Günstig, demokratisch, mit lebenslangem Wohnrecht: Genossenschaften gelten als das Nonplusultra auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Die schwarz-rote Landesregierung hat deswegen angekündigt, im Einzelfall auch Grundstücke an „gemeinwohlorientierte Wohnungsbaugenossenschaften“ verkaufen zu wollen, damit diese bauen können. Schaut man sich die vielfältige Berliner Genossenschaftslandschaft an, so offenbaren sich Grauzonen – die auch Modellen die Tür öffnen könnten, die vielleicht weniger das Gemeinwohl im Blick haben.
Aktuell sind laut dem Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) rund 200.000 der insgesamt gut zwei Millionen Berliner Wohnungen im Besitz der etwas mehr als 100 Wohnungsgenossenschaften. Sie fordern seit langem, einfacher, an landeseigene Grundstücke zu kommen, um bauen zu können.
Die rot-grün-rote Regierung hatte vereinzelt Grundstücke an Genossenschaften verkauft, wie eine Tagesspiegel-Anfrage zeigt. Soweit es sich rekonstruieren lässt, handelt es sich überwiegend um kleine Splittergrundstücke oder Altfälle, deren Vergabe bereits vor dem Jahr 2016 beschlossen worden war, wie zum Beispiel die „Schöneberger Linse“.
Wenn das Land Boden an Genossenschaften verkauft, geschieht das meist in der Annahme, dass Genossenschaften dem Gemeinwohl dienen. Diese Annahme hat aber einen Haken: „Gemeinwohl“ ist kein juristisch klar definierter Begriff. Rechtlich festgelegt ist nur die „Gemeinnützigkeit“, die sich zum Beispiel ein Verein anerkennen lassen kann. Das gilt für unterschiedliche Themengebiete: zum Beispiel Bildung, Tierschutz oder bürgerschaftliches Engagement.
Eine nicht-kommerzielle Wohnraumvermietung ist bisher nicht als Ziel der Gemeinnützigkeit definiert. Die Bundesregierung hat zwar ein Gesetz angekündigt, das die Gemeinnützigkeit bei Wohnraum regeln soll. Das lässt aber auf sich warten und wird wohl kaum noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet.
Was heißt das für die Wohnungsgenossenschaften? Salopp gesprochen: Sie haben mit Gemeinnützigkeit erstmal überhaupt nichts zu tun, sondern müssen sich an das Genossenschaftsrecht halten.
„Das Ziel einer klassischen Wohnungsgenossenschaft ist primär die Versorgung ihrer Mitglieder mit sicherem und bezahlbarem Wohnraum“, schreibt ein Sprecher des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW. Sicherheit und Bezahlbarkeit von Wohnraum, das sind die Merkmale, die den Wohnungsgenossenschaften den Ruf einbringen, gemeinwohlorientiert zu sein.
In den letzten Jahren haben sich aber einige Wohnungsgenossenschaften gegründet, die eben nicht „klassisch“ funktionieren: Sie reizen bestimmte Möglichkeiten im Genossenschaftsrecht aus, die Einfallstore für Akteure sein könnten, die eigene Profitziele im Blick haben und nicht Gemeinwohlinteressen von Bewohnern, Kiez, Stadt und Gesellschaft.
Bei diesen nicht-klassischen Wohnungsgesellschaften müsse man gut schauen, schreibt der GdW-Sprecher, ob das Modell nicht in erster Linie darauf ausgerichtet sei, „maximalen (finanziellen) Nutzen für die jeweiligen Initiatoren“ zu generieren.
In Berlin gibt es eine Handvoll Genossenschaften, die diese Grauzonen verständlich machen. Teilweise gehen sie mit dem Genossenschaftsrecht gerade deshalb kreativ um, weil sie meinen, nur so könne man den von ihnen geschaffenen Wohnraum wirklich dauerhaft für das Gemeinwohl sichern. Trotzdem stehen sie auch exemplarisch für Möglichkeiten im Genossenschaftsrecht, die auch genutzt werden könnten, um etwa landeseigene Grundstücke über den Umweg einer Genossenschaft doch zu privatisieren.
Der Hebel zu einer Grundstücksprivatisierung wäre die „Eigentumsorientierung”, die bei manchen Wohnungsgenossenschaften vorgesehen ist. Sie ermöglicht den Mitgliedern, die Wohnung, in der sie selbst leben, zu erwerben. Wird die Wohnung verkauft, steht sie dem freien Markt mit seinem Renditedruck zur Verfügung. Denn der Eigentümer kann sie zu Marktpreisen weiterverkaufen.
