Artikel teilen
teilen

Der lange Weg von Nadine zu Nils - Teil 7 „Ich hatte vor einigen Tagen meinen ersten Orgasmus“ Die letzte Operation erfüllt Nils Mertins einen großen Wunsch: einen funktionsfähigen Penis. Trotzdem wird seine Sexualität stets etwas anders bleiben, als bei Männern, die mit Penis geboren wurden. Text: Ingo Bach
Video: Sophie Peschke

Es hat Monate gedauert, bis all die Narben verheilt und die Umgestaltungen am Körper von Nils so weit abgeschlossen sind, dass die Chirurgen den letzten Schritt wagen konnten: Nun soll der nachgestaltete Penis funktionstüchtig werden.

Nils Mertins ist noch nicht am Ende seines Weges zu einem Menschen, der von allen als Mann gelesen wird, wie er selbst sagt. Aber der letzte Schritt der körperlichen Angleichung, der mit Hilfe einer Operation möglich ist, den ist er jetzt gegangen.

„Entscheidend ist, dass ich nun mehr in meiner Mitte bin.” Nils Mertins einen Tag nach seiner zweiten Operation in der Meoclinic, bei der ihm die Erektionsprothese eingesetzt wurde. Er trägt noch den Blasenkatheter. Foto: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Es ist Ende Mai 2024, als wir Nils Mertins wieder treffen, erneut in einem Patientenzimmer der Meoclinic. Er ist gut gelaunt, aber auch geschwächt. Denn es ist der erste Tag nach dem finalen Schritt seiner Transition. Sieben Monate nach der All-In-One-Operation hat der Chirurg Paul Jean Daverio den in der großen OP aus der Haut des Unterarms geformten Penis mit einer Erektionsprothese funktionstüchtig gemacht. Zudem hat er aus den zuvor zusammengenähten äußeren Schamlippen einen Hodensack geformt. Und darin das Pumpelement der Prothese und einen künstlichen Hoden platziert.

Die Operation selbst ist zwar nicht so lang, wie die All-In-One-OP, die in der Regel sieben Stunden, aber auch deutlich länger dauern kann. Doch auch sie verlangt dem Körper einiges ab.

Der Chirurg Paul Jean Daverio hat vor acht Monaten die Penisplastik für Nils Mertins aus dessen Unterarmhaut geformt. Foto: meoclinic
Nun macht er den Penoid mit einer Erektionsprothese funktionstüchtig. Foto: Tagesspiegel/Sophie Peschke

Rückblende: Einen Tag zuvor liegt Nils Mertins – bereits in Narkose – mit angewinkelten Beinen im OP-Saal der Meoclinic. Blaue Tücher liegen auf und hängen vor ihm. Sein Unterkörper ist frei. Chirurg Daverio setzt drei fingerlange Schnitte, einen über dem Penoid, und je einen rechts und links des zu formenden Hodensacks. Noch liegen die in der großen OP vernähten äußeren Schamlippen flach am Beckenboden an. Der Chirurg löst erst die rechte Seite ab. Hier wird er die Pumpe der Erektionsprothese einsetzen. Mit ihr kann Nils später die Flüssigkeit aus dem dazugehörigen Reservoir, das im Unterbauch über dem Penoid eingesetzt wird, in die künstlichen Schwellkörper pumpen und so den Penoid aufrichten. Allerdings kann diese Prothese, anders als beim angeborenen Penis, diesen nicht vergrößern. „Das würde den Penoid, dessen Gewebe kaum in der Länge flexibel ist, aufreißen“, sagt Daverio.

Er stößt eine lange, metallene Lanzette zweimal längs durch den Penoid und schafft so zwei schmale Tunnel, in die er die künstlichen Schwellkörper schiebt. Die Prothese besteht aus Silikon, das mit einer gelblichen Lösung imprägniert ist, die das Wachstum von Mikroorganismen hemmt.

Die Flüssigkeit, mit der die Konstruktion gefüllt ist, ist eine sterile Kochsalzlösung – oder besser Natrium-Chlorid-Lösung. „Gekocht wird hier nichts“, scherzt der Chirurg trocken.

Alle Schläuche und das einer kleinen runden Blase ähnelnde Reservoir müssen komplett frei von Verunreinigungen sein. „Sonst kann es zu Funktionsstörungen kommen, die eine erneute Operation nötig machen“, sagt Daverio.

Dann testet er die korrekte Funktion. Ein wenig merkwürdig mutet es schon an, wie sich der Penoid aufrichtet und eine ganze Weile vom Unterbauch des Patienten hochragt. Die Zeit braucht Daverio, um alle Schläuche in der richtigen Länge und ohne Knick zu platzieren und die gerade Ausrichtung des Phallus zu korrigieren.

