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In der Pandemie abgehängt?

Manche Kinder haben kaum noch eine Chance, die Lernrückstände aufzuholen

Kinder werden immer schlechter in der Schule, zeigt der neue Ländervergleich des IQB-Bildungsberichts. Vor allem sozial benachteiligte Kinder rutschen immer stärker ab – während Corona hat der Trend sich verschlimmert. Berlin liegt weit hinten.
Kinder werden immer schlechter in der Schule, zeigt der neue Ländervergleich des IQB-Bildungsberichts. Vor allem sozial benachteiligte Kinder rutschen immer stärker ab – während Corona hat der Trend sich verschlimmert. Berlin liegt weit hinten.

Dass das deutsche Bildungssystem nicht für alle gleich gut funktioniert, ist bekannt. Nun belegen Daten, was Lehrer:innen seit Monaten berichten: Während der Corona-Zeit haben die Leistungen der Kinder abgenommen, vor allem die von sozial benachteiligten. Der Bildungstrend des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) der Humboldt-Universität zu Berlin zeigt, wie sich die Leistungen von Viertklässler:innen verschlechtert haben. Vor zehn Jahren schnitten sie in allen Bundesländern besser ab. In der interaktiven Grafik können Sie erforschen, wie Ihr Bundesland abgeschnitten hat.

Bayern schneidet in Lesen am besten ab, Bremen ist Schlusslicht
Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends seit 2011 im Detail. Je dunkler die Einfärbung, desto besser das Ergebnis des Bundeslands.
Rechtschreibung
Lesen
Mathe
Zuhören
schlechter
besser
Keine Daten

Bayern

1. Platz im Lesen
201120162021380420460500540
201120162021380420460500540
Veränderung seit 2011: -3,7%
-3,7% seit 2011
Der Score für jedes Fach berechnet sich aus den Ergebnissen der Tests. Diese wurden so verändert, dass sie 2011 im Durchschnitt bei 500 Punkten liegen. 2021 wurden knapp 27.000 Schüler*innen der vierten Jahrgangsstufe in über 1.400 Schulen getestet. Für Mecklenburg-Vorpommern liegen keine Daten zu 2021 vor. Rechtschreibung untersucht die Studie erst seit 2016.
Daten: IQB-Bildungstrend 2011, 2016, 2021

2011 erreichten die Kinder durchschnittlich noch 500 Punkte in den Tests. Es ist das sogenannte Indexjahr, mit dem die Ergebnisse seitdem verglichen werden. In fast allen Fächern kommen die Bundesländer mittlerweile nicht mehr auf 500 Punkte.

In Rechtschreibung liegt Bayern auf Platz eins, Sachsen in Mathematik und Zuhören. Beide Bundesländer teilen sich den ersten Platz in der Lesekompetenz. Im Schlusslicht wechseln sich Bremen und Berlin ab. Soweit nichts Neues. Gab es aber noch in einigen Bundesländern zwischen 2011 und 2016 einen leichten Aufwärtstrend, hat diesmal jedes Bundesland – bis auf wenige Ausnahmen – in allen Fächern Rückschritte gemacht.

Den stärksten Abstieg seit 2016 gab es in Brandenburg. Hier erreichte ein Kind der vierten Klasse 2021 im Durchschnitt 438 Punkte im Bereich Mathematik. 2016 waren es noch 484. Am meisten aufholen müssten Kinder, deren Eltern eingewandert sind oder die selbst nicht in Deutschland geboren sind, außerdem die von Eltern, die wenige Bücher zuhause haben. Neu sind diese Unterschiede nicht. Aber die Lücke hat sich in den vergangenen zehn Jahren um das 1 1/2-fache vergrößert: 2011 betrug der Unterschied zwischen Kindern mit und ohne Zuwanderungs-Hintergrund 55 Punkte im Fach Mathematik. Mittlerweile sind es 87.

