In Barcelona demonstrieren Anfang Juli tausende Bewohner gegen die vielen Besucher in der Stadt, Venedig kassiert von Tagesgästen seit diesem Frühjahr fünf Euro Eintritt. Nach dem Ende der Pandemie steigen die Übernachtungszahlen ortsweise so stark, dass sie die Regionen vor Probleme stellt. „Overtourism“ nennt die Forschung das, übermäßiger Tourismus, der die Kapazitäten der Reiseziele übersteigt.
Im Vergleich zu 2022 wurden 2023 europaweit 20 Prozent mehr Übernachtungen in Ferienwohnungen und Kurzzeit-Apartments über Online-Plattformen gebucht, im Vergleich zu 2018 sogar 63 Prozent mehr. Einige Orte verzeichnen Zuwächse von 300-1500 Prozent. In anderen Städten hingegen, etwa in Berlin und Amsterdam, sinken die Buchungen. Das ergibt eine exklusive Datenanalyse von Tagesspiegel und weiteren europäischen Medien. In interaktiven Karten und Analysen zeigen wir die Ergebnisse für alle Regionen in Europa.
Die Daten geben ortsgenau Auskunft zu Ferienwohnungs-Buchungen über Airbnb, Booking, Tripadvisor und Expedia. Die Analyse liefert starke Indikatoren, wo es besonders viele Touristen hinzieht und wo immer mehr private Unterkünfte vermietet werden. Sie zeigt aber auch, wo offenbar Zweckentfremdungsverbote wirken.
Die Daten wurden von der europäischen Statistikbehörde Eurostat zusammengetragen, zusammengerechnet und überprüft. Insgesamt wurden über die vier Portale Airbnb, Booking, Tripadvisor und Expedia alleine im Jahr 2023 fast 719 Millionen Gästeübernachtungen in Ferien- und ähnlichen Apartments gebucht. Die Daten werden seit 2018 erhoben. Hotelübernachtungen werden in den Daten rausgerechnet. Laut Eurostat sind diese digital erhobenen Buchungsdaten aber gut geeignet, um generelle Trends im Tourismus zwischen Städten und Regionen in Europa zu vergleichen.
Bestimmte Regionen sind deutlich stärker besucht als zuvor. Südeuropa verzeichnete im Jahr 2023 den größten Zustrom von Touristen, die über Online-Plattformen gebuchte Kurzzeitunterkünfte nutzten. Die kroatische Adriaregion Jadranska Hrvatska hatte mit über 22.000 europaweit die meisten Übernachtungen pro 1.000 Einwohner – und das allein in den Sommermonaten Juni bis September.
Generell sind Europas Küsten- und Alpenregionen in den Sommermonaten am beliebtesten. Von den Top-20-Regionen befinden sich zwei in Frankreich, fünf in Spanien, fünf in Italien, zwei in Griechenland und jeweils eine in Kroatien und Portugal. Vergleicht man die Zahlen für die Sommermonate 2018 und 2023, zeigt sich, dass zum Beispiel die griechische Region Dytiki Makedonia, Molise in Italien oder Övre Norrland in Schweden sehr viel beliebter wurden.
Dasselbe gilt für den Nordosten Rumäniens und den Osten Polens. In Polen sei das auch mit Ukraine-Kriegsflüchtlingen zu erklären, sagt Marina Efthymiou, Expertin für Luftfahrt-Management und Professorin an der Dublin City University Business School. Der Trend im Nordosten Rumäniens lasse sich ebenfalls teilweise mit dem Krieg erklären: Der dortige Flughafen Iași hat den Betrieb des nahen moldawischen Flughafens in Chișinău übernommen. Moldawien schloss 2022 seinen Luftraum.
Die von der europäischen Statistikbehörde Eurostat gesammelten Daten sind experimentell. Eurostat-Experte Simon Bley weist darauf hin, dass die Veränderungen in den Daten drastischer erscheinen könnten als in der Realität. Es könne etwa sein, dass Menschen überwechseln von herkömmlichen Hotels zu Ferien-Apartments oder „von anderen Buchungswegen zu einer der vier großen Buchungsplattformen, die wir abdecken”. Nationale Statistiken zu Hotelbelegungen bestätigen die Tourismus-Zunahme jedoch, sagten die Experten bei Eurostat dem Urban Journalism Network, mit dem der Tagesspiegel die Daten gemeinsam ausgewertet hat.