Nachdem alles richtig verkabelt ist, schiebt Daverio eine Hodenprothese aus durchsichtigem Silikon in die linke Hälfte des nun vollständig vom unterliegen Gewebe des Beckenbodens abgehobenen Hodensacks.

Hintergrund: Unterstützung für Betroffene
Hier finden Sie Rat und Hilfe

Der Bundesverband Trans* versteht sich als ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, Gruppen, Vereinen, Verbänden und Initiativen auf Regional-, Landes- und Bundesebene, die sich für geschlechtliche Selbstbestimmung und Vielfalt einsetzen. Zu den Hilfsangeboten zählen Fortbildungen und Publikationen.

LINK

Die Deutsche Gesellschaft für Trans- und Intergeschlechtlichkeit e.V. (dgti) ist eine bundesweite Fachgesellschaft, die sich für die Akzeptanz und Gleichstellung von trans-, intergeschlechtlichen, nicht binären und agender Menschen in allen Ebenen der Gesellschaft einsetzt. Die dgti bietet psychosoziale und fachliche Beratung, Fort- und Weiterbildungen, Qualitätszirkel für Psychotherapeut*innen sowie queere Bildung und die Zertifizierung Ihrer medizinischen Einrichtung an.

LINK

Der Paritätische Gesamtverband steht für Vielfalt, Respekt und Offenheit. Wir engagieren uns an der Seite der Menschen, die sich für die Gleichberechtigung von homo-, bi-, inter- und transgeschlechtlichen Menschen einsetzen.

LINK

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes

Nach anderthalb Stunden ist die Operation beendet. Diesmal genügten zwei Chirurgen, ein Anästhesist und drei OP-Schwestern für den Eingriff – und nicht drei komplette Teams, wie bei der All-In-One-Operation.

Zum Schluss lässt Daverio durch Druck auf ein Ventil an der Pumpe, die die Flüssigkeit ins Reservoir befördert, den Penoid erschlaffen. Doch die Schwellungen des umliegenden Gewebes durch die Operation dauern deutlich länger an. Noch am nächsten Tag, als wir Nils Mertins im Patientenzimmer besuchen, kann er nur schwer laufen. Doch tapfer macht er mit bei der Fotosession, um die wir ihn gebeten haben. Noch immer ist sein Wille, sich bei seiner Transition öffentlich und hautnah begleiten zu lassen, ungebrochen.

„Die Dankbarkeit, keine weibliche Brust mehr zu haben, überwiegt die kleine Unzufriedenheit mit der Optik der Narben.”
Nils Mertins 2024 Fotos: Marcus Glahn für den Tagesspiegel

Diese Offenheit zeigt sich auch darin, dass er deutlich sagt, womit er nicht zufrieden ist. Dazu zählen die breiten Narben an seiner Brust, die ihn daran erinnern, dass dort Brüste waren. „Ich habe bei anderen Transmännern gesehen, dass es auch dünnere Narben gibt.“ Und doch: „Die Dankbarkeit, keine weibliche Brust mehr zu haben, überwiegt die kleine Unzufriedenheit mit der Optik der Narben“, sagt er.

„Ich hatte vor einigen Tagen schon meinen ersten Orgasmus.” Foto: Tagesspiegel/Sophie Peschke

Mit seinem nachgestalteten Penis aber ist er zufrieden. „Ich hatte vor einigen Tagen schon meinen ersten Orgasmus“, erzählt er. Auch wenn er bei der Masturbation gespürt hat, dass die Lustgefühle von der Klitoris kamen, der sich unter dem Penisaufbau befindet.

Mit der Zeit sind die Nerven von dort – so wie es gewollt war – in den Penis gewachsen. Und auch wenn ihn dieses Gefühl noch eine ganze Weile daran erinnern wird, dass das mal der Körper einer Frau war, lächelt er zufrieden.

Nils Mertens 2024. Tagesspiegel, Sophie Peschke

Er ist gespannt, wie sich sein Sexleben mit dem funktionstüchtigen Penis entwickeln wird. Er wird mehr Erfahrungen sammeln im Umgang mit ihm – ebenso wie seine Sexualpartnerinnen und -partner. Nils freut sich darauf, immer mehr über sich zu lernen. Denn abgeschlossen ist die Transition wohl nie.

Das Team

Ingo Bach
Interview
Julia Brigasky
Bildredaktion
Sophie Peschke
Foto & Video
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
Hendrik Lehmann
Produktion
David Meidinger
Webentwicklung
Morten Wenzek
Social Projektleitung
Veröffentlicht am 20. Juli 2024.