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100 Jahre Mangelverwaltung

Eine kurze Geschichte des studentischen Wohnens

In den 1920er Jahren herrschten in Deutschland ebenfalls Wohnungsnot und Inflation. Wohnheime sollten Studierende entlasten und Studieren für alle ermöglichen. Geklappt hat das bis heute nicht. Eine Spurensuche.
In den 1920er Jahren herrschten in Deutschland ebenfalls Wohnungsnot und Inflation. Wohnheime sollten Studierende entlasten und Studieren für alle ermöglichen. Geklappt hat das bis heute nicht. Eine Spurensuche.

Die Professoren und Studierenden, die im April 1922 in der Universität Hamburg zusammensitzen, haben sich nicht zur Vorlesung getroffen. Es geht um Geld. Die Studierenden leiden unter den hohen Kosten für Lebensmittel. Die Heizkosten sind für viele kaum bezahlbar. Die Inflation steigt weiter. Erschwinglicher Wohnraum fehlt. Weil sie vom Staat keine Unterstützung erwarten, gründen sie einen Verein, der günstigen Wohnraum vermitteln soll. So geschieht es im gleichen Jahr in Berlin und anderen Städten Deutschlands.

Heute sind diese Vereine, die Studierendenwerke, längst in die öffentliche Hand übergegangen. Und die Probleme der Studierenden vor 100 Jahren sind wieder da. Die Inflation ist hoch. Lebensmittelpreise und Heizkosten steigen. Zuletzt forderten die Studierendenwerke eine schnelle Bafög-Erhöhung, um die hohe Inflation auszugleichen.

Während es einigen europäischen Ländern gelingt, bezahlbaren Wohnraum für Studierende zu schaffen, scheint Deutschland im Verlauf der Geschichte immer wieder versagt zu haben. Die Gründe dafür liegen in der deutschen Nachkriegszeit, in neuen Wohnformen und ideologischen Konflikten. Und vielleicht auch darin, dass Studieren in Deutschland untrennbar mit dem Anspruch auf Freiheit verbunden ist. Eine Rekapitulation.

Wie Studierende in Deutschland seit 1953 wohnen
Die Grafik zeigt die üblichen Wohnformen unter Studierende im Laufe der Zeit – einmal in absoluten Zahlen und einmal in Anteilen zum Umschalten.
Absolut
Relativ

2016

2.807.010

Studierende

2015

Die Mehrzahl wohnt alleine oder mit Partner*in

2010

HÄUFIGSTE

WOHNFORM

2005

1.066.664

wohnen

alleine oder

mit Partner*in

Die meisten leben in gemieteten Zimmern oder bei den Eltern

erst Anfang der 70er kommt die WG als Wohnform auf

1990

1995

2000

1985

Um 2000 wohnen mehr Studierende in WGs als bei ihren Eltern

alleine oder

mit Partner*in

1980

1975

1970

1965

1960

1955

1953 gibt es 116.282 Studierende in der BRD

842.103

in WG

bei Eltern

in WG

in Wohnheim

561.402

bei Eltern

Wohnheime spielen keine große Rolle

SELSTENSTE

WOHNFORM

336.841

in Wohnheim

2016

2.807.010

Studierende

2015

Die Mehrzahl wohnt alleine oder mit Partner*in

2010

HÄUFIGSTE

WOHNFORM

2005

1.066.664

wohnen

alleine oder

mit Partner*in

Die meisten leben in gemieteten Zimmern oder bei den Eltern

erst Anfang der 70er kommt die WG als Wohnform auf

1990

1995

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1985

Um 2000 wohnen mehr Studierende in WGs als bei ihren Eltern

alleine oder

mit Partner*in

1980

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1953 gibt es 116.282 Studierende in der BRD

842.103

in WG

bei Eltern

in WG

in Wohnheim

561.402

bei Eltern

Wohnheime spielen keine große Rolle

SELSTENSTE

WOHNFORM

336.841

in Wohnheim

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1953 gibt es

116.282 Studierende

in der BRD

SELSTENSTE

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Die meisten leben in gemieteten Zimmern oder bei den Eltern

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erst Anfang der 70er kommt die WG als Wohnform auf

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Wohnheime spielen keine große Rolle

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Die Mehrzahl wohnt alleine oder mit Partner*in

