Artikel teilen
teilen
Wohnungsmarkt Athen

Eine Stadt unter dem Auktionshammer

In der griechischen Hauptstadt steigen die Mieten, die Bevölkerungszahl schrumpft. Und internationale Inkasso-Firmen versteigern Tausende Wohnungen.
In der griechischen Hauptstadt steigen die Mieten, die Bevölkerungszahl schrumpft. Und internationale Inkasso-Firmen versteigern Tausende Wohnungen.

Der Mutter der europäischen Stadt laufen ihre Menschen davon. Wiege der westlichen politischen Kultur, zweitälteste Stadt Europas, Magnet für Menschen aus aller Welt über Jahrtausende – und Geburtsort der antiken Tragödie. „Tragödie“ ist wohl auch das treffende Wort dafür, was gerade in Athen auf dem Wohnungsmarkt passiert. Die Bevölkerungszahl schrumpft, tausende Wohnungen werden versteigert. Trotzdem steigen die Mieten. Wie geht sowas überhaupt?

Unterstützen Sie
unabhängigen Journalismus für Berlin.
Unser bester Journalismus
im günstigen Digitalabo.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Zur Anmeldung Zur Anmeldung

Was die Recherche betrifft, war Athen zunächst ein Fiasko. Bis zum heutigen Tag sind grundlegende Daten nicht auffindbar. Die größten Wohnungseigentümer: Unbekannt bei Stadt, Staat und Immobilienanalysten. Die Zahl großer Immobiliendeals: Unklar. Woher das Kapital kommt, das trotzdem weiterhin Häuser kauft: Weiß offiziell auch niemand.

Alleine 2010 bis 2015 sind mehr als 500.000 Menschen aus Athen weggezogen, in andere Länder oder zurück zu ihren Eltern aufs Land. Die Finanzkrise 2011 hat hier nie aufgehört. Im Vergleich zum Basisjahr 2010 ging das mittlere Einkommen in Athen um 40 Prozentpunkte zurück. Aber während die Miete im Rest von Griechenland in den letzten zehn Jahren stark gesunken ist, steigt sie in Athen.

In Athen steigen die Mieten – trotz Bevölkerungsschwung

Angebote für Mietwohnungen in Plaka, dem historischen Zentrum rings um die Akropolis sind von 2016 zu 2019 um 69 Prozent gestiegen, auf knapp 14 Euro pro Quadratmeter – kalt. In anderen Stadtteilen sind die prozentualen Anstiege noch weit höher. Das ergibt die Datenanalyse von Wohnungsanzeigen des Wohnungsportals E-Real Estates.

Warum trotz Massenarmut die Mieten explodieren, darauf liefern gigantische klassizistische Neubauten im Stadtzentrum einen Hinweis, allesamt Hotels. Tourismus ist inzwischen einer der letzten nennenswerten Einkommensquellen in Athen. Die einfachste Weise, daran zu partizipieren, ist Airbnb. Waren es im Mai 2009 laut eigener Datenauswertung noch wenige Dutzend Inserate, wuchs die Zahl auf mehr als 5000 im Jahr 2017. Bis kurz vor der Pandemie waren es mehr als 10.000.

Einige wenige besitzen meist gleich mehrere Wohnungen, um sie bei Airbnb zu vermieten. Normale Wohnungssuchende haben gegen diese Konkurrenz keine Chance. Staatliche Regulierung von Airbnb gibt es genauso wenig wie Mieterschutzgesetze.

Dazu kommen so genannte „Goldene Visa“. Wer in Griechenland eine Immobilie im Mindestwert von 250.000 Euro kauft, bekommt einen Europäischen Pass. So günstig wie nirgends sonst in der EU. Chinesische, russische und türkische Familien machen davon Gebrauch in Athen.

Athen ist traditionell eine Stadt der Wohnungseigentümer. Doch zwischen 2010 und 2016 stellten sich während der Finanzkrise bis zu 49 Prozent der Immobilienkredite als ungedeckt heraus. Das Ausmaß war so groß, dass es zum Stabilitätsproblem für die Banken wurde – und den europäischen Geldmarkt. Griechenland stimmte deshalb europäischen Abkommen zu, nicht-bediente Kredite abzustoßen.

Geschäftsmodell geplatzte Kredite

Das wiederum avanciert zur Geschäftschance für internationale Inkassounternehmen, die den griechischen Banken die Kredite in Massen abkauften. Zuletzt stieg im Januar 2021 das deutsche Unternehmen Silverton in den Markt ein, wie die Recherche zeigt.

Unterstützen Sie
unabhängigen Journalismus für Berlin.
Unser bester Journalismus
im günstigen Digitalabo.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Tagesspiegel Plus
4 Wochen gratis testen.
Zur Anmeldung Zur Anmeldung

Können die Wohnungseigentümer ihre Hypothek 90 Tage lang nicht weiter abbezahlen, wird die Immobilie nach kurzer richterlicher Prüfung zwangsversteigert. Bis vor einigen Jahren passierte das vor Ort in Auktionshäusern. Doch Aktivist:innen störten oftmals die Zwangsversteigerungen, das verzögerte einige der Verkäufe.

