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Wohnungskrise in Großstädten

Mieten steigen ortsweise um 100 Prozent, Kaufpreise um 200 Prozent

Wo in Deutschland die Mieten in den letzten 14 Jahren am stärksten steigen, lässt sich anhand von Analysen des RWI stadtgenau zeigen. Europäische Daten zeigen zudem, in welchen Hauptstädten Mieten und Kaufen inzwischen am teuersten ist. Alle Ergebnisse in Grafiken.
Wo in Deutschland die Mieten in den letzten 14 Jahren am stärksten steigen, lässt sich anhand von Analysen des RWI stadtgenau zeigen. Europäische Daten zeigen zudem, in welchen Hauptstädten Mieten und Kaufen inzwischen am teuersten ist. Alle Ergebnisse in Grafiken.

Gerade einmal 5,60 Euro pro Quadratmeter – so viel kostete 2009 im Schnitt die Wohnungsmiete in Berlin. Das bezieht sich auf Angebotsmieten. Heute sind es 11,90 Euro. Der Preis hat sich verdoppelt. Das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung hat exklusiv für den Tagesspiegel die Angebotsmieten der vergangenen 14 Jahre in Deutschland ausgewertet. In Berlin sind die Mieten demnach seit 2009 am stärksten gestiegen: um 112 Prozent von 2009 bis 2023. Darauf folgen Stuttgart (72 Prozent) und Leipzig (66 Prozent).

Der Tagesspiegel hat die Daten zu Angebotsmieten und Kaufpreisen weiter analysiert und visualisiert. Um die Entwicklungen international einordnen zu können, haben wir außerdem exklusive Daten zu Miet- und Kaufpreisen in Europas Hauptstädten ausgewertet. Wir zeigen die wichtigsten Ergebnisse nachbarschaftsgenau in Karten und Grafiken.

Sandra Schaffner leitet das Forschungsdatenzentrum am RWI. Die Wirtschaftswissenschaftlerin forscht unter anderem zu regionaler Ungleichheit und dem Immobilienmarkt. Schaffner erklärt den extremen Preisanstieg in der Hauptstadt zum einen damit, dass 2009 die Mieten auf einem sehr niedrigen Niveau waren und die Stadt seither einen großen Aufschwung erlebt hat. „Berlin ist außerdem ein Sonderfall, weil es viele Neubauten in den innerstädtischen Gebieten gibt.“ Das lässt die Preise steigen.

Die Anstiege sind in allen deutschen Großstädten zu beobachten. In manchen Stadtteilen sind sie besonders drastisch. Das RWI wertet dafür die Angebote der Online-Plattform Immoscout von 2009 bis 2022 auf der kleinsten räumlichen Einheit von einem Quadratkilometer aus. Diese kleinräumige Analyse zeigt die enormen Unterschiede nach Nachbarschaften.

Um die Mietpreise der Wohnungen aus unterschiedlichen Baujahren vergleichbar zu machen, berechnet das RWI regionale Indizes im Vergleich zum Bundesdurchschnitt. „Bei Mietindizes wird berücksichtigt, dass jede Wohnung anders ist“, erklärt Schaffner. Der Wohnungsbestand in den Städten ist unterschiedlich. Jedes Ausstattungsmerkmal – Balkone, Gäste-WCs oder auch das Baujahr – erhält einen Wert. Daraus wird ein vergleichbarer mittlerer Mietpreis berechnet, der auch auf der Karte zu sehen ist.

Vergleicht man alle Nachbarschaften der 15 größten deutschen Städte, so steht eine Münchner Gegend auf Platz eins. 4,23 Euro kostete eine durchschnittliche Wohnung 2009 in Milbertshofen, heute sind es nach den Berechnungen im Schnitt 17,59 Euro pro Quadratmeter, eine Steigerung von über 350 Prozent. An zweiter Stelle folgt Berlin – im Schillerkiez am stillgelegten Flughafen Tempelhof stiegen die Mieten um über 200 Prozent, von 5,62 Euro auf 17,53 Euro pro Quadratmeter.

