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Ein Jahr Berlin-Wahl

Setzt R2G die Forderungen ihrer Wähler um?

Ein Jahr nach der Wahl ist einiges passiert, vieles aufgeschoben. 2021 fragte der Tagesspiegel die Wählerschaft, welche Themen ihnen besonders wichtig sind. Mittlerweile zeichnet sich ab: Einige dringende Probleme der Stadt harren der Lösung.
Ein Jahr nach der Wahl ist einiges passiert, vieles aufgeschoben. 2021 fragte der Tagesspiegel die Wählerschaft, welche Themen ihnen besonders wichtig sind. Mittlerweile zeichnet sich ab: Einige dringende Probleme der Stadt harren der Lösung.

Herbst 2021, Demonstrationen schieben sich durch Berlin. Sie fordern, große Wohnungsunternehmen zu enteignen. Aktivist*innen erklären die Wahl zur Klimawahl und man darf mit abgelaufenem Ausweis wählen, weil die Bürgerämter so überlastet sind. Im September wählt die Hauptstadt eine neue Landesregierung. Die drei Probleme, die sie mindestens zu lösen hat, scheinen eindeutig: Klimaschutz, Wohnungskrise und Verwaltungsmodernisierung.

Am Montag, den 26. September 2022, ist die Wahl genau ein Jahr her. Welche Themen ist die rot-grün-rote Koalition angegangen, welche ignoriert sie?

Diese Thesen markierten User besonders häufig als wichtig für ihre Wahlentscheidung
In der Wahl-Entscheidungshilfe Berlin-O-Mat konnten Teilnehmende Thesen mit „wichtig für meine Wahlentscheidung“ markieren. Die folgenden Aussagen wurden besonders häufig markiert.

Was als wichtig gesehen wird, unterscheidet sich nicht nur von Partei zu Partei, sondern auch in der Bevölkerung. Dennoch gibt es Dinge, die besonders vielen wichtig sind. Anlässlich der Wahl entwickelten das Tagesspiegel Innovation Lab und die Humboldt-Universität zu Berlin die Wahlhilfe „Berlin-O-Mat“: ein Tool, das Positionen zu politischen Themen abfragt und darauf basierend zeigt, welche Partei in Berlin die eigenen Positionen am ehesten vertritt – sowohl auf Landesebene als auch in den Beziksparlamenten.

Die Antworten der Teilnehmer*innen wurden anonymisiert gespeichert, auch die Antworten der Parteien liegen vor. Ein Jahr später vermitteln die Daten einen Eindruck, bei welchen Themen die Wählerschaft sich besonders einig war – und davon, was die Parteien zur Wahl versprochen haben.

Zwar bilden die fast 79.000 Berlin-O-Mat-Teilnehmenden die Bevölkerung nicht eins zu eins ab. So ein Tool wird von manchen Bevölkerungsgruppen eher benutzt als von anderen, man muss online unterwegs sein und manche machen Falschangaben. Trotzdem vermitteln die Antworten einen guten Eindruck, welche Themen besonders viele Menschen dringlich finden.

Was von den Wahlversprechen umgesetzt wird, ist allerdings eine andere Frage – und eine wichtige: „Aktuelle Forschung zeigt am Beispiel Kanadas, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Regierung ein Wahlversprechen einhält, massiv abnimmt, wenn im ersten halben Jahr nichts passiert ist“, sagt Politikprofessor Jochen Müller von der HU, der den Berlin-O-Mat mit entwickelt hat.

Klimaschutz

Die Themen Klimaschutz, Verwaltungsdigitalisierung und der Wohnungsmarkt sind besonders interessante Beispiele – sowohl bei den Antworten der Wählerschaft als auch bei der politischen Umsetzung. Der Berlin-O-Mat fragte die Teilnehmer*innen nach ihrer Partei-Präferenz: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Die Angabe war freiwillig. Aus ihr lässt sich eine grobe Parteipräferenz ableiten – wer im Bund eine Partei wählen möchte, wird auf Landesebene häufig ähnlich wählen. Wie standen also diejenigen, die jetzige Berliner Regierungs- und Oppositionsparteien wählen wollten, zum Vorschlag, alle politischen Entscheidungen einem Klima-Check zu unterziehen?