Nicht jede eigentumsorientierte Genossenschaft hat diese Möglichkeit ganz freiwillig in der Satzung untergebracht: 1996 führte die damalige Bundesregierung im Eigenheimzulagengesetz eine Förderung für den Kauf von Genossenschaftsanteilen ein. Voraussetzung war allerdings, dass es sich um eine eigentumsorientierte Genossenschaft handelte. Vor allem neu gegründete, kapitalschwache Genossenschaften nutzten diese Möglichkeit. Um die Förderung in Anspruch nehmen zu können, schrieben sie eine Eigentumsorientierung in ihre Satzung.
So machte es zum Beispiel Mietergenossenschaft Unionplatz Tiergarten eG (MUT eG). Im Anschluss wurden insgesamt 36 Wohnungen an Mitglieder verkauft. Christian Palmer, einer von drei Vorständen der Genossenschaft, klingt darüber nicht glücklich: „Wir sind eine Mietergenossenschaft und sehen uns als Bestandshalter, nicht als Immobilienhändler“, sagt er. Immerhin: Das Abverkaufen von Wohnungen „wurde im Jahr 2013 beendet, indem der Kredit des Landes Berlin, welcher uns zum Verkauf zwang, abgelöst wurde.“ Das Beenden des Verkaufsprozesses sei mit großer Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder beschlossen.
Ein weiterer Fall ist das einstige Vorzeigeprojekt Spreefeld eG an der Bezirksgrenze von Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, das 2020 fertig gestellt wurde.
Einige Mitglieder, die den Bau durch besonders große Summen ermöglicht hatten, hatten das mit der Bedingung verbunden, dass sie ihre Wohnung nach Fertigstellung zum Herstellungspreis kaufen könnten. Mehr als die Hälfte der Wohnungen wurden dann tatsächlich von Mitgliedern erworben – in einer Situation, in der die Grundstückspreise explodierten und der Marktwert der Wohnungen damit sehr schnell viel höher war als die Herstellungskosten, die sie für die Wohnungen zahlen mussten.
Wie viele Genossenschaften in Berlin eigentumsorientiert sind, ist nicht ganz klar. Einige zunächst eigentumsorientierte Genossenschaften haben diesen Passus inzwischen wieder aus ihrer Satzung getilgt. Manche andere haben ihn entschärft, sodass Mitglieder nur noch in Ausnahmefällen oder gar nicht ihre Wohnungen erwerben können, sagt Ulf Heitmann, Vorstand der Genossenschaft Bremer Höhe und Sprecher des Bündnisses junger Genossenschaften.
Die meisten dürften es nicht darauf abgesehen haben, ihre Wohnungen abzuverkaufen. Dennoch: In einer Situation, in der das Land explizit nur an Genossenschaften Bauland verkaufen will und Boden immer wertvoller wird, könnten künftig Akteure auftauchen, die dieses Schlupfloch nutzen wollen.
Es gibt noch weitere Möglichkeiten, das Genossenschaftsrecht so zu dehnen, dass die klassische Vorstellung an ihre Grenzen kommt. Ein Vehikel dafür sind unterschiedliche Formen der Mitgliedschaften: „ordentliche“ und „investierende“ Mitglieder sieht das deutsche Recht seit 2006 vor. Damit arbeitet die Begeno16, die das Quartier WIR in Weißensee gebaut hat.
Wer in eine Wohnung der Genossenschaft ziehen möchte, muss, anders als im klassischen Modell, investierendes Mitglied werden. Die geben Geld, haben bei der Begeno16 aber kein Stimmrecht. Dafür bekommen sie mögliche Dividenden ausgeschüttet. Die Genossenschaft ist auch beim Großprojekt Gartenfeld in Spandau beteiligt ist.
Stimmberechtigt sind nur die ordentlichen Mitglieder der Genossenschaft. Ordentliches Mitglied kann aber nicht jeder werden, schreibt die Vorständin Anais Cosneau: „Sie werden vom Aufsichtsrat zugelassen und sollen eine aktive Rolle in der Weiterentwicklung und ideellen Ausrichtung der Genossenschaft spielen, von daher ist ihre Zahl bewusst begrenzt.“ Aktuell gebe es 16 ordentliche Mitglieder.
