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Der lange Weg von Nadine zu Nils - Teil 3 „Ich freue mich darauf, das erste Mal im Stehen zu pinkeln.“ Nils ist trans Mann. Mit Mitte 40 entscheidet er sich: Ich will auch äußerlich als Mann erkennbar sein – soweit wie möglich. Es begann ein Hürdenlauf mit Behörden, Krankenkassen und Mediziner:innen. Text: Ingo Bach
Video: Sophie Peschke

Nils Mertins lebt in Bielefeld, ist 46 Jahre alt und wurde als Nadine geboren. Für ihn ist das der falsche Körper, denn er ist ein Mann. Deshalb hat er sich entschieden, sein Äußeres in einer großen Operation seinem empfundenen Geschlecht anzupassen. Er erzählt uns seine Geschichte.

Sie haben sich nun für einen sehr schnellen Weg entschieden. Sie haben zum einen ihre gesamte Umgebung recht zügig über ihre Entscheidung informiert, ihren Körper angleichen zu lassen. Und Sie haben sich für die körperliche Angleichung eine sogenannte All-In-One-OP entschieden, bei der der Großteil der einzelnen Eingriffe, die üblicherweise in mehreren Schritten über Monate verteilt gegangen werden, an einem Tag erledigt wird. Wieso die Eile?

Ich will keine Zeit mehr verlieren. Ich habe ja schon so viel Jahre verloren und deswegen möchte ich das jetzt gerne zügig haben.

„Die emotionalen Schleifen im Kopf werden weniger, man denkt gerader, ich finde klarer. Und ich kann auch nicht mehr weinen. Das Emotionale ist deutlich reduzierter.“ Nils Mertins über die Folgen seiner Behandlung mit Testosteron. Das Foto zeigt ihn im Mai 2024, wenige Tag nach der letzten Operation, bei der ihm die Penisprothese eingesetzt wurde.“ Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Sie haben es also angepackt. Ein einfacher Weg?

Das sicher nicht. Wie gesagt, nach der erst befreienden und dann bestürzenden Erkenntnis im September 2022, dass ich trans bin, erlebte ich ein Wochenende mit der großen Angst. Da bin ich ziemlich tief gefallen. Ich gehöre zu den Leuten, die erst total aus der Fassung geraten – aber dann wieder aufstehen, kämpfen, planen und schneller weiterlaufen. Also raus aus dem Loch und voran, voran. Und das dann bitte sofort.

Aber erst mal musste ich mich bei diesem Thema einsortieren. Ich musste erst mal gucken, wohin der Weg führt und wie man ihn beschreitet. Zuvor hatte ich die Biografie von Balian Buschbaum gelesen. Als Frau geboren, war Balian als Leichtathletin sehr erfolgreich – und ist jetzt als trans Mann in der Öffentlichkeit unterwegs und klärt über das trans Sein auf. In seiner Biografie habe ich mich sehr oft wiedergefunden und ihn deshalb einfach mal angeschrieben, ob er mir einen Rat geben kann. Wir haben uns dann persönlich getroffen. Er hat mir ein paar wertvolle Tipps an die Hand gegeben, unter anderem auch für die Wahl der Krankenkasse, denn nicht alle zahlen alles und auch die Voraussetzungen für die Kostenübernahmen sind unterschiedlich. Balian war eine große Hilfe für mich.

Aber nicht die einzige, oder?

Nein, die andere wichtige Unterstützung kam von einem befreundeten Psychiater, der mich an einen Psychologen vermittelte. Bei dem konnte ich Mitte Oktober 2022 schon mit der für diesen Eingriff in Deutschland vorgeschrieben Psychotherapie beginnen.

Jeder kann einen Psychotherapeuten gebrauchen.
Nils Mertins

Müssen sich trans Menschen psychologisch betreuen lassen?

Ja, 14 psychotherapeutische Sitzungen sind vorgeschrieben. Viele Betroffene empfinden diese Pflicht als unnötig, manche gar als diskriminierend. Vor anderen Operationen braucht man ja auch keine Psychotherapie. So habe ich auch gedacht. Aber inzwischen sage ich, ich möchte meinen Psychotherapeuten nicht mehr missen. Ich glaube, jeder kann einen gebrauchen. Es gibt immer was zu besprechen. Aber eines ist wichtig: Ich hätte keine Psychotherapie gebraucht, um meinen Entschluss zu fassen – oder zu ändern. Ich bin mit meiner Entscheidung völlig klar.