„Alle politischen Entscheidungen sollten auf ihre Auswirkungen auf das Klima geprüft werden.“
Berlin-O-Mat-Reaktionen, aufgeteilt nach Bundes-Wahlabsicht für die jetzigen Berliner Regierungsparteien SPD, Grüne und Linke sowie für die Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD.
Regierung
Opposition
Gesamt
Verteilung der Antworten (N = 33.403)
Mittelwert
Position
der SPD
Grüne
Linke
Ablehnung
Zustimmung

Auf die Thesen konnten die User mit „starke Ablehnung“ „Ablehnung“, „neutral“, „Zustimmung“ oder „starke Zustimmung“ reagieren. Insgesamt stimmten 37,4 Prozent im Berlin-O-Mat der These stark zu, weitere 40,8 Prozent stimmten immerhin zu. Wer eine der jetzigen Abgeordnetenhaus-Oppositionsparteien wählen wollte, stimmte der Klima-These im Durchschnitt weniger stark zu. Opposition gegen Klimaschutz also?

Nicht ganz. Zwar reagierten nur 6,8 Prozent der Oppositions-affinen mit „starker Zustimmung“, 38,8 Prozent aber mit „Zustimmung“. Fächert man die Ergebnisse auf, nach Partei, zeigt sich: Auch viele CDU- und FDP-affine wünschten sich bessere Klimapolitik. Lediglich ein Großteil der AfD-Wähler*innen ist gegen den Klima-Check.

„Alle politischen Entscheidungen sollten auf ihre Auswirkungen auf das Klima geprüft werden.“

Graduelle Unterschiede gab es auch nach Bildungsstatus: Wer einen Uni-Abschluss hatte, fand das Klima-Thema tendenziell etwas wichtiger. Einen kleineren, aber spannenden Unterschied machten die Bezirke: In den Außenbezirken Marzahn-Hellersdorf, Spandau, Reinickendorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick wurde die Klima-These häufiger abgelehnt, der Mittelwert der Antworten ist in ihnen am niedrigsten. Am höchsten ist er – wenig überraschend – in der Grünen-Hochburg Kreuzberg, gefolgt von Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Pankow. Nach Geschlecht, Alter, Kinder, Bezirk oder Wohnart unterschieden sich die Reaktionen auf die Klima-These nicht wesentlich.

Die aktuelle Landesregierung wurde also mit Klimaschutzauftrag gewählt. Und die Parteien haben das auch versprochen: Sowohl, SPD, Linke als auch Grüne stimmten der Klima-These zu. Bereits 2021, bevor die neue Regierung gewählt wurde, wurde ein Klimacheck für alle Gesetzesvorlagen eingeführt. Der Koalitionsvertrag bekräftigt, dass es ihn weiterhin geben soll: „Wir werden den Klimacheck evaluieren und gegebenenfalls weiterentwickeln.“

Der verbindliche Klimacheck für alle Regierungsvorlagen, also für alle wichtigen Entscheidungen des Senats, verlangt, dass alle Gesetze und Maßnahmen auf ihre Klimaverträglichkeit hin geprüft werden. Seitdem haben Beschlussfassungen von Gesetzen einen Unterpunkt „Auswirkungen auf das Klima“.

Senatsintern funktioniert der Check mithilfe eines Leitfadens, den die Senatsverwaltungen verpflichtend ausfüllen. Falls eine Entscheidung negative Auswirkungen auf das Klima hat, sollen Alternativen genannt werden. Die für den Check zuständige Umweltverwaltung „prüft kursorisch die Einhaltung und gibt ggf. Empfehlungen zur Nachbesserung“, erklärt Sprecher Jan Thomsen. Der Check habe sich „in der Praxis bisher bewährt“, bis Jahresende soll die Checkliste erweitert werden, die Umweltverwaltung ist zufrieden und sieht „positive Wirkungen bei Bewusstseinsbildung und Transparenz“.

Ob das zu klimafreundlicheren Entscheidungen führt, ist allerdings unklar: „Inwieweit der Klimacheck konkret zu besseren Entscheidungen aus Klimaschutzperspektive führt, lässt sich aktuell nicht mit Bestimmtheit sagen“, schreibt Thomsen. Bisher wurde „noch keine Senatsentscheidung nach dem obligatorischen Klimacheck substanziell geändert oder abgelehnt.

Interessant ist, dass eine ganz konkrete Klimamaßnahme bislang eher mäßig umgesetzt wird: Die Förderung von mehr Radverkehr auch zu Lasten des Autoverkehrs. Weder bei Fahrradstraßen noch bei der Umwidmung von Parkplätzen gibt es bisher sehr grundlegende Fortschritte.

