Artikel teilen
teilen
Die Berliner Klassenfrage

Hier fehlen am meisten Lehrkräfte – Schule für Schule

Drei Viertel aller öffentlichen Schulen in Berlin hatten im Schuljahr 2022/23 zu wenig Lehrkräfte. Wo der Lehrkräftemangel am größten ist – Schule für Schule.
Drei Viertel aller öffentlichen Schulen in Berlin hatten im Schuljahr 2022/23 zu wenig Lehrkräfte. Wo der Lehrkräftemangel am größten ist – Schule für Schule.
Schulen filtern
Alle
Grund­schulen
integ. Sekundarschulen
Gym­nas­ien
Gemeinschaftsschulen
Luft-bilder
Luftbilder

Zum Schulbeginn bleiben 1460 Plätze leer. So viele Vollzeitstellen für Lehrkräfte sind im laufenden Schuljahr unbesetzt. Berlins Kinder und Jugendliche leiden unter einem akuten Mangel an Lehrer:innen, die Lernergebnisse brechen ein.

Doch nicht alle Schulen und Stadtteile sind gleichermaßen betroffen: während im vergangenen Schuljahr in manchen Bezirken nur ein oder zwei von allen öffentlichen Schulen ausreichend Lehrkräfte hatte, gab es in anderen Bezirken eine Überversorgung an einzelnen Schulen. Und eine bestimmte Schulart war fast gar nicht vom Lehrkräftemangel betroffen.

Gemessen wird der Lehrkräftemangel durch die sogenannte Unterrichtsversorgung. Sie berechnet sich aus allen Lehrstunden, die pro Schule mit vorhandenem Personal unterrichtet werden können – geteilt durch die Anzahl der benötigten Stunden, um alle Klassen ausreichend zu unterrichten.

Eine berlinweite Versorgung von 100 Prozent wurde das letzte Mal vor fast zehn Jahren erreicht. Seitdem geht es bergab, vor allem seit 2018 hat sich der Abwärtstrend stark beschleunigt. Im Schuljahr 2022/23 wurde mit 96,3 Prozent der vorläufige Tiefpunkt erreicht.

Die Unterrichtsversorgung bricht ein
Die Grafik zeigt den Anteil der nötigen Schulstunden, die tatsächlich durch das vorhandene Personal geleistet werden können.
Daten: Schulportraits & Schulregister der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Tagesspiegel-Berechnung

Die Bildungskluft zwischen den Stadtteilen

96 Prozent? Klingt erst einmal solide. Die Zahl verschleiert jedoch, wie unterschiedlich Schulen vom Lehrkräftemangel betroffen sind. Das ist zentral, das Ziel ist nämlich nicht ein guter Durchschnitt. Es soll „für jede Einzelschule eine Ausstattung von 100 Prozent” erreicht werden. Unsere Analyse zeigt: Die Zielvorgabe des Senats wird systematisch verfehlt.

Für das Schuljahr 2022/23 haben wir dafür Daten aus dem Berliner Schulverzeichnis für jede Schule einzeln ausgewertet. Die Pressestelle der Bildungsverwaltung weigerte sich trotz mehrfacher Erinnerung, die Statistiken als maschinenlesbaren Datensatz zur Verfügung zu stellen. Man verwies darauf, dass die Daten ja als Schulporträt für jede einzelne Schule online abrufbar sind. Die Krux: So verhindert man, dass Journalist:innen und Elternschaft ausrechnen können, wo es wie schlimm ist, ob es regionale Muster gibt und welche Gruppen die Bildungskrise besonders trifft.

Also hat der Tagesspiegel die Daten aller öffentlichen Grundschulen, Gemeinschaftsschulen, Integrierten Sekundarschulen und Gymnasien aus dem Schulverzeichnis aggregiert, für die das möglich war. Insgesamt werden auf diesen Schulen 339.738 Kinder unterrichtet.

So lässt sich erstmals eine Karte der Schulkrise zeigen. Und es lässt sich berechnen, wie der Lehrkräftemangel verteilt ist. Die erste Erkenntnis: Es klafft ein Riss zwischen den Bezirken.