Hintergrund: Kosten
Wann und was zahlt die Krankenkasse?

Gesetzlich krankenversicherte trans Personen haben prinzipiell einen Anspruch auf geschlechtsangleichende Behandlungen, wie eine Hormontherapie und Operationen. Allerdings nur dann, wenn der Leidensdruck bei den Betroffenen so groß ist, dass er nicht durch eine psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung wirksam gelindert werden kann.

Geschlechtsangleichende Therapien müssen – anders zum Beispiel als bei einer Krebserkrankung, einem Oberschenkelhalsbruch oder einer Blinddarmentzündung, bei denen die Diagnose die entsprechende Behandlung rechtfertigt – vorher bei den gesetzlichen Krankenkassen beantragt und von diesen genehmigt werden. Die Begründung dafür ist umstritten: Die Antragspflicht sei nötig, weil es sich in der Regel um unumkehrbare Eingriffe in einen „biologisch gesunden“ Körper handele.

Grundlage einer solchen Entscheidung sind in den meisten Fällen Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD). Diese stützen sich auf die Begutachtungsrichtlinie „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus”, die seit 2020 gültig ist. Die Zahl der Begutachtungen steigt. Im Jahr 2022 gab es 5813 Begutachtungen, ein Jahr später 6321. Bei jeweils um die 55 Prozent kamen die Gutachter:innen zu dem Ergebnis, dass alle Voraussetzungen für die Genehmigung erfüllt seien. Aber auch wenn die Voraussetzungen nur teilweise erfüllt sind, sei es möglich, dass die Kassen den Antrag genehmigen.

Zu den Voraussetzungen zählt unter anderem der Bericht, in dem Psychotherapeut:innen oder Psychiater:innen bestätigen, dass die beantragte geschlechtsangleichende Maßnahme den Leidensdruck der betroffenen Person voraussichtlich mindern und dass eine Psychotherapie allein das nicht erreichen kann. Zudem muss aus dem Bericht hervorgehen, dass eine „Störung der Geschlechtsidentität” vorliegt entsprechend des international gültigen Diagnoseverzeichnisses ICD-10. Das neue Verzeichnis ICD-11, das die WHO 2020 beschlossen hat und in dem nicht mehr von einer „psychischen Störung” die Rede ist, ist in Deutschland noch nicht etabliert.

Menschen mit dem Wunsch einer operativen Geschlechtsangleichung sollten zuvor mindestens ein Jahr lang in der gewünschten Geschlechterrolle gelebt haben. Dieser „Alltagstest“ wird teilweise scharf kritisiert. „Er ist aber nicht in jedem Einzelfall zwingende Grundvoraussetzung”, sagt Antje Enekwe, Expertin beim Medizinischen Dienst. Denn nicht immer sei er aufgrund von körperlichen Merkmalen möglich, und auch die geforderten zwölf Monate seien nicht immer erreichbar.

Für eine Transition sind in der Regel mehrere Operationen notwendig, wie die Entfernung der Brust und der inneren Geschlechtsorgane bei einem trans Mann oder die Entfernung der äußeren Geschlechtsorgane und die Modellierung einer weiblichen Brust bei einer trans Frau. Diese Eingriffe sind sehr teuer und kosten mehrere Zehntausend Euro. Hat die Krankenkasse diese Behandlung genehmigt, werden die Kosten dafür übernommen. Lehnt die Kasse das ab, kann gegen die Entscheidung Widerspruch eingelegt werden.

Sogenannten All-in-One-Operationen, bei der ein Großteil der geschlechtsangleichenden Operationen an einem Tag durchgeführt werden, bieten derzeit meist nur Privatkliniken an. Prinzipiell bestehe kein Anspruch, dass eine gesetzliche Krankenkasse eine Behandlung in einer Privatklinik bezahle, sagt MD-Expertin Enekwe. Sie können aber die Kosten solcher Operationen freiwillig ganz oder teilweise übernehmen.

Die Suche nach einer Krankenkasse und einem Psychotherapeuten sind nicht die einzigen Hürden für trans Menschen in Deutschland.

