Kleine Unistadt oder große Metropole? Bei der Wahl der Hochschule spielt auch der Standort eine Rolle. Wohin es die Studierenden zieht, hat sich über die Jahre verändert. Während einige Städte zunehmend an Anziehungskraft verlieren, sind in anderen inzwischen fast 50 Prozent der Bevölkerung Studierende.
Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat zeigen genauer, welche Städte im Trend liegen. Wir wollten wissen: Was sind die Studierendenstädte der Zukunft?
Auf Platz eins der Studierendenstädte Europas liegt Paris. Fast 740 Tausend lebten 2021 in der französischen Hauptstadt. Darauf folgen London, Madrid und Barcelona. In Deutschland zieht es die meisten Studierenden nach Berlin: Fast 200.000 Studierende lebten hier in 2021 – so viele wie in einer mittleren Großstadt.
Der Trend zum Leben und Studieren in der Metropole scheint nicht abzureißen: Denn sowohl in Paris und London nahm die Zahl der Studierenden von 2011 bis 2020 um 21 Prozent zu, in Berlin gar um 30 Prozent. Doch es sind nicht nur Studierende, die es in die Hauptstädte Europas zieht. Paris ist politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Frankreichs – sie auf eine Studierendenstadt zu reduzieren, würde der Stadt nicht gerecht werden.
Stärker vom studentischen Leben geprägt sind die Städte, in denen Studierenden einen großen Anteil der Gesamtbevölkerung ausmachen. Dies sind nicht Hauptstädte und Metropolen, sondern kleinere und mittelgroße Großstädte, deren Stadtbild und Infrastruktur stark von der lokalen Universität geprägt ist.
Besonders fünf Städte ragen heraus: Milton Keynes in England, Löwen in Belgien, San Vicente del Raspeig in Spanien, Pisa in Italien und Gießen in Deutschland. Sie alle haben einen Anteil zwischen 46 und 55 Studierende pro 100 Einwohnern.
In Milton Keynes befindet sich „The Open University“, die größte staatliche Universität Großbritanniens und Europas. Löwen ist Sitz der ältesten Universität der Benelux-Staaten, der „Katholieke Universiteit Leuven“.
Die Universität Pisa ist die älteste Universität Italiens. Dabei befindet sie sich jedoch 150 km weiter nordöstlich der Stadt Pisa. Die spanische Stadt San Vicente del Raspeig liegt in der Provinz Alicante und erlebte einen sprunghaften Bevölkerungsanstieg, als die Universität Alicante dort 1979 ihren Sitz eröffnete.
In Deutschland ist Gießen die Stadt mit den meisten Studierenden pro Einwohner – 457 Studierende pro 1000 Einwohner:innen lebten hier 2021, fast 50 Prozent der Bevölkerung.
Die Statistik sei trügerisch, sagt Claudia Boje, Pressesprecherin im Rathaus Gießen. Gießen hatte im Jahr 2021 knapp 39.000 Studierende und 90.000 Einwohner:innen, doch nicht alle hätten einen Wohnsitz in der Stadt. Laut der Universität Gießen leben nur etwa zwei Drittel der Studierenden während der Vorlesungszeit in der Stadt oder im Landkreis Gießen. Die Dichte würde damit auf etwa 30 Studierende pro 100 Einwohner:innen fallen. In der vorlesungsfreien Zeit wären es bedeutend weniger, da viele Studierende zurück in ihre Heimatstadt fahren.
Trotzdem: „Das Stadtleben ist stark von den Studierenden geprägt”, sagt Boje. Es ergeben sich aber auch Probleme. Studierende hätten meist eine andere Lebensrealität als die lokale Bevölkerung, meint Boje. Denn sie lebten oft nur für wenige Jahre in der Stadt und ließen sich deshalb nicht im selben Maße auf die Stadt ein wie die ansässige Bevölkerung.
Gerade mittlere Großstädte mit weniger als 300.000 Einwohner:innen verzeichneten zwischen 2015 und 2020, also in den Jahren vor der Pandemie, in Deutschland, Italien und Spanien einen Zuwachs an Studierenden.
So verdoppelte sich in der katalanischen Stadt Lleida die Zahl der Studierende von 2015 bis 2020. In anderen Städten wie dem spanischen Logroño oder der norditalienischen Stadt Reggio nell’Emilia stieg sie um 72 bzw. 65 Prozent.