Nach Auffassung der Genossenschaft ermöglicht es diese Konstruktion, Neubauquartiere zu planen und zu bauen: So soll verhindert werden, dass die Genossenschaft nur noch Mieten für Mitglieder günstig hält und keine neuen Projekte angeht. „Die stimmberechtigten Mitglieder, welche die ideelle Ausrichtung der Genossenschaft garantieren, sollen in ihren Entscheidungen nicht durch private Vorteile beeinflusst sein.“
Mitglieder einer Genossenschaft können nicht nur natürliche Personen, aber auch „juristische Personen“ wie Unternehmen oder Vereine sein. Sie nehmen den Hauptzweck der Genossenschaft, also in diesem Fall die Versorgung mit Wohnraum, nicht direkt in Anspruch, sondern geben Geld und bekommen dafür Zinsen.
So wie bei „Job und Wohnen”, die im Frühjahr mit den Arbeiten für 111 Mitarbeiterwohnungen in Spandau beginnen will, direkt an der Spree. Das Modell hier: Die Mitglieder sind mittelständische Unternehmen, die über ihre Anteile Belegungsrechte für ihre Mitarbeiter erhalten, an die die Wohnungen dann vermietet werden.
„Eine Genossenschaft ist die einzige Rechtsform, die keine Gewinnorientierung hat. Und sie lässt keinen Raum für Spekulationsabsichten“, sagt Immobilienanwalt Peter Diedrich, der die Genossenschaft juristisch betreut. Er hat die Idee entwickelt, ist auch Vorstand im gleichnamigen Verband, der deutschlandweit für dieses Modell des Mitarbeiterwohnens wirbt.
Die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW, Ingeborg Esser, sieht das Unterfangen kritisch: „Grundsätzlich würden wir es immer befürworten, wenn die Wohnungsnutzer auch Mitglieder der Genossenschaft sind.“
Noch anders geht die Immofemme-Genossenschaft an das Thema Wohnungsgenossenschaft heran: Mit „Gemeinsam in Immobilien investieren und profitieren“, wirbt sie auf ihrer Homepage. Die Genossenschaft richtet sich explizit an Frauen, denn diese „bauen über ihre berufliche Reise hinweg weniger Vermögen auf als Männer.“ Dem wolle die Genossenschaft etwas entgegensetzen: „Wir investieren genossenschaftlich in Immobilien in Berlin und ermöglichen mit einem Bruchteil des sonst üblichen Kapitaleinsatzes die Teilhabe an der Rendite.“
Wenn Mieter ausziehen, bekommen die Genossinnen die Wohnungen zuerst angeboten, sagt Julia Backhaus, Co-Vorständin von Immofemme. Dass die Immofemme vorrangig eine „Anlagegenossenschaft” sei, treffe nicht zu. Aktuell habe die Genossenschaft 20 Genossinnen und fünf vermietete Wohnungen in Berlin und in anderen Städten. Perspektivisch sollen es 70 Genossinnen werden und 130 bis 140 Wohnungen.
Die Frage, was Gemeinwohl bei Genossenschaften bedeutet, könnte auch am Molkenmarkt in Berlins historischer Mitte relevant werden: Während der frühere rot-grün-rote Senat dort nur die Landeseigenen bauen lassen wollte, findet sich im schwarz-roten Koalitionsvertrag die Ergänzung, auch „gemeinwohlorientierte Bauherren“ könnten zum Zuge kommen.
Bausenator Christian Gaebler (SPD) betont seitdem zwar immer wieder, es stünde gar nicht zur Debatte, dass hier auch andere als die Landeseigenen bauen – aber im April vergangenen Jahres wurde bekannt, dass der Architekten- und Ingenieurverein (AIV) eine Genossenschaftsgründung angestoßen hat. Der Vereinsvorsitzende Tobias Nöfer sagte dem Tagesspiegel, „dass eine vom AIV initiierte gemeinnützige Bau-Genossenschaft sich an Konzeptverfahren beteiligen könnte“, falls Grundstücke am Molkenmarkt ausgeschrieben werden sollten.
Im September sagte der Geschäftsführer des AIV, dass inzwischen genug Mitglieder zusammen seien, um eine Genossenschaft zu gründen. Seitdem scheint der AIV eine Mitgliederbefragung durchgeführt zu haben, ob der AIV als Verein selbst Mitglied in der Genossenschaft werden will. Nach Tagesspiegel-Informationen sei danach beschlossen worden, dass der Verein vorerst nicht selbst Mitglied werde.