In der Forschung ist der Zusammenhang zwischen Elternhaushalt und Leistungen in der Schule gut belegt. Bücher im Haushalt seien laut dem Bericht ein „besonders aussagekräftiger Indikator“ dafür, wie viel Wissen und Bildung eine Familie hat. Die Wissenschaft nennt das „kulturelles Kapital“. Stärker als noch 2016 bestimmen diese Voraussetzungen 2021, wer nach der vierten Klasse wie viel kann. Der Berufsabschluss der Eltern wurde, anders als 2011 und 2016, nicht ausgewertet.

Daten: IQB-Bildungstrend 2021

500 Punkte müssten Schüler:innen in Mathe erreichen, um auf dem Durchschnitts-Niveau von vor zehn Jahren zu sein. Es ist der Durchschnittswert aller Ergebnisse von 2011. Geht es nach der Kultusministerkonferenz, sollen die Kinder in der Regel jedoch 460 Punkte im Fach Mathematik haben. Dieser Wert ist als „Regelstandard“ eingezeichnet.

Die Daten zeigen: In der Corona-Pandemie haben alle Kinder weniger gelernt als davor. Aber seit 2016 fallen die Fähigkeiten bei weniger privilegierten Kindern stärker ab als bei anderen. Viertklässler*innen aus einem Elternhaus mit vielen Büchern könnten sogar sechs Wochen die Schule schwänzen und kämen noch immer über die 500-Punkte-Grenze. Die soziale Herkunft bestimmt noch mehr als vor zehn Jahren, wer am meisten aufzuholen hat.

Soziale Ungleichheit an Schulen ist also während Corona größer geworden. Ob sie wegen der Pandemiebekämpfungs-Maßnahmen schlechter geworden ist, lässt sich aus den Daten nicht schließen. In der Studie heißt es dazu aber, die Ergebnisse würden darauf hindeuten, „dass sich die Pandemiesituation auf den Kompetenzerwerb der Viertklässler:innen ausgewirkt haben dürfte“. Die Schüler:innen wurden zwischen April und August geprüft, nur wenige Wochen, nachdem Präsenzunterricht wieder regelmäßig möglich war.

Diese Kinder können die Rückstände kaum noch aufholen
Um 80 Punkte Rückstand im Fach Mathematik aufzuholen, bräuchten Kinder Schätzungen einer Studie von 2009 zufolge ein zusätzliches Schuljahr. Die Grafik zeigt, wie viel zusätzliche Schulzeit für bestimmte Gruppen nötig wäre, um 500 Punkte, also das Durchschnitts-Niveau von 2011, zu erreichen.

Besonders viel aufholen müssen Kinder, deren Eltern nicht aus Deutschland stammen. Statistisch gesehen müssten sie 15 Monate länger zur Schule gehen, um die Rückstände in Mathematik aufzuholen. 2016 waren es nur etwas mehr als zehn. Kinder von in Deutschland geborenen Eltern haben es einfacher. Sie bräuchten schätzungsweise nur etwa zwei Monate, um den Mathe-Rückstand einzuholen. Wie es aussieht, wenn ein Kind in zwei Kategorien fällt, darüber ermöglicht die Studie keine Aussage.

Laut Daten von 2007 kann ein Kind in einem Schuljahr etwa 80 Punkte in Mathematik dazulernen. Fehlen einem Kind zum Beispiel noch 40 Punkte, um so gut zu werden wie ein durchschnittliches Kind 2011, müsste es nach dieser Logik ein halbes Jahr länger zu Schule gehen. Zwar sind die Schätzungen, wie viele Punkte ein Kind von der dritten zur vierten Klasse lernen kann, bereits älter. Aber die Rechnung gibt einen Eindruck, wie lange es dauern könnte.

Das Problem ist bekannt, eine Lösung nicht in Sicht

Hat ein Kind am Ende der vierten Klasse bestimmte Fähigkeiten nicht, kostet das die Kinder und das Bildungssystem Mühe und Zeit. Die Grafik zeigt also die Herausforderungen, vor denen die deutsche Bildungs-Landschaft in den kommenden Jahren steht.

