Dreieinhalb Monate nach der All-in-One-Operation, Mitte Dezember 2023, treffen wir uns ein weiteres Mal. Wir wollen wissen, wie Nils mit seinem neuen Leben nun mit etwas Abstand zurecht kommt. Was auffällt: Seine Stimme ist noch etwas tiefer geworden. Aber noch immer – zwei Jahre nach Beginn der Therapie mit Testosteron – klingt sie etwas höher, als bei anderen Männern. Und auch mit seiner Gesichtsbehaarung ist Nils noch nicht recht zufrieden, wie er selbst sagt.
Aber trotzdem gebe es starke Veränderungen. Sein Gesicht sei kantiger geworden, sagt er. Und der Unterkiefer etwas nach vorne gerutscht. Früher habe er einen Überbiss gehabt. Das sei jetzt fast ausgeglichen. Und sein eigener Körpergeruch habe sich verändert.
Auch in seinem Alltag hat Nils einige Änderungen erlebt und ist dabei, sich beruflich neu zu orientieren.
Die Geschlechtsdysphorie – also die Abweichung des empfundenen vom körperlichen Geschlecht – haben Sie als Ihre „kleine Behinderung“ beschrieben. Ist die Behinderung nun geheilt?
Behinderung deshalb, weil ich dadurch eingeschränkt war. Dass das so war, kann ich erst jetzt richtig überblicken. Jetzt komme ich immer mehr in meine Mitte. Seit einigen Wochen spüre ich, wie die Empfindungsfähigkeit in die Phallusplastik hineinwächst. Ich merke, wie es zwickt und in der Leiste kribbelt – so, als wenn ein eingeschlafener Arm aufwacht. Viel mehr ist es zwar noch nicht, aber es wird. Und schon dieses kleine bisschen Gefühl löst in mir eine freudig erregte Überforderung aus. Es setzt in mir eine schwer fassbare Energie aus, die vorher nicht da war.
Die Nerven wachsen langsam in den Penoid hinein. Geschieht das schneller oder langsamer, als Sie vorher erhofft haben?
Es ist noch wenig und nur am Schaft fühlbar, da wo die Naht ist. Manchmal muss ich mich sehr konzentrieren, um es wahrzunehmen. Dann schließe ich die Augen und spüre dem nach, ob da wirklich Gefühl ist oder ob ich mir das nur einbilde, weil ich es will, dass es da ist.
Sind Sie zufrieden mit dem neuen Organ?
Richtig zufrieden wohl noch nicht. Kürzlich habe ich gedacht: Mein Pimmel ist mir zu kurz. Und auch das Aussehen ist sicher gewöhnungsbedürftig. Bei einem angeborenen Penis ist die Eichel mit einer Wölbung deutlich vom Schaft abgesetzt. Doch bei mir ist da nur eine narbige Linie drum herum, dort, wo die Haut an der Spitze des Penoids umgeschlagen wurde. Und ich hätte auch gerne, dass sich die Venen unter der Haut abzeichnen, wie bei einem echten Penis. Als ich das einer Freundin erzählt habe, sagte die nur: Wieso? Pimmel sehen doch immer scheiße aus. Das sehe ich anders, ein Penis kann sehr schön aussehen.
Schauen Sie inzwischen mit einem männlichen Blick auf Frauen?
Ja, ich gucke schon. Und ich weiß, wenn ich einen neuen Menschen kennen und lieben lerne, dass das eine Frau sein wird. Aber ich kann nicht ausschließen, dass ich vielleicht auch einen Mann interessant finde. Ich würde nicht sagen, dass ich bisexuell bin. Aber ich bin offen. Lange vor dem Beginn der Transition habe ich mit zwei Männern geschlafen, um das mal auszuprobieren.
Eine Penoid funktioniert anders, als ein Penis. Er hat zum Beispiel keine Eichel, von der Lustgefühle ausgehen, und kann nicht von allein erigieren. Machen Sie sich Gedanken darüber, wie der erste Sex mit dem Penoid sein wird? Denken Sie, dass Sie erst einiges zur Handhabung erklären müssen?