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Um 2000 wohnen erstmals mehr Studierende in WGs als bei ihren Eltern

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1953 gibt es

116.282 Studierende

in der BRD

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Die meisten leben in gemieteten Zimmern oder bei den Eltern

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erst Anfang der 70er kommt die WG als Wohnform auf

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Wohnheime spielen keine große Rolle

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Die Mehrzahl wohnt alleine oder mit Partner*in

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Um 2000 wohnen erstmals mehr Studierende in WGs als bei ihren Eltern

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1953 gibt es

116.282 Studierende

in der BRD

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Die meisten leben in gemieteten Zimmern oder bei den Eltern

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erst Anfang der 70er kommt die WG als Wohnform auf

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Wohnheime spielen keine große Rolle

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Die Mehrzahl wohnt alleine oder mit Partner*in

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mit Partner*in

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Um 2000 wohnen erstmals mehr Studierende in WGs als bei ihren Eltern

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alleine oder

mit Partner*in

wohnen in privater Untermiete

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in Wohngemeinschaft

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in Wohnheim

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wohnen in privater Untermiete

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Die Sozialbefragung der Studierendenwerke findet seit 1953 alle drei Jahre statt. Bis 1990 sind nur Angaben aus westdeutschen Bundesländern und West-Berlin enthalten, ab 1990 beziehen sich die Angaben auf die ganze Bundesrepublik.
Daten: Sozialerhebungen der Deutschen Studierendenwerke

Die 1920er: Kontrolle durch die alte Dame

Vor 100 Jahren muss Deutschland Reparationszahlungen aus dem ersten Weltkrieg leisten. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Arbeit ist knapp. “Die Lage des ganzen intellektuellen Mittelstandes ist heute sehr gedrückt, kann morgen verzweifelt sein. So gewinnt die Forderung neue Bedeutung, dass der Zugang zu den Hochschulen nicht vom Vermögensstande des Vaters, sondern allein vom geistigen Vermögen des Studenten abhängen soll“, heißt es im Erlanger Programm, das 1921 auf dem Deutschen Studententag verabschiedet wird. In ihm sind die Ziele der neu gegründeten Studentenvereine festlegt.

Aber Wohnen ist teuer. Studieren – ohnehin Luxus für wenige – droht noch exklusiver zu werden. 125 Reichsmark brauchen Studierende im Monat, heißt es 1928 in einer Kostenschätzung des Berliner Studentenwerks. Davon gehen knapp ein Drittel, 40 Reichsmark, für das Wohnen drauf. Zum Vergleich: Das monatliche Brutto-Durchschnittseinkommen im Jahr 1928 betrug 165 Reichsmark.

Das zahlen Studierende fürs Wohnen
Die Grafik zeigt die Anteile der Wohnkosten, die Studierende in den jeweiligen Jahren aufbringen mussten.

100%

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Sonstige Lebenshaltungs-Kosten

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1973

Die restlichen Kosten pro Monat enthalten Ausgaben für Lebensmittel, Lernmittel sowie sonstige Ausgaben etwa für Kleidung.
Daten: Sozialerhebungen der Deutschen Studierendenwerke

Die Mehrheit wohnt in den 1920ern zur privaten Untermiete – meist bei älteren Frauen. Die haben nach dem Tod ihrer Männer oft große Wohnungen und nutzen die Mieten als zusätzliche Einnahmequelle. Diese achten auf Gasverbrauch und auf Damenbesuch, kochen vielleicht noch Essen. Wohnheime könnten den Studierenden mehr Freiheit ermöglichen – und jungen Menschen ohne reiches Elternhaus Zugang zur Universität bringen. Aber die Wohnheimplätze sind knapp. 1929 gibt es in Berlin nur zehn Wohnheime mit 640 Betten für die 12.000 Studierenden. Nur knapp zwei Prozent der Studierenden kommen aus der Arbeiterschicht. Fünf Prozent stammen aus dem Besitzbürgertum, also Industrielle und große Unternehmer, auch wenn diese nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung stellen. Kinder von Offizieren und Militärs sind zu 1,4 Prozent an den Hochschulen vertreten. Bei 5,7 Prozent der Studierenden ist der Vater ein Landwirt, bei knapp 22 Prozent ein höherer Beamter oder Akademiker. 57,4 Prozent kommen aus dem Mittelstand.