Da kam ein anderer Vorschlag von Banken, Europäischer Kommission und Jurist:innen: Wenn die Zwangsversteigerungen digitalisiert würden, könnte sie auch niemand mehr stören. Die Online-Plattform eauction.gr wurde ins Leben gerufen. Seit Mai 2017 wurden 86.996 Immobilien über die Plattform versteigert. Büros, Wohnungen, Krankenhäuser. Von September 2018 bis Januar 2021 waren 2287 davon Wohnimmobilien in Athen. Das mittlere Startgebot betrug 62.000 Euro.

Noch mehr Infos und alle weiteren Artikel aus der Recherche in Athen finden sich bei den griechischen Medienpartnern von Cities for Rent: AthensLive (auf Englisch) und Reporters United (Griechisch).

Cities for Rent
Über das Projekt

„Cities for Rent“ ist ein europäisches Rechercheprojekt. Alle arbeiten unabhängig voneinander, aber Rechercheergebnisse werden geteilt. Es besteht aus 16 Teams in 16 europäischen Hauptstädten und Metropolen in 16 Ländern (genaue Liste der Medien und Journalist:innen unten). Sieben Monate lang untersuchte der Rechercheverbund die lokalen Wohnungsmärkte, recherchierte Daten zu großen Wohnungsunternehmen, Preisentwicklungen, Investitionen und demografische Entwicklungen in den einzelnen Städten und verglich gemeinsame Strukturen.

Was hat der Tagesspiegel in dem Projekt gemacht?

Das Tagesspiegel Innovation Lab ist der Berliner Teil dieser Recherche und veröffentlicht die Rechercheergebnisse in Deutschland. Neben lokalen Recherchen in den Berliner Wohnungsmarkt hat das Team die Visualisierungen und ein gemeinsames Gestaltungskonzept für das Verbundprojekt entwickelt. Die interaktiven Vergleichsgrafiken können dabei von allen genutzt werden, übersetzt und eingeordnet in der jeweiligen Landessprache. Eine Übersicht aller Veröffentlichungen finden Sie auf der Projektseite bei Arena Journalism for Europe.

Beteiligte Partnermedien und Rechercheorganisationen

Wien: ORF, Brüssel: Apache, Prag: Deník Referendum, Kopenhagen: Information, Paris: WeReport, Mediapart, Athen: AthensLive, Reporters United, Dublin: Dublin Inquirer, Milan: IrpiMedia, Amsterdam: Follow the Money, Oslo: E24, Lissabon: Expresso, Bratislava: Aktuality, Madrid: El Diario, Zürich: Reflekt, Republik,

In den nächsten Tagen und Wochen werden wir weitere Egebnisse veröffentlichen. Einige Rechercheergebnisse aus anderen Städten werden wir zusammenfassen und auf Deutsch übersetzen.

Die Recherche wurde von „Stichting Arena for Journalism in Europe“ koordiniert, einer Stiftung für grenz­über­greifenden europäischen Journalismus unterstützt.
Die Entstehung dieser Recherche wurde durch ein Stipendium des Fonds Investigative Journalism for Europe (IJ4EU)
Der Kartendienst MapTiler unterstützt das Verbundprojekt als Mapping Partner.

Weitere relevante Recherchen, Veröffentlichungen und Studien, auf die aufgebaut wurde

Bereits 2018 startete der Tagesspiegel und das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv das Projekt Wem gehört Berlin Gemeinsam mit allen Berlinerinnen und Berlinern wollte das Team herausfinden, wem die Häuser dieser Stadt gehören, um mehr Transparenz auf dem Berliner Immobilienmarkt zu schaffen. So entstand etwa eine Geschichte über eine britische Milliardärsfamilie, die zu den geheimem Großeigentümern dieser Stadt gehört. Außerdem haben wir uns auf die Suche begeben, wer letztendlich vom Berliner Mietmarkt profitiert. In dem europäischen Projekt konnten wir auf die Erkenntnisse aus dieser Recherche aufbauen. Das Projekt Wem gehört...? in Deutschland wurde vielfach fortgesetzt. Mittlerweile gibt es das Projekt in zahlreichen deutschen Städten.

Es gab weitere relevante Recherchen in den Berliner Wohnungsmarkt, auf die wir aufbauen konnten. So hat das Projekt Wem gehört die Stadt? unter der Leitung von Steuerexperte Christoph Trautvetter hat seither mit verschiedenen Studien neue Erkenntnisse zum Berliner Mietmarkt veröffentlicht. Der Experte hat das Projekt mit wertvollen Erkenntnis unterstützt.

Das Berliner Rechercheprojekt Mietenwatch veröffentlichte ebenfalls Analysen, auf die wir aufbauen konnten.

Das Immobilienanalyseunternehmen Real Capital Analytics erstellte für die europäische Recherche eine Auswertung von Investitionen in den beteiligten Städten, die es uns kostenfrei zur Verfügung stellte.

Wir bedanken uns außerdem bei Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, die zahlreiche relevante Datensätze zum europäischen Wohnungsmarkt veröffentlicht haben und auf zahlreiche Rückfragen zu Datenquellen antworteten.

Wie geht es weiter mit der Recherche?

Es folgen noch weitere Veröffentlichungen – im Tagesspiegel – und in den europäischen Partnermedien des Projekts. Außerdem werden alle veröffentlichbaren Datensätze aus dieser Recherche mittelfristig auf einer Zentralen Seite von Arena Journalism veröffentlicht, um künftige Recherchen zum Wohnungsmarkt in Europa zu vereinfachen.

Über die Autorinnen und Autoren

Hendrik Lehmann
Text
Sotiris Sideris
Recherche
Veröffentlicht am 28. April 2021.