Insofern sind die Daten eine interessante Grundlage, um allgemeine Urlaubs-Trends länderübergreifend zu vergleichen: Wie verändert sich der Tourismus in Europa? Welche Destinationen werden beliebter, welche verlieren Besucher?
Nur ein Land hat das Niveau vor der Pandemie nicht wieder erreicht: Island. 2,7 Millionen touristische Übernachtungen fanden dort 2018 statt. 2023 waren es nur noch 2,4 Millionen – ein Minus von elf Prozentpunkten. Anteilig besonders stark nachgefragt wurden Rumänien, Schweden und Polen. Hier haben sich die Buchungszahlen mehr als verdoppelt.
Auch Deutschland ist beliebt. Europaweit wurden hier mit 49 Millionen die viertmeisten Übernachtungen gezählt, was zu einem großen Teil an den mehr als 34 Millionen Inlandstouristen lag. Kein Wunder: Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land in der EU. Wo viele Menschen leben, machen zumeist auch viele Menschen Urlaub.
Angeführt wird die Rangliste von Frankreich: rund 160 Millionen Übernachtungen wurden hier 2023 gebucht, 98 Millionen davon von Inlandsreisenden. In den beiden anderen Ländern mit den meisten Besuchern 2023 – Italien und Spanien – buchten ausländische Besucher mehr Ferienwohnungs-Übernachtungen als inländische: Die klassischen Destinationen sind weiterhin beliebt.
2023 zog es die Touristen wieder in Städte. Die Übernachtungen dort stiegen – anders als in vielen ländlichen Regionen – nach der Pandemie zunächst nur zögerlich an. Im Vergleich zu 2018 aber verzeichnen nun fast alle der 311 Städte, die Eurostat erfasst, eine Zunahme bei den Übernachtungen in Ferienwohnungen.
Die Daten decken sich mit Stichproben aus anderen Quellen. So bestätigt beispielsweise das Schweizer Statistikbüro, das Daten von Hotels erhebt, den starken Anstieg des Tourismus in die Städte 2023. Insbesondere ausländische Touristen kämen mehr, vor allem aus Asien und den USA.
Einige Städte sind weniger nachgefragt – Berlin zum Beispiel. Hier gab es den Daten zufolge 2023 ganze 28 Prozent weniger Ferienwohnungs-Übernachtungen als 2018. Das widerstrebt dem bundesweiten Trend: 64 Prozent mehr dieser Übernachtungen buchten Menschen deutschlandweit.
Die Reisetrends lassen sich aber nicht nur durch die Beliebtheit der Reiseziele erklären. Oft gibt es andere Gründe, zum Beispiel neue Flughäfen. Charleroi in Belgien etwa ist ein aufstrebender Umschlagplatz für Billigflüge. In der Stadt wurden 2023 doppelt so viele Übernachtungen gebucht als 2018.
Auch das Buchungsverhalten hat sich verändert. „Der Kollaps von Reiseveranstaltern während Covid hat zu einer stärkeren Individualisierung des Reisens geführt”, sagt Efthymiou. „Das veranlasst Menschen, mehr über Plattformen zu buchen.”
Blickt man auf die langfristigeren Trends, haben nicht alle Städte ihr vorpandemisches Niveau erreicht. Das gilt zum Beispiel für Berlin. Hier gibt es immer noch 28 Prozent weniger Besucher als 2018. Berlin gehört damit zu den wenigen Verlierer-Hauptstädten. Nur in Amsterdam und Dublin waren die prozentualen Verluste größer.
So mögen die Berliner zwar ungebrochen genervt sein von Bierbikes und Junggesellen-Abschieden vor der Haustür: Von Overtourism kann hier – zumindest im europaweiten Vergleich – bisher nicht die Rede sein.