Wenn die Frau fragt, werde ich was zum Penoid sagen und auch erklären, wie man damit umgeht. Und sicher wird der Partnerin auffallen, dass er anders funktioniert. Allein schon dadurch, dass ich für den Sex das Implantat aufpumpen muss, um eine Erektion zu haben.
Nun, mit einigen Monaten Abstand zur OP: Ist alles so gekommen, wie Sie es sich vorgestellt haben?
Das neue Leben fängt jetzt erst langsam an. Es hat einige Monate gedauert, bis ich die Veränderungen realisiert habe. Es ist so viel passiert. Ich kann nun selbstbewusster Männerklamotten tragen. Weil meine Silhouette jetzt auch dazu passt. Und auch, dass ich im Stehen pinkeln kann, ist wichtig, um mich komplett als Mann zu fühlen. Und trotzdem passiert es mir noch, dass ich auf dem Sofa sitze und denke, hier sitzt Nadine. Vor allem, wenn ich den Beckenboden anspanne, fühle ich den Gebärmutterhals, obwohl der ja gar nicht mehr da ist. Das ändert sich ganz langsam, je mehr der Penoid spürbar wird. Andere trans Männer, die das schon länger hinter sich haben, sagten mir: Zehn Monate nach der OP kannst Du Bäume ausreißen. Und auch wenn nicht alles perfekt ist: Dafür bin ich dankbar.
Wie geht es beruflich weiter?
Ich habe mich etwas umorientiert oder zumindest ergänzt. Ich bin jetzt Diversity Coach und biete Schulungen für Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser an, in denen ich auch über meine eigenen Erfahrungen berichte. Und meine Biographie ist fertig geschrieben. Nun suche ich noch einen Verlag dafür.
Es lief ja nicht alles glatt bei der Heilung. Sie haben die Rückschläge auf Instagram geteilt. Vor allem eine hartnäckige Zyste, die sich im Genitalbereich gebildet hatte, machte Ihnen sehr zu schaffen. Haben Sie Ihre Entscheidung in der Zeit auch mal bereut?
Nein, das war die beste Entscheidung meines Lebens. Auch die Entscheidung, die Angleichung in einer einzigen OP machen zu lassen, würde ich immer wieder treffen. Ich habe kürzlich mit einem anderen trans Mann gesprochen, der die Angleichung in mehreren Operationen machen ließ. Es war immer wieder das gleiche Prozedere, die gleiche Unruhe vorher, die gleichen Belastungen – nur das nicht einmal, sondern vier oder fünf Mal. Ich aber war nach einem Mal fertig – und kann jetzt nach vorne schauen.
Psychologen berichten, dass manche trans Menschen die angleichende Operation mit Erwartungen überfrachten würden. Sie hoffen, dass die OP alles sofort bessert, die Depressionen enden und das Leben leichter wird. Doch dann folgt allzuoft die Enttäuschung, weil das alles eben nicht sofort eintritt …
Ich glaube, es ist eine Einstellungssache. Auch bei mir war es nicht so, dass ich nach dem Eingriff aufgewacht bin und gedacht habe: Juhu! Nein, man muss in diesen neuen Körper erst reinwachsen und man muss ein Gefühl dafür kriegen. Zudem bin ich in meine alte Umgebung zurück. Ich bin an meinem alten Arbeitsplatz, es sind die gleichen Leute um mich rum. Das alles bringt erst mal ein paar Komplikationen mit sich. Alle geben sich sehr große Mühe, aber sie müssen sich auch erst mal umstellen. Sie kannten mich jahrzehntelang nur als Nadine. Und jetzt ist da Nils und der will auch so behandelt werden. Ich habe das erst kürzlich deutlich gemerkt bei einem Seminar mit zwölf Teilnehmern in Aschaffenburg. Dort wurde ich als Mann gelesen und auch anders behandelt.
Anders?
