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Solche Straßen
will Berlin

Über 21.000 Menschen haben uns gesagt, was ihnen auf der Straße Angst macht – und wie Berlins Radwege in Zukunft aussehen sollen. Die wichtigsten Ergebnisse in Grafiken.
21.000 Menschen haben abgestimmt, welche Straßen und Radwege Angst machen – und wie sie stattdessen aussehen sollten.
In Kooperation mit FixMyBerlin In Kooperation mit FixMyBerlin

Es ist die größte Umfrage, die in Deutschland jemals zur Straßengestaltung durchgeführt wurde. Gemeinsam mit Fixmyberlin haben wir die Berlinerinnen und Berliner gefragt, wie die Straßen der Zukunft aussehen sollen. Alle konnten sich beteiligen. Sehr viele haben es getan. Menschen aus allen Altersgruppen und Berliner Bezirken nahmen am „Berliner Straßencheck“ teil – egal ob sie meist mit dem Rad, dem Auto, dem ÖPNV oder zu Fuß unterwegs sind. Neben mehreren Initiativen riefen auch ADFC und ADAC dazu auf, mitzumachen. Letztlich wurde die Umfrage mehr als 21.000 mal ausgefüllt.

Ziel war, herauszufinden, wie Straßen und vor allem Radwege in Berlin künftig gestaltet werden sollten, damit nicht nur Planer und Politiker sich damit wohlfühlen, sondern auch die Leute, die darauf unterwegs sind. Detaillierte Daten dazu lagen kaum vor. Bis jetzt. Nach mehreren Monaten Datenauswertung können wir erstmals extrem genau sagen, welche Straßen die Bevölkerung wünscht.

Die Frage drängt gerade jetzt. Während der Coronakrise wurden in Berlin in einer Geschwindigkeit vorläufige Radwege geschaffen, wie sie die Hauptstadt des organisierten Chaos selten an den Tag legt. Die Pop-Up Bike Lanes erfreuen sich nicht nur großer Beliebtheit. Viele sollen zu dauerhaften Radwegen umgebaut werden, weitere hinzukommen. Will die Regierung das Mobilitätsgesetz erfüllen, ist das auch dringend nötig. Bislang hängt der Senat weit hinter seinem Versprechen her, alle Hauptstraßen mit ordentlichen Radwegen auszustatten.

Der beste vs. schlechteste Radweg

Wer an der Umfrage teilnahm, musste verschiedene automatisch generierte Straßenszenen bewerten – entweder aus der Perspektive vom Fahrrad herunter, aus dem Auto heraus, oder vom Fußweg aus. Darin wurden dutzende Merkmale automatisch kombiniert, die eine Straße ausmachen. Zum Beispiel: breiter Radweg, starker Autoverkehr, weiße Trennungslinie ohne Poller, rechts Bordstein, keine parkenden Autos am Straßenrand. Das ergibt sehr viele Kombinationsmöglichkeiten: 3018 verschiedene computergenerierte fotorealistische Straßenszenen wurden letztlich zufällig ausgespielt. 468.370-mal wurden diese Straßensituationen bewertet.

Bei allen gab es vier Auswahlmöglichkeiten: Fühlen Sie sich in dieser Situation „sicher“, „eher sicher“, „eher unsicher“ oder „unsicher“? Klingt immer noch kompliziert? Hier die beiden extremsten Straßenszenen im Vergleich:

Die zweite Szene zeigt eine futuristische Fahrradstraße: Eine Art Fahrradautobahn, in der man schlimmstenfalls nicht auf die Autospur stürzen würde, sondern in grüne Hecken. Hier gibt es keine Autos, keine Tramschienen, keine Bushaltestellen. Die Fahrräder haben einen eigenen, fast schon hermetisch abgetrennten Raum für sich alleine. Es gibt allerdings ähnliche Wege inzwischen in Städten wie Kopenhagen: Dort verbinden eigene Fahrradschnellstraßen Stadtteile, zwischen denen besonders viel Fahrradverkehr besteht. Sie werden oft durch Parks oder über eigene Brücken geführt.

Das erste Bild hingegen zeigt, wie schlimm die gegenwärtige Situation auf vielen Berliner Straßen für Radfahrerinnen und Radfahrer ist. Ähnliche Straßen gibt es schließlich viele in der Stadt. Darauf zu fahren ist auch mit dem Auto unangenehm. Wurde Teilnehmenden dieselbe Szene aus dem Auto heraus gezeigt, gaben ebenfalls 82,2 Prozent der Befragten an, sich hier „unsicher“ oder „eher unsicher“ zu fühlen.

