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Flucht in den Libanon

Wo Geflüchtete niemals ankommen

Mit einem neuen Flüchtlingsdeal will die EU den Zustrom syrischer Flüchtlinge aus dem Libanon verhindern. In dem Land mit der höchsten Flüchtlingsdichte weltweit wächst der Hass auf Geflüchtete, Deportationen haben begonnen.
Mit einem neuen Flüchtlingsdeal will die EU den Zustrom syrischer Flüchtlinge aus dem Libanon verhindern. In dem Land mit der höchsten Flüchtlingsdichte weltweit wächst der Hass auf Geflüchtete, Deportationen haben begonnen.

Wenn der Regen auf die Planen ihres Zelts in der libanesischen Bekaa-Ebene trommelt, klingt das Geräusch ähnlich wie Schüsse. Dann muss Hawaa Natouf an den Krieg denken, aus dem sie geflohen ist, als sie zwölf Jahre alt war. Jetzt ist sie 23.

Seit fast dreizehn Jahren versinkt Syrien im Krieg. Ein Ende ist nicht in Sicht. Hawaa Natouf ist nur eine von geschätzt 1,5 Millionen Menschen, die seit 2011 aus dem Nachbarland in den Libanon geflohen sind.

Am Donnerstag hat die Europäische Union ein milliardenschweres Flüchtlingsabkommen mit dem Libanon bekanntgegeben. So soll der Zustrom von syrischen Geflüchteten aus dem Libanon in die EU gestoppt werden. Der Deal zeigt, wie sehr in Vergessenheit geraten ist, wie prekär die Lage Geflüchteter in dem Land ist - und dass Syrer im Libanon längst diskriminiert und attackiert werden. Viele trauen sich kaum noch, sich auf den Straßen zu bewegen.

Wer sind die Geflüchteten, die Europa nicht will, warum haben mindestens 5,1 Millionen Syrer ihre Heimat verlassen – und wieso schaffen es nur die wenigsten bis nach Europa, wo Rechtspopulisten die Angst vor ihnen schüren?

Hawaa Natouf hat keine Hoffnung, den Libanon verlassen zu können. Der Syrer Anwar M., 25, hat es 2022 über den Libanon, Ägypten, Libyen und das Mittelmeer in ein Bremer Übergangswohnheim geschafft. Osama Borhan, 35, ebenfalls aus Syrien, sagt, er sei von polnischen Grenzbeamten fünf Mal zurück nach Belarus geschickt worden, über das er in die Europäische Union zu kommen versuchte.

Der Libanon nimmt von allen Ländern die sechstmeisten Flüchtlinge auf, an erster und zweiter Stelle stehen der Iran und die Türkei.

Das Land der Geflüchteten
Die meisten Geflüchteten leben im Iran und in der Türkei, aber im Libanon befinden sich die meisten im Verhältnis zur Bevölkerung.
Für Libanon wurde die von der Regierung geschätzte Zahl verwendet. Seit 2015 ist es Flüchtlingen dort nicht mehr erlaubt, sich zu registrieren. Die Flüchtlingszahlen sind von 2023, die Bevölkerungszahlen von 2022.
Daten: UNHCR, Weltbank, Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Der vergleichsweise kleine Libanon ist das Land mit der weltweit höchsten Flüchtlingsdichte. Auf vier libanesische Einwohner kommt ein Geflüchteter – schätzungsweise, denn 2015 verbot die Regierung, Flüchtlinge zu registrieren, und drängte die weiter ankommenden Syrer so in die Illegalität.

Erwünscht sind sie im Libanon schon lange nicht mehr, Politiker machen sie für die Wirtschaftskrise verantwortlich. Seit 2022 schiebt das Land Syrer ab. Im Herkunftsland drohen ihnen Verhaftung oder Einberufung in Baschar al-Assads Armee.

Daten: DPA, Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Wer zurück ins zerfallene Syrien geht – ob freiwillig oder unter Zwang –, ist der Willkür des Assad-Regimes ausgeliefert. Wer es sich leisten kann, weiterzugehen, riskiert sein Leben, etwa auf der Mittelmeer- oder Balkanroute. Und wer im Libanon bleibt, weil er nirgendwo hinkann, kommt unter, wo es Platz gibt: in städtischen Bauruinen, an Straßenrändern oder in Zelten in inoffiziellen Flüchtlingslagern auf dem Land.