„Die Tourismusintensität ist in Berlin sehr moderat”, sagt auch Christian Taenzler, Pressesprecher der städtischen Tourismusabteilung „VisitBerlin”. Er sagt, 2023 sei der Tourismus in Berlin „stabil gewachsen”, 30 Millionen Übernachtungen habe man gezählt. Das Vor-Corona-Jahr 2019 sei mit 36 Millionen Übernachtungen das bisher erfolgreichste Jahr für den Berliner Tourismus gewesen. Insgesamt waren die Berliner Hotels laut VisitBerlin 2023 zu 71,3 Prozent ausgelastet. „Wir beobachten, dass sich die Tourismuszahlen langsam wieder dem Vorkrisenniveau von 2019 annähern”, sagt Taenzler.
Mit 30 Millionen Übernachtungen zählten die Berliner Behörden deutlich mehr Berliner Übernachtungen als die Eurostat-Statistik mit drei Millionen. Denn Letztere erfasst lediglich die genannten Buchungsportale, und von diesen Portalen nur Ferien- und ähnliche Apartments. Dort gebuchte Hotelübernachtungen kommen nicht in der Auswertung vor.
Und nicht alle Menschen buchen online und über diese Anbieter. Den allgemeinen Trend nach unten aber bestätigen auch Zahlen des Statistikamts Berlin-Brandenburg auf Basis der Meldungen der Hotelbetriebe. Demnach ist die Zahl der Gäste in Berlin im Vergleich zu 2018 um 10,5 Prozent gesunken.
In Paris buchten Menschen 2023 etwa sechsmal so viele Übernachtungen als in Berlin. Es ist die beliebteste Hauptstadt in Europa, gefolgt von Rom, Madrid und Lissabon. Abgesehen von diesen klassischen Tourismus-Hauptstädten sind Übernachtungszahlen in der zypriotischen Hauptstadt Nikosia, Bukarest, Luxemburg-Stadt und Athen am stärksten gestiegen.
Neben Berlin ist Amsterdam eine der Städte, die weniger beliebt waren. Seit 2018 sind die Buchungen um 56 Prozent gesunken, im Vergleich zu vergangenem Jahr sind sie um 12 gestiegen. Laut Daten des niederländischen Zentralbüros für Statistik ist der Anstieg von 2022 zu 2023 doppelt so hoch: 21 Prozent, ein Experte der Behörde bestätigt zudem, die Besuche in der Stadt seien wieder auf vorpandemischem Niveau.
Möglicherweise lassen sich Unterschiede wie diese mit neuen Gesetzen erklären. In Amsterdam etwa gib es seit 2019 eine Registrierungspflicht Ferienwohnungen-Anbietern vorschreibt. Ähnlich ist es seit 2021 in Berlin. Gegenüber „Dutch News” bestätigte Airbnb 20213, dass die Angebote zurückgegangen seien.
Es scheint also, dass manche Gesetze zur Eindämmung der Folgen von Tourismus für den lokalen Wohnungsmarkt Erfolg haben könnten.
Die Eurostat-Daten zeigen die Anzahl der Nächte inklusive der Zahl der Personen, für die eine Unterkunft gebucht wurde. Bleibt also eine vierköpfige Familie für zwei Übernachtungen an einem Ort, gilt das als acht Nächte. So treffen die Zahlen zu Übernachtungen tatsächlich auch eine grobe Aussage über die Zahl der Tourist:innen.
Außerdem sei bei dieser Art von Tourismus-Daten die Abdeckung besser, heißt es von Eurostat. In den statistischen Umfragen der klassischen Erfassung seien die Touristenzahlen oft unterschätzt worden. Denn nicht jeder kleine Anbieter wird in den Umfragen erfasst.
In diesen Daten sind nun auch private Vermietungen über Plattformen wie Airbnb und nicht offiziell registrierte Ferienwohnungen enthalten. Auch wenn bislang nur vier Plattformen enthalten seien und nicht alle Anbieter, könne man davon ausgehen, dass ein Großteil der Buchungen enthalten sei, heißt es von Eurostat.
Klarstellung: In einer früheren Version dieses Textes war die Definition der in den Daten enthaltenen Übernachtungen missverständlich. Die Eurostat-Statistik erfasst Übernachtungen in “Ferienunterkünften und anderen Kurzzeitunterkünften”. Übernachtungen in herkömmlichen Hotels, die auf den erfassten Plattformen (Airbnb, Booking, Expedia sowie Tripadvisor) gebucht werden, sind nicht in den Daten enthalten. Wir haben die entsprechenden Passagen klarer formuliert und bitten um Entschuldigung.