Überraschende Übereinstimmung

Diese Übereinstimmung ist kein Einzelfall. Das überraschendste Ergebnis der Umfrage ist nämlich: Die Leute sind in den meisten Fällen recht einig, welche Straßen die besten wären. Weder nach Bezirken, noch Altersgruppen, noch Geschlecht gab es großartig unterschiedliche Präferenzen, welche Radwege sich sicher anfühlen.

Obwohl der Schwerpunkt der Umfrage auf der Gestaltung von Radwegen lag, wurde sie auch mehr als 2000-mal von Menschen beantwortet, die hauptsächlich mit dem Auto unterwegs sind und 5300-mal von solchen, die meist ÖPNV und ihre Füße benutzen. Zwar lässt sich die Umfrage nicht als „repräsentativ“ bezeichnen, weil beispielsweise soziodemografische Angaben wie Einkommen oder Herkunft nicht erhoben wurden. Durch die extrem hohe und diverse Beteiligung sind die Ergebnisse aber trotzdem sehr aussagekräftig. Und dabei zeigt sich: Auch die Autofahrerinnen und Autofahrer sind meist ähnlicher Meinung.

Glücklich getrennt

Um herauszufinden, welche Faktoren am meisten zu mehr Sicherheitsgefühl im Verkehr beitragen, haben wir die hunderttausenden Bewertungen genauer anhand der einzelnen Merkmale analysiert. Vergleicht man nur die Simulationen von Hauptstraßen, zeigt sich: Einer der wichtigsten Faktoren ist die Trennung zwischen Autoverkehr und Fahrradverkehr:

Eine simple Trennungslinie allein macht hingegen keinen sicheren Radweg. Zwar fühlen sich die Fahradfahrerinnen und Fahrradfahrer damit schon weitaus sicherer, als wenn es gar nichts gibt. Aber es herrscht wohl weiterhin das Gefühl vor, dass dieser Raum einem nicht sicher gehört. Autos können jeden Moment darauf hinüberschwenken. Die Ergebnisse dürften in der Realität noch weitaus schlimmer ausfallen. Denn in den Bildern nicht dargestellt wurde der alltägliche Berliner Verkehrswahnsinn: Ein- und ausparkende Autos, Lieferwagen und Zweite-Reihe-Parker, die sich oft wenig dafür interessieren, ob sie auf dem Radweg halten, während sie Kippen beim Späti kaufen.

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Die Ergebnisse unter den drei Bildern oben beziehen sich ausschließlich auf die Art der Trennung. Andere Faktoren, zum Beispiel parkende Autos, Geschwindigkeitslimits und die Farbe des Radwegs wurden dabei herausgerechnet. Am besten schnitten Radwege ab, die durch Betonblumenkästen vom motorisierten Verkehr getrennt sind. Aber in den Bildern gab es ganz verschiedene Trennungsarten. Es spielte keine große Rolle, was genau vor den Autos schützt, solange sie es nicht überfahren können. Solche baulichen Trennungen verhindern natürlich auch, dass Autos besonders knapp überholen. Und das trägt laut Tagesspiegel-Umfragen 2018 besonders dazu bei, dass es sich mies anfühlt, in Berlin Fahrrad zu fahren. Der Vergleich zu reinen Linien zeigt das noch mal:

Und wie sehen das die Autofahrer und Autofahrerinnen? Auch da gibt es eine eindeutige Präferenz für klare Trennungen: Über 88 Prozent gaben an, sich neben einem Radweg mit Blumenkübeln recht sicher zu fühlen, gut 84 Prozent, wenn Poller die Wege trennen. Bei einer einfachen Trennungslinie waren es 78,8 Prozent. Bei einer einfachen Trennungslinie ist der Unterschied zwischen der Auto-Perspektive und der Fahrrad-Perspektive also besonders hoch, bei Blumenkübeln und Pollern hingegen recht gering.

Farbenfreude

Und was ist mit der grünen Farbschlacht auf Berlins Straßen, über die sich in den letzten Monaten so viele echauffierten? Tatsächlich hilft sie. Vor allem dann, wenn es keine Poller oder dergleichen gibt. Vergleicht man alle Bilder mit grünen Radwegen mit den Radwegen, die nicht grün sind, schneiden die grünen Radwege um durchschnittlich zehn Prozentpunkte besser ab. Wenn es nicht für Poller reicht, können grüne Radwege also zumindest eine Übergangslösung sein:

Parkplätze machen besonders viel Angst

Es gibt aber offenbar einen weiteren Grund, warum Poller und Co besonders beliebt sind. Jene Straßengestaltung macht es Autos unmöglich, rechts vom Radstreifen zu parken. Und diese Parkreihen am Straßenrand machen Angst. Zurecht, denn die resultierenden Verletzungen sind oft besonders fies. Wie sehr der „ruhende Verkehr“ zum Unsicherheitsgefühl auf dem Rad beiträgt, zeigt folgender Vergleich. Dabei wurden wieder alle Bilder zusammengerechnet, in denen die hervorgehobenen Merkmale vorkommen.