Blickt man stattdessen auf den mittleren Wert (Median) aller Angebote, so sind die Mieten in Kreuzberg und Friedrichshain rund um die Oberbaumbrücke am stärksten gestiegen, um über 350 Prozent. Das dürfte an den Neubaumieten rund um die Mercedes-Benz-Arena liegen, eine Luxussiedlung zwischen Bahngleisen und Mauertourismus.

Von den 200 Gebieten mit dem höchsten Anstieg der mittleren Mieten liegen 148 in Berlin. Darauf folgt Stuttgart mit 23 der 200 Quadrate mit dem größten Anstieg. München liegt auf Platz drei.

Mietmuster in deutschen Städten
Mittlere Angebotsmieten nach Stadtteilen in ausgewählten Großstädten im Zeitverlauf
RWI Essen 2023 / Tagesspiegel Innovation Lab, Urban Journalism Network. Kartenbasis: MapTiler, OpenStreetMap contributors

Doch auch wenn die Mieten in Berlin und Stuttgart am stärksten gestiegen sind, am teuersten ist weiterhin München.

Der Anstieg der Mieten in den 15 größten Städten treibt den Gesamtindex für Deutschland wesentlich an, sagt Sandra Schaffner. Vor allem im Osten und in der Mitte des Landes gibt es Regionen, in denen die Mieten stagnieren. „Da die meisten Wohnungen aber in den großen Städten angeboten werden, steigen insgesamt die Mieten.“

Günstig im Osten, teuer im Süden – und in den Städten
Mittlerer Mietpreis für Wohnungen gleicher Ausstattung nach Landkreisen. Insbesondere um Berlin und München herum ist ein deutlicher Speckgürtel sichtbar.
RWI Essen 2023 / Tagesspiegel Innovation Lab, Urban Journalism Network

Eine Einschränkung ihrer Analyse ist den Forschenden vom RWI wichtig: Seit sie die Daten sammeln, hat sich das Angebot geändert. „Der Marktanteil von Immoscout ist nicht immer konstant geblieben”, sagt Schaffner. Denn wenn die Preise stark steigen, bekomme der informelle Markt ein größeres Gewicht. Wie groß der Anteil ist, ist nur schwer abzuschätzen.

Was die Daten aber zeigen: Die Kaufpreise für Häuser und vor allem für Wohnungen in den Städten sind in den vergangenen Jahren noch stärker gestiegen als die Mieten. „Mieten sind weniger volatil, steigen nicht so stark wie Kaufpreise, aber fallen auch langsamer“, sagt Schaffner.

Bei den Kaufpreisen ist der Aufwärtstrend vorbei. 2023 stagnieren die Preise in den meisten der 15 Städten. Ausnahmen sind Dortmund – und Berlin. Dort stiegen die Preise für Wohnungen weiter.

In London steigen die Mieten, aber die Kaufpreise brechen ein

In ganz Europa ist zu beobachten, dass die Immobilienpreise fallen. Vor allem in London. Der schwedische Immobilieninvestor und -Berater Catella veröffentlicht jedes Quartal Miet- und Kaufpreise für europäische Städte im Vergleich. Demzufolge sind die Mieten in London seit 2019 um 36 Prozent gestiegen, während die Preise für Apartments um 14 Prozent gefallen sind. Ähnlich sieht es in Paris aus. Mieten stiegen um sechs Prozent, Wohnungspreise fielen um 1,4 Prozent.

In Berlin ist ein Preisabfall noch nicht sichtbar – weder in den Daten von Catella noch beim RWI, wo die Preise stagnieren. Doch die steigenden Zinsen und monatelange Inflation beeinträchtigt den gesamten europäischen Immobilenmarkt. Kommt auch in Berlin der Preisabfall?

Berlin sei international schwer zu vergleichen, sagt Thomas Beyerle, Head of Research für Catella. „Aus Sicht des Kapitalmarktes ist Berlin immer noch unterbewertet“, sagt er. Im internationalen Vergleich etwa mit London oder Paris seien die Mieten weiterhin eher niedrig. „Da sagt der Kapitalmarkt ganz nüchtern: Hier können wir noch auf steigende Preise setzen.“

Insgesamt lassen sich am Markt weniger Transaktionen beobachten als noch vor Jahren, berichtet Beyerle: ein weiteres Zeichen für den angespannten Wohnungsmarkt, die Situation sei heute dramatischer als vor fünf Jahren.

