ein Virusinfekt, ein böser Witz nach eineinhalb Jahren auf der Flucht vor dem anderen Virus. Über 100 Meter ist sie am ersten Tag des Meisterschafts-Wochenendes in Braunschweig gar nicht erst an den Start gegangen, stattdessen lag sie im Hotel mit Salbeitee im Bett.
Am diesem ersten Sonntag im Juni stehen die 200 Meter an, Frank Paul hat davon gesprochen „alles auf eine Karte zu setzen“. Weil Kwayie bei der WM 2019 die Olympianorm über 200 Meter gelaufen ist, reicht ihr in Braunschweig der erste Platz für das Ticket nach Tokio, alternativ könnte sie noch einmal eine so genannte B-Norm von 23,00 Sekunden laufen. Damit der Bundestrainer sieht, dass ihre Form für Olympia reicht.
Als Frank Paul mit Lisa Kwayie um 10 Uhr den Aufwärmplatz neben dem Stadion betritt, prasselt schwerer Regen auf sie herunter. Sie trägt eine schwarze Regenjacke, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, Wolken über der Sprinterseele. Paul dreht unablässig einen Schirm auf seiner Schulter.
Eine Frauenstimme ruft die Starterinnen für den ersten Vorlauf zusammen, Lisa Kwayie macht sich als letzte auf den Weg. „Frau Quajje“, ruft die Frau, „Frau Quajje bitte!“, sie betont es wie „Qualle“.
Im Stadion haben sich Pfützen gebildet, an eine schnelle Zeit ist nicht zu denken. Doch Lisa Kwayie läuft ein gutes Rennen, das erste seit dem vergangenen Sommer, zieht souverän ins Finale ein.
Hinterher erzählt sie, sie habe in der Nacht kaum geschlafen, sei schweißgebadet aufgewacht. Vor dem Finale nimmt sie nach Absprache mit dem Verbandsarzt Aspirin+C und Paracetamol, um 17 Uhr steht sie wieder auf der blauen Laufbahn, stellt den Startblock ein, 57 Zentimeter links, 88 Zentimeter rechts. Der Startschuss, die Kurve, Lisa Kwayie biegt als erste auf die Gerade ein, ihre Knie fliegen nach vorne, nach vorne.
In einem Hollywood-Sportfilm würde sie den Vorsprung knapp ins Ziel retten, Olympia wäre erreicht, in der Realität schiebt sich Alexandra Burghardt von der LG Wacker Burghausen noch an ihr vorbei, ist sechs Hundertstel schneller, Kwayie bleibt keuchend auf der Bahn hocken. Als sie aus dem Stadion kommt, legt ihr Frank Paul einen Arm um die Schultern, „tja, der Druck ist noch da.“ Ein Monat bleibt ihr jetzt noch, um 23,00 oder schneller zu laufen, egal ob bei einem besseren Dorfsportfest oder einem Diamond-League-Meeting. Kwayie hustet in ihre Armbeuge, nichts wie nach Hause.
„Achso, Siegerehrung“, sagt er. „Stimmt, total vergessen.“ – „Haste da noch Lust drauf?“ – „Weiß nicht.“
Sie geht dann doch zu dem kleinen Podium auf dem Aufwärmplatz, die drittplatzierte Läuferin lässt sich nicht blicken, die einzigen Zuschauer sind 14 Dixie-Klos und zehn freiwillige Helferinnen. Weil niemand da ist, um die Ehrung vorzunehmen, streift sich Lisa Kwayie die Silbermedaille selbst um den Hals, geht hinüber zu Alexandra Burghardt, hängt ihr Gold um. Dazu gibt es eine Papiertüte mit Geschenken. Duschzeug, Wärmegel, Lippenbalsam.
„Einmal lächeln bitte! Freude, Freude, Freude!“ Der Fotograf trägt seinen gelben Impfpass in einer Plastikfolie um den Hals, seine Maske hat er gleich beim Reinkommen abgenommen. Lisa Kwayie – der Husten ist weg, die zweite Impfung überstanden – sitzt in einem Container in Kreuzberg, der wie ein Umkleideraum eingerichtet ist. An den Haken hängen Trainingsanzüge in Schwarz-Rot-Gold.