Auffällig ist, dass es das Sicherheitsgefühl kaum erhöht, wenn eine Linie davor warnt, dass sich jeden Moment eine Autotür öffnen könnte. Die sogenannten „Dooring Linien“ können den Radweg sogar gefühlt kleiner machen. Wurde den Teilnehmenden eine Straße mit schmalem Radweg und Warnlinie gezeigt, fanden sie das sogar unsicherer als ohne Dooring Linie. Andererseits: Vielleicht muss sich eine Warnung ja etwas unsicher anfühlen, wenn sie wirken soll.

Interessanterweise fanden auch Autofahrerinnen und Autofahrer den Straßenaufbau ohne Parkplätze rechts am sichersten – wenngleich hier die Unterschiede wesentlich geringer ausfielen.

Hauptsache breit genug

Einfach nur die Parkplätze zu streichen reicht allerdings auch nicht. Vergleicht man verschiedene mögliche Kombinationsmöglichkeiten, fällt auf, dass es besonders darauf ankommt, wie breit der Radweg ist, wenn rechts Autos parken. Ein schmaler Radweg ohne Poller und Parkstreifen fühlt sich für die meisten Befragten sogar unsicherer an, als ein breiter Radweg neben parkenden Autos.

Gibt es keine Parkspur rechts und gleichzeitig Poller oder andere bauliche Trennungen nach links, ergibt sich aber trotzdem eine Lösung, selbst wenn die Parkplätze nicht wegfallen sollen: Die Autos müssen links vom Radweg parken. Die parkenden Autos funktionieren dann als zusätzliche Barriere zum fließenden Verkehr. Auch enges Überholen durch Autos wird so unmöglich.

So eine Anordnung kann allerdings bei Kreuzungen und Ausfahrten gefährlich werden: Aus dem fahrenden Auto heraus sieht man die Fahrräder auf dem Radweg nämlich sehr schlecht hinter den Parkplätzen. Wird also nicht sehr viel Abstand zwischen dem letzten Parkplatz und der nächsten Kreuzung gelassen, steigt die Gefahr von Abbiegeunfällen.

Sollten die Fahrräder lieber auf den Bürgersteig?

Wenn es keine Trennung zwischen Fahrrad- und Autoverkehr gibt und die Radwege nicht sehr breit sind, fühlen sich Radwege auf der Fahrbahn also immer relativ unsicher an. Sollte man die Radwege dann lieber auf dem Bürgersteig anlegen?

Jein. In der Umfrage wurden auch verschiedene Kombinationen von Radwegen und Gehwegen auf dem Gehsteig zur Abstimmung gestellt. Wie schon auf der Straßenfahrbahn schneiden hier breitere Radwege wesentlich besser ab als schmale Radwege auf dem Bürgersteig. Zusätzlich macht es einen Unterschied, ob es eine Trennung zwischen Gehweg und Radweg gibt.

Während sich Radwege auf dem Fußweg also erst mal recht sicher anfühlen, kommt es für die Fußgänger und Fußgängerinnen stark darauf an, was sonst noch auf dem Bürgersteig los ist. Für sie macht es einen extremen Unterschied, ob zusätzlich Tische und Stühle den Weg versperren. Während über 86 Prozent von ihnen angaben, sich neben einem Radweg sicher zu fühlen, wenn keine gastronomische Nutzung auf dem Bild zu sehen waren, fühlten sich dort mit Gastronomie nur noch 49,8 Prozent der Befragten wohl.

Lösen lässt sich das durch eine klare Trennung zwischen Fuß- und Fahrradverkehr, zum Beispiel einem kleinen Grünstreifen oder einer leichten Erhöhung. Den vielbeschworenen Grundsatzkonflikt zwischen Fußgängern und Fahrrädern, den gibt es also gar nicht. Es sei denn, der Radstreifen ist zu schmal und die Geschäfte drängen auch noch auf den Bürgersteig.