Der Bezirksvergleich
Die Grafik zeigt alle Schulen in Berlin, sortiert nach Bezirken. Die Ziellinie sind 100 Prozent Unterrichtsversorgung. Je mehr Punkte links der Linie liegen, desto mehr Schulen mit Unterversorgung pro Bezirk.
Daten: Schulportraits & Schulregister der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Tagesspiegel-Berechnung

Wer im falschen Berliner Bezirk zur Schule muss, hat schlechtere Chancen auf eine vernünftige Ausbildung. Am schlimmsten ist der Mangel an Lehrkräften in Marzahn-Hellersdorf. Dort hat nur eine einzige von 44 öffentlichen Schulen genug Lehrer:innen. In Treptow-Köpenick sind es zwei von 42 Schulen. Und in Lichtenberg gibt es Grundschulen mit einer Unterrichtsversorgung von unter 70 Prozent.

Die Schule mit dem stärksten Lehrkräftemangel Berlins

An der Johann-Julius-Hecker-Schule in Marzahn-Hellersdorf mussten sich vergangenes Schuljahr 43 Lehrkräfte um 520 Schüler:innen kümmern. So konnten rechnerisch nicht einmal drei Viertel des Stundenbedarfs bedient werden.

Die Zahl der Schüler:innen steigt
Daten: Senatsverwaltung für Bildung, eigene Berechnung
Die Zahl der Lehrkräfte steigt nicht im gleichen Maß
Daten: Senatsverwaltung für Bildung, eigene Berechnung
Das Resultat: Die Unterrichtsversorgung bricht immer weiter ein
Die Grafik zeigt den Anteil der nötigen Schulstunden, die durch das vorhandene Personal geleistet werden können.
Daten: Schulportraits & Schulregister der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Tagesspiegel-Berechnung

Als 2017 die Schülerschaft rapide zunahm, konnten lange keine neuen Lehrkräfte gefunden werden. 2019, zeitgleich mit dem Berliner Abwärtstrend, rutschte die Unterrichtsversorgung immer weiter ab. Als laut Daten zum vergangenen Schuljahr drei weitere Lehrkräfte eingestellt wurden konnte das den abermaligen Zuwachs an Schüler:innen nicht ausgleichen. Die Unterrichtsversorgung sinkt auf unter 75 Prozent.

Die Johann-Julius-Hecker-Schule in Marzahn-Hellersdorf äußerte sich auf Anfrage nicht dazu, wie es dort mit einer Unterrichtsversorgung von 75 Prozent weitergehen soll.

Dabei wäre gerade hier eine gute Schulversorgung wichtig: Im Ortsteil leben besonders viele Kinder, die von Armut betroffen sind. Dieser Trend zeigt sich an den meisten Schulen des vergleichsweisen armen Nordens von Marzahn-Hellersdorf.

Das Ergebnis von einer Lehrkräfteversorgung von unter 100 Prozent: Zuerst werden Leistungen wie Sprachförderung oder sonderpädagogische Betreuung gestrichen. Hierfür haben Brennpunktschulen am meisten zusätzlich eingeplante Stellen. Auch die Anwesenheit eines zweiten Pädagogen in Klassen mit großen Problemen entfällt dann. Und fallen Lehrkräfte aus, sei es durch Grippe oder eigene kranke Kinder zuhause, gibt es kaum noch Vertretungsreserven. Dann muss Unterricht ersatzlos gestrichen werden.

Auf der anderen Seite: Überfluss?

Neben Schulen mit zu wenig Lehrkräften gibt es Schulen mit einer Unterrichtsversorgung von über 100 Prozent, also mit mehr Lehrkräften als vorgesehen. Diese Schulen finden sich vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg, Reinickendorf, Steglitz-Zehlendorf. Selbst das Steglitzer Schlusslicht hat eine Unterrichtsversorgung von nur knapp 90 Prozent. Das ist so hoch wie der Durchschnitt aller Schulen in Marzahn-Hellersdorf.

Wie kann so was sein? Rita Nikolai von der Uni Augsburg forscht seit Jahren zu Bildungspolitik – und hat an der Humboldt-Universität Lehrkräfte ausgebildet. „Ausgebildete Lehrer:innen können sich entweder zentral bei der Senatsverwaltung bewerben – oder direkt bei einer Schule ihrer Wahl”. Bezirke mit einem hohen Anteil an Brennpunktschulen seien weniger gefragt.

„Die Schuld dafür kann man nicht einzelnen Lehrkräften geben”, meint die Bildungsforscherin. Es sei auf individueller Ebene nachvollziehbar, wenn sich Lehrkräfte eher an gut ausgestatteten Schulen bewerben. Dazu kommt, dass diese Schulen sich häufiger in weniger beliebten Stadtteilen befinden.