Adidas und der Deutsche Olympische Sportbund haben zur „Einkleidung“ geladen. Eigentlich reisen die Olympiateilnehmer traditionell nach Frankfurt, um mit Journalisten zu sprechen und 80 bis 90 Kleidungsstücke mitzunehmen, Schuhe nicht mitgerechnet. Wegen Corona fährt dieses Jahr ein Truck durchs Land zu den Sportlern, Berlin ist erste Station der „Road Show“. Bevor die Interviews losgehen und die Fotografen Bilder machen, hat Kwayie mit Blick auf die Kollektion gesagt: „Es steht noch nicht einmal auf dem Papier, aber gefühlt bin ich schon dort.“ Auch bei ihr wird heute Maß genommen. Für Kleidung, die sie vielleicht nie tragen wird.
Für die Kameras lässt sie immer wieder ihren Fuß von einem Scanner vermessen, um zu demonstrieren, wie perfekt die Schuhe auf jede Sportlerin abgestimmt werden. Nachdem sie zum vierten Mal ihre Socken ausgezogen hat, sagt sie: „Zum Glück habe ich mir heute die Fußnägel lackiert.“
Dann kommen die Leute mit den Mikrofonen: DPA, Reuters, ZDF, Sky, RBB, SID. Kwayie wird gefragt, wie groß die Vorfreude ist (sehr groß) und ob die heiße Phase jetzt angefangen hat (absolut). Und die Kollektion? „Ich denke, das deutsche Team wird in Tokio am besten aussehen.“
Kurz vor dem Start macht eine Kampfrichterin Lisa Kwayie darauf aufmerksam, dass sie die Nummer auf ihrer Brust verkehrt herum angebracht hat, die 139 steht auf dem Kopf. Aber egal, wen sollte das stören, hier bei der Sparkassen Gala in Regensburg? Die wenigen Fans auf der Städtischen Sportanlage Am Weinweg bestimmt nicht, die Zuschauer am Livestream auch nicht. Sonntag, 20. Juni, am Computerbildschirm sieht es so aus, als sei Kwayies Start geglückt, dann hakt das Bild, gerät wieder in Bewegung, sie schießt dem Ziel entgegen, gewinnt das Rennen – die Zeit bleibt bei 22,96 Sekunden stehen.
Kwayie fällt auf die Knie, drischt mit der rechten Faust auf die Bahn, einmal, zweimal, dreimal.
Auf dem Tisch unter den hohen, alten Bäumen steht ein Schild: „Reserviert für Team Berlin“. Es gibt Wein, Bier und Aperol Spritz, Kwayie trinkt Wasser. Einen Monat vor der Eröffnungsfeier von Tokio verabschiedet Berlin am Wannsee seine Olympia-Athleten, die Sportsoldaten haben ihre Parade-Uniformen angezogen, von den Nachbargrundstücken klickt und klackt es leise herüber, das Hafenkonzert schaukelnder Segelyachten.
Berlins Staatssekretär für Sport steht auf der Bühne und bittet die Sportlerinnen und Sportler, „Berlins Lebensgefühl in die Welt zu tragen“. Dann hält Japans Botschafter eine Rede. Er spricht von Olympia als „größtem Friedensfest der Menschheit“, rattert eine Liste von Maßnahmen herunter, an die sich die Sportler zu halten hätten: tägliche Tests, eingeschränkter Alkoholkonsum im Olympischen Dorf, die Inzidenz in Tokio liege übrigens momentan bei 21,3.
An einem der Tische macht jemand den Witz vom Olympischen Dorf als Olympischem Gefängnis. Lisa Kwayie sagt, sie werde sich vor dem Abflug viele Filme auf den Laptop laden.
Ein paar Tage später erfährt sie, dass Frank Paul nicht mit nach Japan reisen darf, die Spiele ohne Publikum stattfinden werden. Ihr Vorlauf über 200 Meter ist für den 2. August angesetzt, um 10.30 Uhr Ortszeit, in Berlin ist es dann halb vier in der Nacht.
Am Tag, an dem der Deutsche Olympische Sportbund Kwayie offiziell für Tokio nominiert, postet sie ein Foto von sich bei Instagram, auf dem die etwa zehnjährige Lisa eine Urkunde hochhält und schüchtern lächelt. Dazu schreibt sie: „It was all a dream.“ Warum sie gerade dieses Bild, damals von Herrn Kiesewalter aufgenommen, ausgewählt hat, kann sie später gar nicht mehr sagen.
Lisa Kwayie sagt, sie hatte einfach das Gefühl, es würde perfekt zu diesem Moment passen.