Kennen Sie Kerstin Kassner? Sie sitzt nicht nur für Die Linke im Bundestag, sondern ist außerdem ein Social-Media-Star. Zumindest gemessen an ihren Kolleg:innen. Auf Instagram folgen ihr knapp 400.000 Menschen – so viele wie sonst keinem Kandidierenden für den neuen Bundestag. Zum Vergleich: Annalena Baerbock, die erfolgreichste Spitzenkandidatin auf Instagram, hat rund 290.000 Follower:innen. Während Kassner sich im Bundestag schwerpunktmäßig mit Tourismus und Kommunalpolitik beschäftigt und selten Schlagzeilen macht, werden auf ihrem Instagram-Account Feminismus, Rassismus und queere Themen diskutiert – Themen, die auf Social Media relevant sind.
Kassners Account zeigt, wie Politiker:innen Social Media nutzen können. Wer online, etwa auf Instagram, klug Themen setzt, könnte vor allem bei jungen Wähler:innen punkten. Kein Wunder also, dass kurz vor dem Wahltag der Wahlkampf auch auf Social Media tobt. Aber wer kämpft auf welchen Plattformen – und mit welchen Themen?
Um Debatten und Machtverhältnisse auf Social Media genau zu beobachten, hat das Tagesspiegel Innovation Lab gemeinsam mit der NGO Democracy Reporting International ein System entwickelt, das die aktuellen Entwicklungen rund um die Kandidierenden auf Facebook, Instagram und Twitter live sichtbar macht. Das Social-Media-Dashboard verfolgt die Social-Media-Accounts aller 6211 Kandidaten und Kandidatinnen sowie der Parteien und ihrer Jugendorganisationen und wertet sie automatisiert aus. So können wir in einem bisher nicht möglichen Detailgrad verfolgen, welche Parteien dort wie Wahlkampf führen.
Die meisten Follower:innen auf den drei Plattformen haben nicht die Spitzenkandidat:innen der großen Parteien. Auf Facebook hat es sogar ein Kandidat der Kategorie „Sonstige Parteien“ nach oben geschafft, nämlich Jürgen Todenhöfer. Der Ex-CDUler ist jetzt Vorsitzender der von ihm gegründeten Partei „Team Todenhöfer“. Ihm folgen knapp 700.000 Menschen.
Nicht alle Politiker:innen haben erkannt, wie viel Aufmerksamkeit Social-Media-Profile bringen. Von den 6211 Personen, die sich in diesem Jahr um den Bundestag bewerben, haben nur 38,5 Prozent überhaupt professionelle Accounts auf den großen Plattformen. Nicht alle davon sind auch wirklich aktiv und posten eigene Inhalte. Zwischen Männern und Frauen gibt es dabei keine großen Unterschiede.
Das Dashboard analysiert nur Posts, Likes und Tweets von Accounts, die sich direkt und ohne Zweifel Kandidierenden zuordnen lassen. Sie müssen als Wahlkampfprofil identifizierbar sein – entweder durch einen blauen „Verifiziert”-Haken oder aus den Inhalten und Verlinkungen heraus. Das wurde händisch von der Redaktion geprüft.
Schaut man genauer, wer seine politischen Ideen wo teilt, bestätigt sich, was Umfragen über das Alter der Nutzer:innen der Plattformen herausgefunden haben. Jüngere Kandidat:innen bis 30 Jahre sind auf Instagram häufiger vertreten als andere Altersgruppen. Kandidat:innen zwischen 31 und 50 zieht es eher zu Facebook. Von den über 66-Jährigen sind nur noch sehr wenige mit einem Account präsent. Das heißt aber nicht, dass sie dort nicht erfolgreich wären
Nicht jede Partei ist gleichermaßen auf Social Media aktiv, das zeigt sich auch bei den Kandidat:innen. Die reine Zahl der Accounts spiegelt nicht unbedingt die Wahrnehmung oder Reichweite wider. Scheint die SPD im digitalen Wahlkampf nicht als auffällig präsent wahrgenommen zu werden, ist sie dennoch die Partei mit den meisten Accounts – vor allem auf Facebook. Rund drei Viertel der Kandidat:innen haben dort einen Account.
Darüber, welche Partei wie aktiv ist und ihre Ideen besonders verbreitet, sagt die reine Zahl der Social-Media-Account noch nichts. Nur weil der Account existiert, heißt das nicht, dass dieser auch aktiv betrieben wird. Denn die Kandidierenden posten sehr unterschiedlich viel. Und je mehr diese Posts geteilt und geliked werden, desto mehr Menschen erreichen die darin enthaltenen Botschaften. In der Anzahl der Posts auf allen Plattformen gesamt liegt die SPD aktuell hinter den Grünen. Auf Facebook posten die Sozialdemokraten aber am meisten.
Aufmerksamkeit durch Likes, Shares und Kommentare bekommt vor allem die AfD: Auch wenn bei der AfD nur die Hälfte der Kandidat:innen eine Facebook-Account haben, werden die Beiträge der Rechten doch mit Abstand am meisten geteilt, geliked oder kommentiert. Die Pressestelle der Partei bezeichnete Facebook bereits zu Beginn des Wahlkampfes als ihre wichtigste Plattform.
Unabhängig von Likes, Tweets und Kommentaren geben die Social-Media-Profile der Parteien auch Anekdoten her. Zum Beispiel lässt sich sehen, welche Emojis sie am liebsten nutzen. So posten die Bundestagsabgeordneten der Grünen gerne Sonnenblumen-Symbole – logisch bei dem Logo –, während bei FDP-Abgeordneten die Rakete hoch im Kurs ist.
Unsere Analysen zeigen also, wer was wo postet. Bleibt noch die Frage wann? Berechnet man die durchschnittliche Uhrzeit der ersten Tweets der Abgeordneten des aktuellen Bundestags nach Uhrzeiten, lässt sich eine Vermutung aufstellen, in welchen Kreisen es einige Frühaufsteher gibt: CDU- und CSU-Abgeordnete des Bundestages sind im Durchschnitt die ersten auf Twitter. Sie fangen gegen neun Uhr an zu posten. FDPler sind später dran – immerhin 20 Minuten nach den die Unionskolleg:innen. Und auch von Bundesland zu Bundesland zeigen sich Unterschiede: Abgeordnete aus Hessen sind im Schnitt 40 Minuten früher auf Twitter aktiv als jene aus Bremen. Sie twittern im Schnitt erst gegen 9.33 Uhr.
Natürlich gibt diese Auswertung aller Tweets der Bundestagsabgeordneten seit 2021 nur einen mittelbaren Einblick in ihre Routinen. Nicht alle haben einen Account. Und selbst die, die einen haben, twittern sehr unregelmäßig. Wer sich mit Social Media auskennt, kann Posts auch eintimen. So ist der CDU-Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten zwar an Platz eins der Frühaufsteher – seine ersten Tweets zwischen zwei Uhr und mittags, zwölf Uhr, setzte er im Schnitt gegen sechs Uhr morgens ab –, twittere seit Beginn von 2021 aber insgesamt nur viermal. SPD-Kollege Andreas Schwarz hingegen könnte wirklich Frühaufsteher sein. Er twitterte im gleichen Zeitraum über 900-mal – und das im Schnitt gegen sieben Uhr morgens.
Social-Media-Langschläfer ist demnach Linken-Abgeordneter Mathias Birkwald. Seine ersten Tweets fanden im Schnitt gegen 10:35 Uhr statt. Beide treten in diesem Jahr wieder zur Wahl an. Am 26. September wird sich zeigen, ob der frühe Vogel die Wahl gewinnt.