Nein, denn nachdem ich die entsprechende Krankenkasse gefunden hatte, die die Kosten für die All-in-One-OP zumindest teilweise übernahm und ich mit der Psychotherapie anfangen konnte, gab es plötzlich ganz praktische Probleme. Als ich im Dezember die Personenstandsänderung, die damals für den neuen Vornamen noch nötig war, in die Wege geleitet hatte, kam eine Rechnung. Das zuständige Gericht wollte 1800 Euro Gebühr. Da bin ich erst mal aus allen Wolken gefallen. Das wurde jetzt mit dem neuen Personenstandsgesetz geändert.

„Ich freue mich darauf, das erste Mal im Stehen zu pinkeln.“ Nils Mertins im September 2023, kurz vor seiner All-in-one-Operation. Foto: Tagesspiegel, Sophie Peschke

Die Geschlechtsangleichung ist auch mit einer Hormonbehandlung verbunden.

Ja, seit Januar 2023 nehme ich Testosteron.

Ich denke jetzt männlicher.
Nils Mertins

Wie beobachten Sie jetzt Ihren Körper, den Sie so lange zu verdrängen suchten? Mit Freude über die Veränderungen?

Ich trage das Hormongel jeden Morgen auf. Und habe seit der ersten Anwendung die Veränderungen gemerkt, wie das anflutet. Das ist ein Kribbeln im Kopf. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und spüre das nicht mehr so stark. Aber ich habe auch sofort gemerkt, dass ich anders denke, männlicher denke. Die emotionalen Schleifen im Kopf werden weniger, man denkt gerader, ich finde klarer. Und ich kann auch nicht mehr weinen. Das Emotionale ist deutlich reduzierter. Man sieht das Ziel klarer, steuert direkt drauf zu. Als Frau geht man dahin in Serpentinen.

Und körperlich?

Meine Stimme ist etwas tiefer geworden, aber mir noch nicht tief genug. Auch die Körperbehaarung wird hoffentlich bald kräftiger. Noch muss ich mich nicht so richtig rasieren. Aber das braucht seine Zeit, und ich lerne das noch, geduldig zu sein.

Wir haben Nils zur OP begleitet. Im Video wird erklärt, wie die Operation abläuft. TRIGGERWARNUNG.

Spüren Sie Symptome einer Menopause?

Der Zyklus läuft noch tipptopp. Ich war vor zwei Wochen bei meiner Gynäkologin und sagte ihr, ich glaube, ich habe jetzt meinen Eisprung. Sie wollte es nicht glauben, doch so war es. Wie gesagt, ich kenne meinen Körper. Ich habe aber durch das Testosteron natürlich nicht mehr meine Blutung, aber ich spüre meinen Zyklus noch und ich merke das auch stimmungsmäßig.

Aber Sie wollen schon, dass das endet, richtig?

Klar. Deshalb ist die Hysterektomie, also die Entfernung der Gebärmutter, eines der wichtigsten Bestandteile der OP, die ich herbeisehne.

„Und ich will, dass das alles in einem Abwasch erledigt wird.“ Nils Mertins hat sich für eine All-in-One-Operation entschieden, in der fast alle Schritte der Transition an einem Tag vorgenommen werden. Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Sie haben sich dafür entschieden, die All-In-One-Operation an der Meoclinic hier in Berlin durchführen zu lassen, einer Privatklinik. Wieso lassen Sie dies nicht in einem Krankenhaus durchführen, das für Kassenpatienten offen steht?

Weil die Meoclinic die All-In-One-OP anbietet. Und ich will, dass das alles in einem Abwasch erledigt wird. Der Chirurg Paul Jean Daverio, der das an der Meoclinic durchführt, hat bereits viele dieser Eingriffe durchgeführt.

„Die Operation ist eine gehörige Belastung für den Körper. Doch ich weiß und ich fühle, dass das alles für mich das Richtige ist.“ Nils Mertins über die ihm bevorstehende Operation. Im September 2023 findet die All-in-One-Operation in der Berliner Meoclinic statt. Der Chirurg Paul Jean Daverio (Mitte) leitet sie. Foto: Tagesspiegel, Sophie Peschke

Und dann wird alles ganz einfach?

Ach, schön wär’s, denn nun wird alles furchtbar kompliziert und ein anstrengender Weg. Ich habe im Januar wie gesagt mit dem Testosteron angefangen und parallel einen Termin mit der Klinik für die OP ausgemacht. Anfang Februar war ich hier zum Vorgespräch. Da ging es um die Krankenkassenfrage und auch darum, einen freien OP-Termin zu finden. Wir fanden einen im September. Anschließend musste ich die Kostenübernahme bei der Krankenkasse beantragen.