Der Nationalsozialismus verändert das Uni-Leben

Anfang der 1930er rückt die politische Gesinnung an den Hochschulen in den Fokus. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ziehen die Uniformierten der SA an den Universitäten ein. Statt zu Vorlesungen geht es zu Aufmärschen und paramilitärischen Übungen. Vom verstaatlichten Studentenwerk wird man nur gefördert, wenn man arisch ist.

Studenten in Uniform sitzen in der Vorlesung.Foto: picture alliance / ullstein bild

Günstiger Wohnraum für Studierende steht nicht auf der Agenda des Führers. Im Entwurf Albert Speers zu einer Hochschulstadt von 1937 werden Studentenwohnheime auf besonderen Wunsch Hitlers wieder aus den Entwürfen entfernt. Gerade Frauen stellt das vor ein großes Hindernis. Weiblicher Intellekt wird abgelehnt, ihre Arbeit soll ganz im Dienst der Familie stehen. Als Untermieterinnen sind sie so nicht gern gesehen. In Verbindungshäusern dürfen nur Männer wohnen. Erst mit Beginn des Krieges gibt es wieder mehr Frauen an den Universitäten.

Protest und Bildungsexpansion: Neue Wohnformen entstehen

Als der zweite Weltkrieg endet, ist Berlin zerbombt. Die Menschen rücken in den Wohnungen zusammen, teilen sich den wenigen Raum mit Geflüchteten. Da ist kaum Platz für studentische Untermieter – und wenig Platz für Freiheit. Viele Studierende in der neu gegründeten Bundesrepublik pendeln täglich aus den umliegenden Regionen zur Uni. 1953 ist jeder Fünfte ein solcher “Fahrtstudent”.

Zu Zeiten des Wirtschaftswunders plant die konservative Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) einen Vorläufer des heutigen Bafögs. Knapp 20 Prozent der Studierenden profitieren von bis zu 200 Mark im Monat. So hoch lagen 1956 in etwa die monatlichen Lebenskosten für Studierende. Davon entfiel etwa ein Viertel, 56 Mark, aufs Wohnen. Die Förderung kommt insbesondere Arbeiterkindern zugute. Meist leben sie in den wenigen Wohnheimzimmern. Aber gerade mal 7,8 Prozent aller Studierenden sind in einem solchem untergebracht.

Im Wedding eröffnet 1961 ein neuer, 14-geschossiges Wohnheim in der Sparrstraße.
Innen finden die Studierende die typische Einrichtung – Bett, Schreibtisch, Stuhl. Fotos: IMAGO/United Archives

In England sieht das anders aus. Dort sind es laut Bericht zum Sozialen Bild der Studierendenschaft 1953 25 Prozent. Geht es nach den Studentenwerken damals, sollen in Deutschland bald 30 Prozent der Studierenden in kostengünstigen Wohnheimen wohnen, so das Ziel im Düsseldorfer Plan von 1958. Die Bundesregierung sagt Mitfinanzierung zu und will damit das “soziale Problem” der studentischen Unterbringung lösen. Die Wohnheimplätze steigen – sowie die Anzahl der Studierenden.

Während in den USA das gemeinsame Wohnen auf dem Campus als Teil der Erziehung gesehen wird, ist solch ein konkretes Unterbringungskonzept in Deutschland nicht gewollt – weder von Studierenden noch von Universitäten. Letztere berufen sich auf Wilhelm von Humboldt, der Universitäten als Ort der Freiheit und Selbstentfaltung beschreibt.

Dass Wohnprojekte nach amerikanischem Vorbild in Deutschland nicht funktionieren, zeigt ein Versuch in West-Berlin. 1959 entsteht dort das Studentendorf Schlachtensee. Ein Tutorensystem und die Heimleitung sollen die Studierenden “zu Demokraten erziehen”. Für die wirkt das Zusammenleben aber wie Kontrolle und Überwachung.

Es ist die Zeit der Bildungsexpansion. Universitäten wie in Bielefeld und Bremen werden neu gegründet. Die Studierenden gehen mit der 68er-Bewegung auf die Straße. Sie demonstrieren gegen Bevormundung und verstaubte Strukturen für Selbstbestimmung. Aus den zur Untermiete bewohnten Zimmern ziehen sie aus. 1973 leben nur noch halb so viele zur Untermiete wie noch 1967.