Dr. Stephan Geifes ist Direktor der Nationalen Agentur für Erasmus und Hochschulzusammenarbeit im DAAD und vermutet, dieser Anstieg habe mit der ökonomischen Lage der Studierenden zu tun. „Zum Studium von zu Hause wegzuziehen ist ein eher deutsches Verhalten. In vielen südeuropäischen Ländern bleibt man während des Studiums öfters zu Hause wohnen.“
Gleichzeitig begannen mehr junge Menschen in diesen Ländern ein Studium. In Spanien entschieden sich 2020 96 Prozent der Schulabsolvent:innen für den tertiären Bildungsweg, also ein Studium an Unis oder Fachhochschulen. 2015 waren es nur 86 Prozent, wie Daten des UNESO Instituts für Statistik zeigen. Die lokalen Universitäten profitierten von diesem Zuwachs besonders und verzeichneten höhere Studierendenzahlen.
Auch in Deutschland konnten einige Städte große Studierenden-Zuwächse verzeichnen. Lübeck und Wiesbaden legten zwischen 2015 und 2020 um 35 bzw. 34 Prozent zu. Geifes vermutet: „Wenn man doch zum Studium wegzieht, können die Lebenshaltungskosten bestimmen, wo man zum Studieren hingeht“.
Mittelgroße Städte haben häufig geringere Mieten und Lebenshaltungskosten als Großstädte. Wer auf Bafög angewiesen ist, kann sich ein Leben in Städten wie München, Berlin oder Stuttgart nicht leisten. „Die größte Herausforderung, die ich sehe, ist das studentische Wohnen. In diesen Städten ist der Wohnungsmarkt sehr umkämpft,“ sagt Geifes.
In einigen Gebieten nahm die Zahl der Studierende ungewöhnlich stark zu. Zum Beispiel in Erfurt: Von 2018 bis 2021 hat sich die Studi-Zahl mehr als verachtfacht, von 9800 auf über 85.000. Die Zahl der Eingeschriebenen der Universität Erfurt und der Fachhochschule Erfurt erklären diesen rapiden Anstieg jedoch nicht.
Die Ursache liegt woanders: Die IU Internationale Hochschule, eine private Fachhochschule mit Fernstudienangebot, hat 2019 ihren Sitz nach Erfurt verlegt. Seitdem zählen ihre Studierenden in die Erfurter Statistik. Sie leben also größtenteils gar nicht in der Stadt.
Vor allem in Osteuropa fallen Städte durch einen starken Rückgang der Studierendendichten auf. Klaipėda in Litauen, Blagoewgrad in Bulgarien, Nitra in der Slowakei. Sie alle verloren zwischen 20 und 30 Prozent Studierende zwischen 2015 und 2020.
Dabei spielt die demografische Entwicklung eine Rolle: Die Anzahl der 15 bis 19-Jährigen fiel in Klaipėda zwischen 2015 und 2020 von ca. 7400 auf 5900 um 20 Prozent ab. „Der demografische Wandel in Osteuropa ist durchgängig. Die Zahl der jungen Menschen nimmt ab und damit auch die Zahl der Studierenden,“ erklärt Geifes.
Die fallenden Studierendenzahlen werden im Osten Europas üblicherweise nicht durch ausländische Studierende ausgeglichen. „Erasmusstudierende gehen meist nach Spanien, Frankreich oder Italien. Diese Länder sind uns vermeintlich näher. Die romanischen Sprachen sind leichter als slawische Sprachen,“ sagt Geifes.
Auch im Ruhrgebiet nimmt die junge Bevölkerung in der Region ab oder kaum zu. Und auch hier sinken die Zahlen der Studierenden an den Universitäten.
Insgesamt bekommen vor allem Europas Metropolen Zuwachs an Studierenden. Südliche Städte wie Madrid, Turin und das westdeutsche Düsseldorf wuchsen zwischen 2015 und 2020. Nur östliche Städte wie Vilnius und das ostdeutsche Dresden verloren Studierende.
Generell sind die Studierendenzahlen in Städten mit einer halben Millionen Einwohner und mehr stabiler als die in kleineren Städten. Da in diesen Städten mehr Menschen leben, sind größere Schwankungen notwendig, damit sie sich in den Statistiken bemerkbar machen. Trotzdem reißt der Trend zum Studium in den Hauptstädten nicht ab.
Mit den Studierenden, die in die Städte ziehen, erhalten jedoch auch mittlere Großstädte Chancen, zu wachsen. Sie können ein starkes studentisches Leben etablieren, wie es in Metropolen nicht möglich ist.
Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator (ECIJA) produziert. Wir sind ein Netzwerk europäischer Medien, das sich der Recherche gemeinsamer Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert. Das Tagesspiegel Innovation Lab leitet dabei die Datenrecherche und –visualisierung des Netzwerks. In unserer neuen Recherche widmen wir uns dem Thema Studentenwohnen. Dies ist der zweite Teil der europäischen Investigation. Zum ersten geht es hier. Weitere Teile folgen in den nächsten Wochen.