Syrische Geflüchtete im Libanon kommen unter, wo sie Platz finden – etwa in diesem Zeltlager in der Bekaa-Ebene... Foto: IMAGO / Daniel Carde
...oder einer Bauruine im Beiruter Stadtteil Hamra. Foto: Nina Breher

Gefangen in einem Land, in dem Ankommen unmöglich ist

Hawaa Natouf ist keine Person, die anklagt. Aber es gibt zwei Dinge, von denen die 23-Jährige sagt, sie werde sie nicht vergessen.

Sie wird nicht vergessen, wie im Bürgerkrieg, sie war damals zwölf, Soldaten eine Frau und ein Kind vor ihrem Haus in einem Vorort von Damaskus niederschossen. Ihre Eltern zogen die Frau und das Kind in den Hausflur – mit einem Besen, rausgehen war im Kugelhagel unmöglich. Beide atmeten noch. Am nächsten Morgen nicht mehr.

Sie wird nicht vergessen, wie sie, zwei Monate ist es her, eine Fehlgeburt hatte und ihr Mann sie um zwei Uhr morgens in ein libanesisches Krankenhaus brachte. Für 450 Dollar helfe man ihr, hieß es. Während ihr Mann das Geld bei Freunden zusammenlieh, um ihr Leben zu retten – es dauerte zwei Stunden –, lag sie blutend im Wartezimmer. Niemand habe ihr geholfen.

Hawaa Natouf hat Angst vor dem libanesischen Militär. Alle paar Monate komme es in das Zeltlager, in dem sie seit 2013 lebt, und schikaniere die Bewohner. Foto & Grafik: Nina Breher

Natoufs Ehemann arbeitet in einer Papierfabrik, sie ist Schneiderin. Was sie verdienen, reicht kaum zum Leben für sie und ihre Kinder, vier und sechs. Die 450 Dollar schulden sie noch immer.

Natouf floh 2013 mit ihrer Familie in den Libanon. Seitdem lebt sie in einem inoffiziellen Flüchtlingscamp in der Bekaa-Hochebene im Osten des Landes. Für das Vier-Quadratmeter-Zelt, in dem sie, ihr Ehemann und die beiden Kinder wohnen, zahlen sie 50 Dollar Miete pro Monat an den Camp-Aufseher. Jetzt, im Winter, sei es eiskalt.

„Ich bin in dem Zelt aufgewachsen und habe darin geheiratet. Ich hoffe, dass meine Kinder das nicht auch irgendwann sagen müssen“, sagt sie mit freundlicher, vorsichtiger Stimme in einem Café. Sie wollte sich lieber hier treffen, ein paar Kilometer entfernt von dem Zeltlager. Zu groß ist ihre Angst, Ärger mit dem Aufseher zu bekommen.

Der Hass auf Syrer wächst, einige werden unter Zwang zurück geschickt

Viele Syrer halten sich im Libanon versteckt, so gut es geht, und gehen Sicherheitskräften aus dem Weg. Offizielle Zahlen zu den 2022 offiziell angekündigten Abschiebungen – 15.000 pro Monat versprach die Regierung – gibt es nicht. Laut „Human Rights Watch“ waren es im April und Mai 2023 rund 1800 Abschiebungen. Der Libanon verletzt damit nach UN-Angaben den im Völkerrecht verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung.

Libanesische Politiker machen die Syrer für die fatale wirtschaftliche Lage im Land verantwortlich. Vielleicht, weil dann weniger auffällt, dass Korruption und Missmanagement sie verursacht haben. Laut Weltbank ist die seit 2019 andauernde Wirtschaftskrise im Libanon global eine der schlimmsten seit dem 19. Jahrhundert. Allein 2023 verlor die Währung weitere 98 Prozent an Wert – laut einer Bloomberg-Analyse in dem Jahr der höchste Wertverlust einer Währung weltweit. Das Bankensystem ist zusammengebrochen, nur noch begrenzte Abhebungen sind erlaubt.

Längst wird im Alltag mit US-Dollar gezahlt, die libanesische Lira nur noch für kleine Beträge und als Wechselgeld genutzt. Laut UN sind mittlerweile drei Viertel der Bevölkerung von Armut betroffen.

Mehr als drei Viertel der libanesischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Foto: Lara Hauser via Imago

Ex-Präsident Michel Aoun nannte Syrer eine „nationale Gefahr“. Übergangs-Premier Najib Mikati sagte im Dezember 2023, die Libanesen seien sich einig, dass die Syrer zurück nach Syrien sollen – ein vermeintlich sicheres Herkunftsland.