Verwaltung entstauben

Auch hinsichtlich der seit Jahren anstehenden Modernisierung der Verwaltung gibt es noch viel zu tun.

„Alle Dienstleitungen der Verwaltung (…) sollten in Zukunft auch digital möglich sein.“
Berlin-O-Mat-Reaktionen aufgeteilt nach Altersgruppen. In der Frage wurden Ausweis-Beantragung und Kfz-Zulassung als Beispiele für Verwaltungs-Dienstleistungen genannt. Antworten von Nutzern, die angaben, jünger als 14 oder älter als 100 zu sein, tauchen in dieser Grafik nicht auf.
< 24
25–34
35–49
50–64
65+
Gesamt
Verteilung der Antworten (N = 1519)
Mittelwert
Ablehnung
Zustimmung

Auffällig ist, wie unkontrovers das Thema ist. Kein Wunder: Wer will sich schon nicht den Gang zum Amt sparen? Es ist eine der Thesen, bei denen sich die Antworten der Berlin-O-Mat-Nutzenden am meisten ähneln, egal, ob nach Parteipröferenz, Bildungsabschluss und ob sie zur Miete wohnen oder in der eigenen Wohnung. Auch zwischen Ost- und West- sowie Innen- und Außenbezirken gab es keine markanten Unterschiede.

Lediglich sehr junge Menschen sowie Leute im Rentenalter stehen dem Thema ein wenig gleichgültiger gegenüber. Die einen haben vielleicht noch nicht erlebt, wie zeitraubend ein Gang zum Amt in Berlin ist, die Älteren womöglich die Hoffnung aufgegeben, dass sich das je ändern wird.

Auch die Politik ist dafür. Berlinweit reagierte kein Bezirksverband mit etwas anderem als „starker Zustimmung“ oder zumindest „Zustimmung“, als sie für den Berlin-O-Mat gefragt wurden. Im Koalitionsvertrag kommt das Thema ebenfalls vor. „Eine digitale und funktionierende Verwaltung“ stehe „im Zentrum unserer Politik“, heißt es etwa. Das ist in ganz Deutschland gesetzlich verankert: Das Bundes-Onlinezugangsgesetz schreibt Verwaltungs-Digitalisierung vor – eigentlich bis Ende 2022. Derzeit wird das Gesetz überarbeitet. In einem aktuellen Entwurf sei die Frist ersatzlos gestrichen worden, berichtet die Digitalaktivistin Lilith Wittmann.

Konkret sind in Berlin laut Innenverwaltung 230 Dienstleistungen digitalisiert, 55 davon funktionieren mit einem einheitlichen Verfahren (sogenannter „Basisdienst digitaler Antrag“). Etwas Fortschritt gab es im aktuellen Jahr: im April waren es noch 45 einheitliche Verfahren. Über 200 weitere Umstellungen sind laut Senatssprecherin Sabine Beikler in Arbeit. Bis wann die fertig sind, ist aber unklar: „Wie viele Leistungen davon bis zum Ende des Jahres bzw. zum Ende der Legislatur verfügbar sein werden, hängt von vielen unterschiedlichen (…) Faktoren ab, sodass zu Anzahl keine belastbare Aussage getroffen werden kann.“

Ihren Ausweis werden Berliner*innen selbst dann wohl nicht online verlängern können: Bundesgesetze verhindern das, schreibt die Innenverwaltung. „Ob und inwieweit der Bund für eine Online-Beantragung von Dokumenten die rechtlichen Voraussetzungen schafft, ist ungewiss.“

Enteignungen großer Immobilien-Konzerne

Nicht bei allen Themen sind sich Berliner*innen und Regierungsparteien so einig. Politisch schwieriger wird es, wenn eine Frage in der Bevölkerung sehr kontrovers ist, zu der die Leute also unterschiedliche und starke Meinungen haben. Denn hier muss mit Widerstand aus der Zivilgesellschaft gerechnet werden.

Das waren die kontroversesten Berlin-O-Mat-Thesen
Gezeigt wird die Standardabweichung der Antworten. Je größer der Wert, desto größer die Unterschiede zwischen den Antworten der einzelnen Nutzer*innen.