Aber selbst wenn eine Schule 100 Prozent der ihnen zustehenden Lehrkräfte einstellen kann, ist sie damit noch keineswegs komfortabel ausgestattet. „Diese 100 Prozent sind schon eine Mangelgröße“, so Markus Hanisch von der Gewerkschaft GEW. Da sind keine unerwarteten Ausfälle eingerechnet, keine Grippesaison in der Lehrerschaft.

Die Abwärtsspirale

Die Situation in Berlin war nicht immer so katastrophal. Noch vor knapp zehn Jahren gab es berlinweit eine Unterrichtsversorgung von über 100 Prozent. Seither gab es sogar einen stärkeren Zuwachs an Lehrkräften als an Schüler:innen. Aber: Immer mehr Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit. Während die Zahl der Vollzeitbeschäftigten seit dem Schuljahr 2016/17 rückläufig ist, hat sich die Zahl der Teilzeitbeschäftigten verdoppelt. Die Folge: Mehr Lehrkräfte, weniger Unterricht.

Die Zahl der Lehrkräfte in Berlin steigt stärker als die der Schüler:innen ...
Daten: Senatsverwaltung für Bildung, eigene Berechnung
... aber immer mehr arbeiten in Teilzeit oder als Aushilfen
Daten: Senatsverwaltung für Bildung, eigene Berechnung

Für Markus Hanisch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hängt beides zusammen: Je schlechter die Personalsituation, desto mehr Lehrkräfte arbeiten am Limit. Viele Lehrkräfte würden dann lieber auf einen Teil ihres Gehalts verzichten und weniger unterrichten. „Dafür verbringen viele dann mehr Zeit in der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts oder mit dem Kontakt zu den Eltern”, sagt Hanisch.

Die Klassenfrage

Die Lernbedingungen zwischen Gemeinschaftsschule und Gymnasium unterscheiden sich deutlich. An den Gemeinschafts- und integrierten Sekundarschulen lag die Unterrichtsversorgung im Mittel bei knapp 95 Prozent – unterhalb des Berliner Schnitts. In Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg finden sich die meisten Integrierten Sekundarschulen. Eine Unterrichtsversorgung von 100 Prozent erreichte dort keine einzige.

Bei den Gymnasien hingegen lag die durchschnittliche Lehrversorgung bei knapp 98 Prozent, nur zwei Schulen haben eine Lehrversorgung von unter 90 Prozent. Die Gymnasien befinden sich vor allem im Berliner Westen. Ein Viertel der Berliner Gymnasien steht in Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf. Fast 60 Prozent der Gymnasien dort haben eine Lehrversorgung von über 100 Prozent.

So dreht sich die soziale Abwärtsspirale weiter. Denn der Anteil von Kindern aus Haushalten, die Sozialleistungen erhalten, liegt auf Berliner Gymnasien bei knapp 14 Prozent – an Integrierten Sekundarschulen bei 36 Prozent.

Marcel Helbig und Rita Nikolai haben das 2019 noch ausführlicher analysiert. Das Ergebnis: Je höher der Anteil von Kindern aus einkommensschwachen Haushalten, desto schlechter die Qualität der Schule: Weniger Lehrkräfte, mehr Unterrichtsausfall und mehr Vertretungsstunden. „Auffangen muss das dann das Elternhaus, die Lernzeit verlagert sich ins Private”, sagt Hanisch. Wohlhabende Familien können das eher, ärmere selten. So trifft der Lehrmangel diejenigen am härtesten, die Förderung am dringendsten bräuchten.

Der Effekt: in keinem Bundesland ist die soziale Mobilität durch Bildung so schlecht wie in Berlin: 22 Prozent des Schulerfolgs von Grundschüler:innen können durch die soziale Herkunft erklärt werden, heißt es im IQB-Bildungstrend, einer Publikation einer unabhängigen wissenschaftlichen Einrichtung der Länder.

Auch Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationsgeschichte sind nirgends so stark von Bildungsungleichheit betroffen wie in Berlin und Brandenburg. Und das, obwohl in keinem anderen Bundesland so viel Geld pro Schüler:in ausgegeben wird wie in Berlin: 14.200 Euro pro Schüler:in im Schuljahr 2022/23. Im deutschen Durchschnitt liegt der Wert bei 9900 Euro.