Der christliche Abgeordnete und ehemalige Gesundheitsminister Ghassan Hasbani stellte vor wenigen Tagen eine App vor, über die Libanesen unkompliziert illegale syrische Geflüchtete melden können, inklusive Foto. Der von Politikern geschürte Hass hat sich längst auf die Bevölkerung übertragen. So werden beispielsweise syrische Lager in Brand gesetzt, etwa 2022 in Akkar.

Die einflussreiche islamistische Hisbollah, die hier niemand verärgern will, kollaboriert mit dem Assad-Regime. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah schlug im Oktober 2023 vor, die Syrer als Druckmittel zu nutzen und sie vom Libanon aus legal mit Schiffen nach Europa fahren zu lassen. Dann würde Europa schon fragen, was der Libanon dafür wolle, um damit aufzuhören.

Die internationale Gemeinschaft sieht weg

Für EU-Staaten ist es bequem, wenn die meisten Europa nie erreichen. Und die EU strengt sich nicht an, dem Libanon die Last abzunehmen, wie Zahlen zu geplanten Umsiedlungen zeigen. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR identifiziert besonders vulnerable Geflüchtete und unter anderen sagt die EU zu, eine bestimmte Personenzahl aufzunehmen. Umsiedlungen vulnerabler Syrer aus dem Libanon in EU-Staaten werden allerdings kaum durchgeführt. Die Zahl ist historisch niedrig – während die Anzahl von Syrern im Libanon, die umgesiedelt werden müssten, historisch hoch ist.

Der Umsiedlungs-Bedarf bei Flüchtlingen im Libanon steigt – aber die EU nimmt immer weniger auf
Um „Umsiedlungs-Bedarfe“ zu ermitteln, identifiziert die UNHCR besonders vulnerable Flüchtlinge. Die EU nimmt immer weniger umzusiedelnde syrische Flüchtlinge auf – 2023 waren es nur 0,9 Prozent.
Daten: UNHCR, 2023

Für den Libanon spitzt sich die Lage weiter zu. Abgesehen von den zwei Millionen syrischen Flüchtlingen leben hier zudem geschätzt 250.000 Palästinenser seit 1948 als Geflüchtete im Land. Deren Lager sind im Zuge der syrischen Flüchtlingskrise ebenfalls voller geworden. Infolge des Gaza-Israel-Krieges kommt nun eine weitere Gruppe Geflüchteter hinzu: binnenvertriebene Libanesen und Syrer aus dem Grenzgebiet zu Israel suchen Schutz im Inland, 82.000 sind es bislang, Tendenz steigend.

Wer aus dem Libanon weiter will, braucht Geld – und Glück

Wer es sich leisten kann, bleibt nicht im Libanon. Als 2022 nach elf Jahren Bürgerkrieg von Anwar M.s Heimatstadt Tall Abyad nicht mehr viel übrig ist, beschloss er zu gehen. Der IS wütete hier, zwischenzeitlich eroberten die Kurden die Stadt zurück, zuletzt marschierte die türkische Armee ein, bombardierte die Stadt und kontrolliert sie jetzt.

„Irgendwann musste ich einsehen, dass ich nicht mehr zurückkann. In Syrien gibt es keine Perspektive, keine Infrastruktur. Du hast keinen Überblick, wo es sicher ist und wo nicht“, sagt der 25-jährige Kurde im Videogespräch.

Anwar M. kam mit einem Boot aus Libyen nach Italien. „In Libyen ist man der Schleppermafia komplett ausgeliefert“, sagt er. Zurück könne man nicht mehr, um weiterzukommen ist man von den libyschen Schleppern abhängig. Foto: Antonin Burat / Le Pictorium via IMAGO | Grafik: Nina Breher

Insgesamt kostete ihn die Flucht 10.000 US-Dollar. 200 US-Dollar zahlte er den Schleusern, die ihn über Homs an die libanesische Grenze fuhren – und die nötigen Schmiergelder an das syrische Militär zahlten –, dann ging es zu Fuß über die Grenze in den Nordlibanon, von dort mit dem Auto nach Beirut.

Einen Monat verbrachte er in der Hauptstadt, versteckt in einem Café, das ein Schleuser-Treffpunkt ist, und organisierte seine Weiterreise nach Europa: über Ägypten, Libyen und das Mittelmeer. 3100 US-Dollar kostete die Ausreise aus dem Libanon, 4500 die Überfahrt nach Italien. Anwar M. ist einer von 152.180 Flüchtlingen, die 2022 diese Route nehmen. Über 2.400 von ihnen kommen nie an.