Sie suchen sich anderen Wohnraum. Und finden sie gemeinsam mit Kommiliton*innen: Die Wohngemeinschaft entsteht. Und mit ihnen Gegenmodelle zur damaligen bürgerlichen Kleinfamilie. 1967 gründet sich aus der Studentenbewegung in West-Berlin die Kommune I, eine politisch motivierten Wohngemeinschaft, in der neun Männer und Frauen sowie ein Kind zusammenwohnen.

In den 1970er Jahren sind Hörsäle voll, vor allem bei selbst organisierten Veranstaltungen wie hier in Köln. Aus den Studentenprotesten entstehen neue Wohnformen wie die Kommune I als Gegenentwurf zur bürgerlichen Kleinfamilie. Fotos: picture alliance / dpa; picture alliance / MargretDwo/Timeline Images
In den 1970er Jahren sind Hörsäle voll, vor allem bei selbst organisierten Veranstaltungen wie hier in Köln. Foto: picture alliance / dpa
Aus den Studentenprotesten entstehen neue Wohnformen wie die Kommune I als Gegenentwurf zur bürgerlichen Kleinfamilie. Foto: picture alliance / MargretDwo/Timeline Images

Die Studierenden gehen noch weiter. Dort, wo Wohnraum ungenutzt ist, werden kreative Lösungen erprobt, etwa in Westberlin. Hier steht besonders viel Wohnraum leer. Am 8. Dezember 1971 ist das Audimax der Technischen Universität gefüllt mit jungen Menschen. Sie treffen sich zu einem Teach-In, einer selbst organisierten Informationsveranstaltung. Durch den Hörsaal klingen die Sounds der Punkrock-Band “Ton, Steine, Scherben”. Sie reden, beraten und machen sich auf Richtung Kreuzberg. Dort steht am Mariannenplatz seit einem Jahr ein ehemaliges Schwesternheim leer. Etwa 300 Menschen besetzen das Gebäude, halten gegen Polizeiwiderstand aus und erkämpfen das Recht zur Nutzung. 1982 meldet der Tagesspiegel 123 ganz oder teilweise besetzte Häuser in der Stadt. Große Freiheit, günstiger Wohnraum – geht es also auch ohne Wohnheime?

In den 1980er Jahren zieht sich die Bundesregierung aus deren Finanzierung zurück. Die Pläne der Bonner Republik von einer 30-Prozent-Unterbringungsquote sind endgültig gescheitert. Durchschnittlich 950 DM brauchten die Studierenden 1988 zum Leben. Davon geht wieder ein knappes Drittel für die Miete drauf. Sechs Jahre zuvor war die Miete um nahezu ein Viertel günstiger.

Anders läuft es auf der anderen Seite der Mauer. Hier darf nur studieren, wer die Ideologie teilt. Von Freiheit ist auch außerhalb der Universität wenig zu spüren. Der Arbeiter- und Bauernstaat setzte auf Wohnheime als primäre Unterbringungsform. 1983 leben 75 Prozent aller Studierenden in diesen, meist nahe am Campus gelegenen, Anlagen.

In der DDR wohnen die Studierenden zu zweit oder dritt in einem Zimmer.
Die Gebäude sind oft Plattenbauten. wie hier in Jena. Fotos: picture alliance / zb; picture alliance / Universität Jena

Das Zusammenleben findet in “Zehnergruppen“ statt. Die besteht aus zwei Zweibett- und zwei Dreibettzimmern mit Bad. Gemeinschaftsraum und Teeküche werden von mehreren Gruppen zusammen genutzt. Überbelegung ist Dauerzustand. Aus den Zweierzimmern werden Dreierzimmer, aus “Zehnergruppen” werden “Vierzehnergruppen”. Die Wiedervereinigung gliedert die sozialistischen Wohnheimbestände in die BRD ein. Prompt sinkt der Anteil an Studierenden, die in Wohnheimen untergebracht waren.

So verlieren auch im Osten Deutschlands die studentischen Wohnheime an Bedeutung. In Thüringen leben heute trotzdem noch 17 Prozent der Studierenden in Wohnheimen. Es ist die höchste Quote aller Bundesländer. In Berlin sind es nur 5 Prozent.