Da muss man zig Sachen einreichen, Blutwerte und das Indikationsschreiben des Urologen. Dann benötigt man auch Angaben des Gynäkologen, den vom Psychologen bestätigten emotionalen Lebenslauf und den Antrag auf Personenstandsänderung. Und vom Hausarzt braucht man die Überweisung. Der ganze Packen Papier geht dann zum Medizinischen Dienst (MD), der das Gutachten verfertigt für oder auch gegen die Kostenübernahme durch die Kasse. Seit vier Tagen weiß ich, dass der MD sich für die Kostenübernahme entschieden hat.

Aber die Kostenübernahme ist nicht komplett?

Nein, denn die Meoclinic ist eine Privatklinik. Die Kasse wird aber die Kostenanteile übernehmen, die sie in diesem Fall auch in einem gesetzlichen Krankenhaus tragen würde. Da bleibt aber noch eine Lücke zu den tatsächlichen Kosten. Ich rechne damit, zwischen 10.000 und 15.000 Euro selbst zu tragen. Da ist es natürlich ein Vorteil, dass ich nicht 20, sondern schon 46 bin und lange arbeiten und sparen konnte. Ich muss dafür also keinen Kredit aufnehmen, wie es andere schon tun mussten.

Nun ist es nicht mehr lang, bis diese Operation stattfinden wird. Mit welchen Gefühlen denken Sie daran? Es ist ja immerhin ein sehr umfangreicher und stundenlanger Eingriff. Die Gebärmutter und Eierstöcke werden entfernt, die Brüste abgenommen und eine Phallusplastik aus dem Unterarm gebaut und an verpflanzt. Denken Sie auch an die Risiken, die dabei möglicherweise auf Sie warten?

Tagesspiegel, Sophie Peschke

Ich komme ja aus dem medizinischen Bereich. Ich weiß, dass es danach schmerzt. Aber ich habe keine Angst vor den Schmerzen. Und ja, natürlich habe ich Angst vor dieser OP. Es wäre auch unnormal, wenn ich die nicht hätte. Die Operation dauert mindestens acht Stunden, ich liege danach ein paar Tage auf der Intensivstation und bleibe zwei Wochen im Krankenhaus. Das ist schon eine gehörige Belastung für den Körper. Und klar denke ich auch an das Ergebnis, hoffentlich wird es gut aussehen. Doch ich weiß und ich fühle, dass das alles für mich das Richtige ist.

„Ein Mann ist erst dann ein Mann, wenn alles so dran ist, wie und wo es hingehört.“ Nils Mertins im September 2023. Für die All-in-One-Operation sind drei OP-Teams im OP-Saal. Foto: Tagesspiegel, Sophie Peschke

Fürchten Sie einen Bestandteil der OP mehr als die anderen?

Natürlich ist das die Phallusplastik, vor der ich am meisten Respekt habe. Wird das optisch gut aussehen? Werde ich dort Gefühl drin haben? Aber ich will das auf jeden Fall. Ein Mann ist erst dann ein Mann, wenn alles so dran ist, wie und wo es hingehört.

Worauf freuen Sie sich am meisten, was Sie nach der OP tun können?

Ganz ehrlich: Wenn ich das erste Mal im Stehen pinkeln kann.

„Ich spüre in mir meinen richtigen, meinen männlichen Körper zu 100 Prozent.“ Nils Mertins kurz vor der Operation im September 2023. Foto: Tagesspiegel, Sophie Peschke

Noch eine letzte Frage: Was spüren Sie jetzt, in diesem Augenblick?

Ich spüre in mir meinen richtigen, meinen männlichen Körper zu 100 Prozent. Und ich kann fühlen, wie er nach der OP sein wird. Aber der Eingriff ist der schwerste Schritt meines Lebens. Und er ist gleichzeitig der entscheidende Schritt, der zu meinem Glück führen wird.

Das Team

Ingo Bach
Interview
Julia Brigasky
Bildredaktion
Sophie Peschke
Foto & Video
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Hendrik Lehmann
Produktion
David Meidinger
Webentwicklung
Morten Wenzek
Social Projektleitung
Veröffentlicht am 19. Juli 2024.