So viele Menschen wie seit 2016 nicht mehr fliehen über das Mittelmeer
Monatliche Ankünfte von Geflüchteten in Europa über das Mittelmeer
Etwa jeder Hundertste von ihnen überlebt die Überfahrt nicht
Monatliche tote und vermisste Geflüchtete bei Überfahrten über das Mittelmeer
Daten: UNHCR, 2023

Die jahrelangen Kriege in Syrien und anderen Ländern veranlassten zuletzt wieder mehr Menschen zur Flucht. Kürzlich meldete Frontex, die Zahl irregulärer Migranten sei 2023 so hoch wie seit 2016 nicht mehr. Syrer sind die größte Gruppe, 40 Prozent kommen wie Anwar M. über das Mittelmeer.

Nicht alle schaffen es nach Europa

Osama Borhan hat es nicht in die EU geschafft. Er verließ im Herbst 2021 den Libanon, um über Belarus nach Polen zu fliehen. Weil der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko die EU unter Druck setzen will, lässt er damals Flüchtlinge mit Touristenvisa ins Land, die von dort versuchen, in EU-Länder zu gelangen.

Osama Borhan hat Syrien 2013 verlassen. Acht Monate war er davor in Gefangenschaft. Sie kamen in seine Motorradwerkstatt im westsyrischen Ort az-Zabadani und brachten ihn ins Gefängnis, folterten ihn von da an jeden Tag, erzählt er. Er sei beschuldigt worden, ein Foto von Diktator Assad zerrissen zu haben. Er, der damals in einer Motorradwerkstatt arbeitete, sagt, er habe das nicht getan, nicht einmal demonstriert.

„Als ich rauskam, entschied ich, dass ich so weit weg wie möglich gehen will“, sagt Osama Borhan in der kleinen Wohnung seiner Familie in der libanesischen Stadt Baalbek, 42 Kilometer entfernt von seinem syrischen Heimatort.

2021 hatte Osama Borhan 8000 Dollar angespart. Über eine libanesische Reiseagentur erstand er Visum und Flugticket nach Minsk. Dort rief er einen Schlepper an, der ihm einen Google-Maps-Pin im Wald schickte. Drei Tage wanderte er dorthin.

Osama Borhan flog im November 2021 nach Minsk – mit einem Touristenvisum. Mehrfach wurde er an der belarussisch-polnischen Grenze abgewiesen. Foto & Grafik: Nina Breher

Er habe versucht, nach Polen zu gelangen. Immer wieder hätten sie im kalten und nassen Wald übernachtet. Die belarussische Armee habe die Gruppe schließlich festgenommen, die Touristenvisa seien abgelaufen gewesen. Man schickte sie zurück. Die 8000 Dollar ist er los.

Seit Januar 2022 ist er zurück in Baalbek, arbeitet als persönlicher Assistent des sunnitischen Muftis der Region. Seinen Traum von einem anderen Leben hat er nicht aufgegeben. Er will jetzt die ukrainische Armee überzeugen, dass er für sie gegen Russland kämpfen darf. „Es ist meine letzte Option“, sagt Osama Borhan. Und vielleicht dürften er und seine Familie ja nach dem Krieg in der Ukraine leben.

Osama Borhan und seine Familie. In welchem Land sie am Ende leben, sei ihnen egal, sagt Osama Borhan. Hauptsache nicht im Libanon. Foto: Nina Breher

Im Libanon bleiben will er keinesfalls. Es gebe keinen Staat, keine Gerechtigkeit, keine Zukunft für seine Kinder. „Die Menschen hier werden mich immer als Syrer betrachten: als jemanden, der zurückmuss.“ Zuletzt hätte seine Tochter die Schule wechseln müssen. Sie sei gehänselt worden, weil sie Syrerin ist. Seine Frau fügt hinzu: „Wir verdienen es, unsere Kinder in einer guten Umgebung großzuziehen, wo es einen Staat, Gesetze und Ordnung gibt.“

Hawaa Natouf glaubt nicht daran, irgendwann wegzukommen. Ihre beiden größten Wünsche sind derzeit: ein Fahrrad für ihren ältesten Sohn und Außenwände für das Zelt, damit es nicht so laut ist, wenn es regnet und stürmt.

Das Team

Nina Breher
Text & Recherche
Katja Demirci
Redigat
Lennart Tröbs
Artidrektion & Datenvisualisierung
Veröffentlicht am 31. Januar 2024.
Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2024.