Wohnheimplätze

So haben sich Wohnheimplätze in Ost- und Westdeutschland in absoluten Zahlen entwickelt. Daten: Deutsche Studierendenwerke

Wohnheimquote

So hat sich die Unterbringungsquote in Studentenwohnheimen im Vergleich entwickelt. Daten: Deutsche Studierendenwerke

Wer heute studiert, lebt meist entweder alleine, oder mit dem oder der Partner*in gemeinsam in einer Wohnung. Hier ist die Miete mittlerweile teilweise günstiger als in WGs, wie eine Studie des Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln zeigt. Knapp ein Drittel wohnt in einer WG.

Egal ob Wohnheim, WG oder eine Wohnung alleine – für alle Studierenden ist Wohnen so teuer wie nie. Wohnraumknappkeit, Inflation und Energiekrise belasten zusätzlich. Knapp 40 Prozent der Lebenskosten gehen bei Studierenden 2022 für Miete und Nebenkosten drauf, wie die Website studis-online basierend auf den Daten der Studierendenwerke von 2016 berechnet hat. Nach anderen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes lag der Anteil der Wohnkosten bei Studierenden 2021 bei 31,6 Prozent, acht Prozent höher als bei der Gesamtbevölkerung im Durchschnitt. Bei Studierenden, die alleine oder in einer WG leben, betrug der Anteil sogar 50 Prozent.

Zudem steigt die Miete für WG-Zimmer, in Berlin in den vergangenen vier Jahren um 37 Prozent. Daten des IW Köln zu studentischem Wohnen zeigen, dass Preise für WG-Zimmer sogar schneller steigen als Wohnungen und Wohnheime. In einer typischen Unistadt wie Heidelberg müssen die Studierenden nach Berechnungen des IW Kölns mit Mieten von 572 Euro rechnen. Mit einem Bafög-Höchstsatz von 934 Euro würden rund 60 Prozent für die Miete drauf gehen.

Das Deutsche Studierendenwerk warnt, dass der Studienort nicht vom Geldbeutel abhängen dürfe. Zwei Milliarden Euro fordert es, um mehr bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen zu können. Fürchteten Studierenden vor 50 Jahren, dass Wohnheime sie in ihrer Freiheit beschränken könnten, so könnten heute die geförderten Wohnungen die einzige Möglichkeit für viele sein, frei in der Wahl ihres Studienortes zu bleiben.

Und noch ein Trend nimmt dieser Tage weiter Fahrt auf. Private Wohnheimbetreiber drängen in den Großstädten auf den Markt. Die Mieten sind hoch, bis zu 50 Euro pro Quadratmeter in Berlin. Die Eltern der meisten heutigen Studierenden sind noch immer nicht arm, die Mehrheit Akademiker. Immobilienexpert*innen zufolge zahlen diese gerne die hohen Wohnkosten für ihre Kinder, um die immer jünger werdenden Erstsemester im Gegenzug sicher und beschützt zu wissen. Von Bafög lassen sich diese monatlichen Mieten von knapp 800 Euro nicht bezahlen.

Mit den steigenden Wohnkosten steht die akademische Freiheit auf dem Spiel. Und mit ihr die Wahl des Studienortes. Nur zwei der 38 Städte, die das IW Köln untersucht hat, ließen sich von der Bafög-Wohnkostenpauschale von 360 Euro überhaupt bezahlen. Von freier Studienort-Wahl kann schon jetzt keine Rede mehr sein.

Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator (ECIJA) produziert. Wir sind ein Netzwerk europäischer Medien, das sich der Recherche gemeinsamer Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert. Das Tagesspiegel Innovation Lab leitet dabei die Datenrecherche und –visualisierung des Netzwerks. In unserer neuen Recherche widmen wir uns dem Thema Studentenwohnen. Dies ist der zweite Teil der europäischen Investigation. Zum ersten geht es hier. Weitere Teile folgen in den nächsten Wochen.

Das Team

Tamara Flemisch
Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Projektkoordination
Kilian Rüß
Text und Recherche
Lennart Tröbs
Datenvisualisierung und Gestaltung
Helena Wittlich
Text und Redigatur
Veröffentlicht am 11. Januar 2023.