Der Bildungstrend wurde ins Leben gerufen, um zu überprüfen, ob die Anforderungen erfüllt werden, auf die sich die Kulturministerkonferenz geeinigt hat. Jetzt zeigt er zum zweiten Mal in Folge, dass das nicht der Fall ist: Die Lücken werden immer größer. Wissenschaftler:innen, die an der Studie beteiligt waren, bestätigen das. Es dürfte „sehr schwierig werden, die Kompetenzrückstände aller Kinder in ihrer weiteren Bildungslaufbahn vollständig zu kompensieren“, sagen die HU-Forscher*innen Stefan Schipolowski und Sofie Henschel. Ohne „sehr gezielte Anstrengungen“ werde das wahrscheinlich nicht gelingen.

Als die Bildungsstudie in Auszügen im Sommer vorab veröffentlicht wurde, kommentierte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD): Er sehe die Chance schwinden, dass die Lernrückstände aufgeholt werden könnten. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin und Kultusministerkonferenz-Vorsitzende Karin Prien (CDU) sprach sich für eine Verlängerung des Aufholprogramms aus. Das Bundes-Programm soll Angebote zur Unterstützung von Kindern ermöglichen. Nach Ansicht der HU-Forscher*innen reicht das nicht. Kinder mit niedrigen Ergebnissen würden gezielte und langfristige Förderprogramme brauchen. „Das leisten die Corona-Aufholprogramme unseres Erachtens bisher kaum.“

Theoretisch wäre ein weiterer Ansatz, soziale Ungleichheit an sich zu verringern. Der Bildungsmonitor rechnet auch vor, dass 95 Prozent der Schüler*innen ohne Zuwanderungs-Hintergrund während der Corona-Pandemie einen eigenen Raum zum ungestörten Lernen hatten. Unter Kindern, die nicht in Deutschland geboren sind, waren es nur 82 Prozent.

Kritik an der Methode der Studie

Soziale Ungleichheit erklärt auch teilweise die Unterschiede nach den Bundesländern. Denn je nach Bundesland ist der Anteil an sozial benachteiligten Kindern unterschiedlich groß.

Gäbe es in jedem Bundesland gleich viele Kinder aus privilegierten und nicht-privilegierten Elternhäuser, sähen die Ergebnisse anders aus. Bremen stünde viel besser da, bei Berlin gäbe es keine Veränderung. Sachsen hingegen wäre nicht an seiner Spitzenposition.

Kritik gab es aber auch an der Methode der Studie. Berlin und Brandenburg waren aufgrund der frühen Sommerferien 2021 die ersten Bundesländer, in denen der IQB-Bildungstrend durchgeführt wurde. Damals waren Berliner Schulen noch im Wechselmodell (vom 12.4. bis 9.6.2021).

Andere Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Sachsen oder auch Thüringen waren mit Ferienbeginn Ende Juli flexibler. Hier fanden die Testungen überwiegend im Regelbetrieb statt. Regelungen und Materialien zur Durchführung der Tests bei Wechselunterricht standen bereits zur Verfügung und konnten direkt eingesetzt werden.

Auch aus Brandenburg kam heftige Kritik. „In Brandenburg wurde nach einer fast zweimonatigen kompletten Schließung mit Distanzunterricht mitten in einer Phase des Wechselunterrichts, der schon fast zwei Monate andauerte, getestet“, teilte Brandenburger Bildungsministerium am Montag mit. Andere Bundesländer mit einem späteren Testzeitraum hätten sich zum Zeitpunkt der Testung schon länger wieder im normalen Präsenzunterricht befunden.

Bildungsministerin Britta Ernst sagte dazu: „In der Zukunft muss sichergestellt werden, dass die Testungen in den Bundesländern unter vergleichbaren Bedingungen stattfinden. Davon unabhängig müssen unsere Maßnahmen zur Qualitätssicherung in Schulen gestärkt werden - zum Beispiel bei gezielter Fortbildung, Nutzung vorhandener Daten wie den VERA-Ergebnissen und Schwerpunkten im Stundenplan.“

Das Team

Eric Beltermann
Webentwicklung
Kilian Rüß
Text & Recherche
Lennart Tröbs
Artdirektion
Veröffentlicht am 17. Oktober 2022.