Außerdem soll die Genossenschaft wohl doch nicht das “AIV” im Namen tragen, wie es im Satzungsentwurf von April 2023 noch der Fall war. Die Pressesprecherin des AIV wollte diese Informationen nicht kommentieren, genauso wenig wie die Frage, ob es inzwischen eine neuere Version der Satzung gebe. Es gebe “keine neuen Informationen, die ich Ihnen geben kann”, sagte sie dem Tagesspiegel am Telefon.
Der Satzungsentwurf vom 18. April 2023, der dem Tagesspiegel vorliegt, sieht jedenfalls die Möglichkeit vor, dass Mitglieder Wohnungen als Eigentum erwerben können. Mitglied werden können laut dem Satzungsentwurf vom April natürliche Personen, die Mitglied im AIV sind oder für ihn tätig sind.
Außerdem können juristische Personen, also zum Beispiel Vereine oder Unternehmen, Genossen werden, wenn sie durch AIV-Mitglieder vertreten werden. In der Präambel heißt es: Das Genossenschaftsmodell erlaube die Bildung von Gruppen, die “durch gemeinschaftliche Finanzierung von Wohnbauvorhaben am Immobilienmarkt stärker auftreten können”.
Bei einer Infoveranstaltung hatte Nöfer nach eigenen Angaben seine „Beratungstätigkeit im Rahmen der Koalitionsverhandlungen transparent gemacht“ und gesagt, er hoffe, dass eine solche Genossenschaft „aufgrund ihrer guten Konzepte auch realistische Chancen habe, ein oder mehrere dieser Grundstücke zu bekommen.“
Grüne und Linke reagierten alarmiert: „Sollte der Architekten- und Ingenieurverein eine Genossenschaft gründen, um an Berliner Filetgrundstücke zu gelangen, ist das ein Missbrauch des Instruments“, sagte etwa der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Werner Graf.
Bausenator Gaebler erklärte im Mai im Abgeordnetenhaus mit Bezug auf die AIV-Gründung, dass nur Genossenschaften, „die eine entsprechende Tradition haben, die einen entsprechenden Bestand haben und die auch eine entsprechende Verlässlichkeit haben“, Grundstücke kaufen solle.
Wie aber solche Vergaben konkret ausgestaltet werden sollen, scheint noch nicht klar zu sein. Auf Anfrage antwortet die Stadtentwicklungsverwaltung: „Die angekündigte Weiterentwicklung der Liegenschaftspolitik des Landes Berlin wird auch das Thema des Verkaufs von landeseigenen Grundstücken an gemeinwohlorientierte Wohnungsbaugenossenschaften im Einzelfall behandeln und inhaltliche Kriterien dafür festlegen.“
Angedacht sei zum Beispiel die Rückführung etwaiger Grundstücke in den Landesbesitz bei vertragswidriger Nutzung, Veräußerungsabsicht oder Auflösung der Genossenschaft. „Die Zuständigkeit für Liegenschaftspolitik liegt allerdings bei der Senatsverwaltung für Finanzen.“ Ein Sprecher der Finanzverwaltung schreibt, dass man der Antwort der Stadtentwicklungsverwaltung nichts hinzuzufügen habe.
Dieser Artikel ist Teil einer langfristigen europäischen Recherche zur Wohnungskrise. Mithilfe von Datenanalysen, Satellitenbildern, Vor-Ort-Reportagen und Experteninterviews versucht die Recherche „Ground Control”, Licht ins Dunkel zu bringen. Besonderer Fokus ist Bauland und der Handel mit Grundstücken. Der europäische Bodenmarkt ist intransparent. Das erschwert es, Unternehmen zu identifizieren, die Land kaufen, um damit zu spekulieren, oder die Politik für verantwortungslose Deals zur Rechenschaft zu ziehen. Und es verhindert eine transparente Debatte darüber, wie wir als Stadt die letzten Freiflächen nutzen können. Deswegen recherchieren Medien in verschiedenen europäischen Hauptstädten gemeinsam urbanen Landbesitz. Eine Übersicht aller internationalen Veröffentlichungen finden Sie auf der Projektwebseite.
Belgien: Apache, Tschechien: Deník Referendum, Frankreich: Mediapart, Polen: Gazeta Wyborcza, Frontstory.pl, Ungarn: Telex, Slowakei: ICJK, Norwegen: iTromsø, Italien: Irpi Media,
In den nächsten Wochen werden weitere Egebnisse veröffentlicht. Einige Rechercheergebnisse aus anderen Städten und Sprachen werden wir zusammenfassen und auf Deutsch übersetzen.
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