Die beiden kontroversesten Themen der Wahl waren die ENteignungsfrage und die Forderung einer Autofreien Innenstadt. Separiert man die Antworten der Berlin-O-Mat-User auf die Enteignungs-These nach Mieter*innen und Eigentümer*innen, wird sichtbar, dass Mieter*innen wesentlich stärker dafür waren.

Eigentümer lehnen Enteignung großer Wohnungsunternehmen eher ab
Reaktionen auf die Berlin-O-Mat-These „Berlin sollte große Wohnungsunternehmen enteignen“, aufgeteilt nach Mietern und Eigentümern (Eigenangabe). WG-Bewohner sind nicht berücksichtigt.
zur Miete
Eigentum
Gesamt
Verteilung der Antworten (N = 28.926)
Mittelwert
Position
der SPD
Grüne
Linke
Ablehnung
Zustimmung

Zwar ist das Stimmungsbild auch insgesamt, also unter allen Antworten im Berlin-O-Mat, gemischt. Mit 40,9 Prozent stimmten dennoch mehr dafür („Zustimmung“ oder „starke Zustimmung“) als dagegen (37,7 Prozent „Ablehnung“ oder „starke Ablehnung“). Und aus dem Volksentscheid selbst – bei dem die Stimmmöglichkeiten „ja“ und „nein“ Nuancen nicht zuließen – ergab sich mit 57,6 Prozent ein eindeutiger Regierungsauftrag, das Enteignungs-Volksbegehren umzusetzen.

Wie kontrovers die Enteignungs-Frage war, zeigt auch die Aufschlüsselung nach Parteien. FDP-affine lehnten das Begehren am deutlichsten ab (61,8 Prozent reagierten mit starker Ablehnung, 22,2 Prozent mit Ablehnung), gefolgt von der CDU. Die Mehrheit der Linken-affinen waren stark dafür (56,8 Prozent) beziehungsweise dafür (29,2 Prozent). Die Meinungen verschiedener SPD-, Grünen- und AfD-Sympathisant*innen divergieren hingegen stark – bei ihnen ist die sogenannte Standardabweichung, also die durchschnittliche Abweichung aller Antworten, am höchsten. Das spricht dafür, dass das Thema innerhalb der Wählerschaft beider Parteien kontrovers ist. Außerdem lehnten Rentner und Vollzeitbeschäftigte die These zur Enteignung eher ab als Teilzeitbeschäftigte und Arbeitslose, also die Gruppen, die mutmaßlich besonders stark unter den steigenden Mieten leiden.

Ist eine Frage besonders kontrovers, läuft eine Regierung theoretisch Gefahr, sich bei einem Teil der Menschen unbeliebt zu machen – egal, was sie tut. Und wer sich unbeliebt macht, schmälert seine Chancen, wiedergewählt zu werden. Hinzu kommt: Auch in der Politik war das Thema vor der Wahl umstritten: In keiner anderen Frage unterschieden sich die Positionen untereinander deutlicher zwischen den Parteien, die zur Wahl antraten. Die jetzigen Senats-Parteien sind da keine Ausnahme: Die Landes-Linke ist dafür, die Grünen „neutral“, die SPD lehnt sie ab.

Wäre es rein theoretisch nicht opportun für die Regierung, das Thema aufzuschieben, um politische Konflikte sowie Unmut in der Bevölkerung zu vermeiden? Blickt man auf die Geschehnisse seit der Wahl, spricht einiges dafür, dass das Thema ignoriert wird: Kurz nach der Wahl, nach 15 Stunden harter Verhandlung, richtete die neue Regierung eine Expertenkommission ein, die meist nichtöffentlich tagt.

„Bisher ist nicht sonderlich viel passiert“, sagt Sprecherin der Enteignungs-Initiative Isabella Rogner. Die Fragen, die das vorgeschaltete Gremium klären solle, „hätte man auch im Gesetzgebungs-Verfahren klären können.“ Nun beginnt der Senat mit dem Gesetzgebungs-Verfahren erst, nachdem die Kommission ihre Ergebnisse vorgestellt hat. Damit ist nicht vor Frühjahr 2023 zu rechnen. Berliner*innen wissen: Das kann dauern.

Das Team

Nina Breher
Recherche und Text
Tamara Flemisch
Webentwicklung
Lennart Tröbs
Artdirektion
Kilian Rüß
Recherche
Veröffentlicht am 26. September 2022.