Fahrradstraßen allein sind auch keine Lösung

Falschparker, Lieferverkehr, volle Geschäfte und Cafés. Die Berliner Hauptstraßen völlig zu befrieden ist eine Mammutaufgabe. Ist es da nicht einfacher, möglichst schnell weitere Nebenstraßen als Fahrradstraßen zu deklarieren?

Auch hier sind die Ergebnisse alles andere als eindeutig, wie dieser Vergleich zeigt:

Die Absicht allein reicht also nicht. Eine Straße einfach Fahrradstraße zu nennen und Schilder aufzuhängen, führt nicht dazu, dass man gerne mit dem Fahrrad dort lang fährt. Auch Spielstraßen fühlen sich für viele unsicher an. Sicherer fühlten sich die Befragten, wenn kein Autoverkehr gezeigt wurde. Besonders unsicher fühlten sich die Befragten, wenn es auch Gegenverkehr von Autos gibt. Auch aus dem Auto heraus sorgt das bei den Befragten für Unbehagen.

Das heißt allerdings nicht, dass man keine Fahrradstraßen bauen kann, die sich wirklich sicher anfühlen. Wie sowas geht, machen Straßenentwürfe aus anderen Ländern deutlich. Bekamen die Teilnehmenden eine solche „Holländische Fahrradstraße“ gezeigt, schossen die positiven Bewertungen nach oben:

Die Ergebnisse, die wir hier erstmals zeigen können, sind nur ein erster Schritt. Es gibt noch unendlich viele weitere Möglichkeiten, die Straßen zu gestalten – trotz tausender Möglichkeiten, die wir in der Umfrage bewerten ließen. Und jede Straße hat einen eigenen Charakter, der ganz unterschiedliche Lösungen möglich oder nötig macht. Wir haben uns deshalb erst einmal auf die eindeutigsten Ergebnisse beschränkt.

Das deutlichste Resultat ist zweifelsfrei: Es braucht klare eigene Wege für Fahrräder, wenn sich Menschen darauf sicher fühlen sollen. Dass sie das tun, ist die Voraussetzung, dass sich in Zukunft noch mehr Leute in Berlin aufs Fahrrad trauen. Und das wiederum ist ein wichtiger Schritt, damit die Stadt ihre Klimaziele erreichen kann.

Die Radwege der Zukunft müssen breit genug sein und sollten nicht mehr links entlang von Parkreihen verlaufen. Wenn man nicht riskieren will, dass stattdessen die Menschen auf den Gehwegen Angst bekommen, sollte man sie nicht mit Tischen vollpflastern, es sei denn, sie sind breit genug und klar vom Radweg getrennt. Fahrradstraßen sind nur eine Lösung, wenn Radfahrerinnen und Radfahrer ganz eindeutig das Gefühl haben, dass dieser Platz vorrangig ihnen gehört.

Den vielbeschworenen Konflikt zwischen Auto, Fahrrad und Fußverkehr hingegen, den gibt es nicht. Zumindest, wenn man vernünftige Straßen baut.

Das war nur eine erste Auswertung. Gerade in der Kombination verschiedener Gestaltungsdetails untereinander verstecken sich viele weitere Ideen für die Straßen von morgen. Eine noch ausführlichere Auswertung gibt es bei FixMyBerlin, dem Initiator des Projekts. Damit alle Lösungen gefunden werden können, stellt das Forschungsprojekt alle Daten aus dem Berliner Straßencheck ab sofort der Forschung zur Verfügung – als Offene Daten und selbstverständlich völlig anonymisiert. Dort finden Sie auch ausführliche Erläuterungen zur Methode hinter der Umfrage.

Finden Sie solche Projekte wichtig? Gerade umfangreiche Datenauswertungen und die Arbeit gemeinsam mit Forschungsprojekten sind aufwendig und brauchen viel Zeit. Denken Sie doch darüber nach, ob Sie die Arbeit des Tagesspiegels durch ein Tagesspiegel Plus Abo unterstützen möchten!

Team

Martin Baaske
Illustrationen
Jens Drößiger
Bildbearbeitung
Manuel Kostrzynski
Design
Hendrik Lehmann
Text & Koordination
David Meidinger
Datenanalyse & Webentwicklung
FixMyBerlin
Umfragekonzeption, Datenerhebung und -auswertung
Nora Binnig, Vincent Ahrend, Boris Hekele, Heiko Rintelen, Felix Sistenich, Stefan Freudenberg, Philipp Schiedel, Tümer Tosik, Webkid, David Wegner
Veröffentlicht am 6. Juli 2020.