Anreiz und Anweisung

Um die Kluft zu schließen, kündigte die seit 1996 SPD-geführte Senatsverwaltung 2022 an, dass Schulen sich ihre Lehrer:innen nur noch bis zu einer Unterrichtsversorgung von 96,3 Prozent, also dem Berliner Durchschnitt, aussuchen können. Danach hatten die anderen Schulen Vorrang. Alle großen Schulleitungsverbände lehnten das ab. Die Befürchtung: Lehrkräfte würden auf den Wechsel nach Berlin lieber verzichten, als in die Mangelbezirke oder gar nach Marzahn-Hellersdorf gezwungen zu werden. Erste Bewerber hätten bereits Rückzieher gemacht.

Mit der Wiederholungswahl wechselte das Bildungsressort in CDU-Hand. Die neue Senatorin Katharina Günther-Wünsch schaffte wegen der Einwände der Verbände die zentrale Zuweisung in ihrem ersten Brief an die Berliner Schulleitungen ab. Eine zentral gesteuerte Zuweisung von Lehrkräften werde es mit ihr nicht geben. Stattdessen solle “mit Anreizsystemen gearbeitet und bereits in der Lehrerausbildung gesteuert werden”.

Will man die Abwärtsspirale aufhalten, braucht es beides, sagt Nikolai. Sie schlägt vor, die Gehaltsprämie für Schulen in herausfordernder Lage von derzeit 300€ drastisch zu erhöhen: „So kommen Lehrkräfte an die Schulen, die sie brauchen – und werden für ihre Mehrarbeit auch entlohnt”. Aber ohne Eingriff durch die Senatsverwaltung, ohne zentrale Steuerung würden manche Schulen und Bezirke komplett abgehängt. Und damit auch immer mehr Kinder.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version des Artikels wurde von „Unterrichtsmangel und -ausfall” gesprochen. Die Daten beschreiben jedoch einen Mangel an Lehrkräften, also an unbesetzten Stellen. Dieser Mangel kann zwar zu einem Ausfall an Unterricht führen, muss er aber nicht. Wir haben das deshalb korrigiert.

Über die Daten

In der Analyse berücksichtigt wurde die Lage an 588 allgemeinen, öffentlichen Schulen, welche im Schuljahr 2022/23 insgesamt 339.738 Kinder unterrichtet haben: 372 Grundschulen (174.582 Schüler:innen), 91 Gymnasien (74.549 Schüler:innen), 101 Integrierte Sekundarschulen und 24 Gemeinschaftsschulen (insgesamt 90.607 Schüler:innen). Grundlage bilden die Stammdaten der Berliner Schulen, die von der Senatsverwaltung zur Verfügung gestellt werden. Die Daten zur Unterrichtsversorgung wurden durch Web-Scraping des Schulverzeichnisses gewonnen.

Das Verzeichnis kann in Einzelfällen nicht ganz aktuell sein. Das kann unter Umständen zu einer Verzerrungen der Ergebnisse führen. Ein Beispiel: Eine Schule war zum Stichtag noch gar nicht eröffnet, wie die 50. Schule in Berlin-Buch. Dennoch wurden Daten zu Personal und Schülerschaft angegeben. Oder zwei Schulen fusionieren, wie in Spandau der Fall war. Und für vier Schulen stellt die Senatsverwaltung online überhaupt keine Daten zur Verfügung. Nach Tsp-Recherchen bezeichnen einige Schulen die Angaben der Senatsverwaltung als falsch.

Insgesamt zählt die Senatsverwaltung zum Stichtag 1.11.2022 913 Schulen. 211 davon sind Schulen in freier Trägerschaft, 688 sind öffentliche Schulen. Von diesen 688 sind wiederum 645 allgemeine Schulen und 43 berufliche Schulen. Ausgenommen von der Analyse sind ebenfalls die 53 Berliner Förderschulen. An diesen werden nur gut zwei Prozent der Berliner Schülerschaft unterrichtet. Hier funktioniert der Betreuungsschlüssel außerdem sehr anders als an anderen Schulen.

Wir analysieren die Lage anhand der Organisationseinheit, also der Schulnummer. Die Daten zur Unterrichtsversorgung wurden durch Web Scraping des Schulverzeichnisses und eigene Berechnung gewonnen, da sich die Senatsverwaltung weigerte, die Daten in maschinenlesbarer Form zur Verfügung zu stellen.

Haben Sie einen Fehler gefunden? Sie erreichen uns unter digital@tagesspiegel.de.

Das Team

Tamara Flemisch
Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Redigatur & Produktion
Moritz Valentino Donatello Matzner
Text & Datenanalyse
Lennart Tröbs
Design
Veröffentlicht am 25. August 2023.
Zuletzt aktualisiert am 15. September 2023.