Zum einen wird ein Mann wertschätzender gesehen. Man wird viel ernster genommen, wenn man etwas sagt. Seitdem ich das Testosteron nehme, kann ich viel besser, viel gerader diskutieren. Ich lasse mir die Butter nicht mehr so leicht vom Brot nehmen. Ich vergreife mich nicht im Ton, aber ich kann klar, sachlich und auch konfliktfreudig diskutieren. Das war vorher anders. Es ist eben doch eine männerdominierte Welt. Von der ich immer mehr ein Teil werde …
Der Bundesverband Trans* versteht sich als ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinen, Verbänden und Initiativen auf Regional-, Landes- und Bundesebene, die sich für geschlechtliche Selbstbestimmung und Vielfalt einsetzen. Zu den Hilfsangeboten zählen Fortbildungen und Publikationen.
Die Deutsche Gesellschaft für Trans- und Intergeschlechtlichkeit e.V. (dgti) ist eine bundesweite Fachgesellschaft, die sich für die Akzeptanz und Gleichstellung von trans-, intergeschlechtlichen, nicht binären und agender Menschen in allen Ebenen der Gesellschaft einsetzt. Die dgti bietet psychosoziale und fachliche Beratung, Fort- und Weiterbildungen, Qualitätszirkel für Psychotherapeut*innen sowie queere Bildung und die Zertifizierung Ihrer medizinischen Einrichtung an.
Der Paritätische Gesamtverband steht für Vielfalt, Respekt und Offenheit. Wir engagieren uns an der Seite der Menschen, die sich für die Gleichberechtigung von homo-, bi-, inter- und transgeschlechtlichen Menschen einsetzen.
Namen sind wichtig, gerade auch für trans Menschen, weil es das Zeichen an die Gesellschaft ist, dass die Transition hörbar macht. Was überwiegt bei Ihnen? Sagen alle Menschen in Ihrer Umgebung Nils – oder begegnet Ihnen Nadine noch immer?
Meine Mutter hat mich als Nadine geboren und hat 46 Jahren Nadine zu mir gesagt. Natürlich rutscht ihr der Namen auch jetzt immer mal wieder über die Zunge. Aber da können wir beide drüber lachen. Doch auch wenn ich damit noch locker umgehen kann, ist es mir nicht egal. Auch deshalb übrigens, weil ich sehe, wie sich alle in meiner Umgebung inklusive meiner Eltern sehr bemühen. Und so lange ich das sehe, kann ich über Fehler auch gut hinweglachen.
Ich muss bereit sein, den Leuten die Zeit, die sie brauchen, zu geben. Und noch schwieriger als der Name ist das Pronomen. Selbst mir rutscht noch manchmal ein sie raus, vor allem dann, wenn ich aus der Vergangenheit erzähle. Andere bauen sich Eselsbrücken. Ein Kollege, den ich ewig kenne und natürlich duze, sagt neuerdings immer erst „Herr Mertins“, wie eine Selbstvergewisserung. Und so geben sich alle Mühe. Das Nils wird immer sicherer. Bald wird Nadine Vergangenheit sein.
Nils Mertins ist noch nicht am Ende seines Weges zu einem Menschen, der von allen als Mann gelesen wird, wie er selbst sagt. Der letzte Schritt der körperlichen Angleichung wird im April abgeschlossen sein. Dann bekommt er das Implantat eingesetzt, mit dem er eine Erektion erreichen kann. Zudem wird aus den zusammengenähten ehemaligen äußeren Schamlippen ein Hodensack geformt, in dem die Pumpe für das Implantat und eine Hodenprothese platziert werden. Die körperliche Anpassung, die mithilfe der Chirurgie erreichbar ist, wird dann beendet sein.
Der mentale Weg dorthin aber noch nicht. Noch sehe er hinter dem männlichen Körper noch seinen ehemaligen weiblichen, sagt Nils Mertins. Das passiere aber immer seltener – und wird eines nicht allzu fernen Tages ganz verschwunden sein.