„Bezahlbarer Wohnraum war noch nie so weit entfernt wie jetzt“, sagt Beyerle. Das liege vor allem daran, dass die Mieten hoch seien und kaum gebaut würde, um den Markt zu entlasten. „Wir sprechen nur noch intellektuell von bezahlbarem Wohnraum“, meint er. Dabei sei man froh, wenn überhaupt noch gebaut würde.

Die steigenden Baukosten und explodierenden Bodenpreise verschärfen das Problem. Wohnungen sind zudem weniger rentabel für Bauunternehmen als beispielsweise Büros oder Shoppingcenter. „Es soll keiner denken, dass Mieten in den nächsten Jahren sinken werden“, sagt Beyerle.

Laut UN-Prognosen wird die Bevölkerung in den meisten europäischen Großstädten weiter zunehmen. Sandra Schaffner vom RWI sagt, das werde besonders Geringverdienende treffen. Je höher die Preise, desto schwieriger wird es, neu in eine Stadt zu ziehen. „Meist sind es eher die Jüngeren, die in die Stadt ziehen. Die haben aber am wenigsten Vermögenswerte und müssen die Neuvermietungsmieten zahlen.“ Ältere Menschen ziehen seltener um – und zahlen häufiger Bestandsmieten.

Langfristig kann das zu einer Verdrängung der Geringverdiener aus der Innenstadt beitragen, sagt Schaffner. Aber auch Pflegeberufe und Erzieher*innen braucht es in der Stadt, nicht nur IT-Fachkräfte, die sich hohe Mieten leisten können.

Die Folge sind noch mehr Pendelbewegungen – zwischen den Städten, in die Innenstadt, über Ländergrenzen. Oder noch mehr Mangel an denjenigen Fachkräften, die schlecht bezahlt, aber wichtig für das Zusammenleben sind.

Über das Projekt

Der europäische Bodenmarkt ist intransparent. Das erschwert es, Unternehmen zu identifizieren, die Land kaufen, um damit zu spekulieren, oder die Politik für verantwortungslose Deals zur Rechenschaft zu ziehen. Und es verhindert eine transparente Debatte darüber, wie wir als Stadt die letzten Freiflächen nutzen können. Deswegen recherchieren Medien in verschiedenen europäischen Hauptstädten gemeinsam urbanen Landbesitz. Mithilfe von Datenanalysen, Satellitenbildern, Vor-Ort-Reportagen und Experteninterviews versucht die Recherche „Ground Control”, Licht ins Dunkel zu bringen. Eine Übersicht aller internationalen Veröffentlichungen finden Sie auf der Projektwebseite.

Partnermedien und Rechercheorganisationen

Belgien: Apache, Tschechien: Deník Referendum, Frankreich: Mediapart, Polen: Gazeta Wyborcza, Ungarn: Telex, Slowakei: ICJK, Norwegen: iTromsø, Italien: Irpi Media,

In den nächsten Wochen werden weitere Egebnisse veröffentlicht. Einige Rechercheergebnisse aus anderen Städten und Sprachen werden wir zusammenfassen und auf Deutsch übersetzen.

Die Recherche wird von Investigative Journalism for Europe (IJ4EU) Fonds sowie durch Journalismfund unterstützt. Die Entwicklung der Technologien für das Urban Journalism Network sowie diese Recherche werden durch das Programm Stars4Media unterstützt.

Über die Daten

Der Liegenschaftsplan des Landes Berlin: Die Daten für die Karte der öffentlichen Grundstücke stammen aus dem Liegenschaftsplan des Landes Berlin, der jährlich im sogenannten „Fis broker“, dem Geoportal des Landes Berlin, veröffentlicht wird. Grundlage für die Veröffentlichung ist Paragraph 25 des Berliner Landesvermessungsgesetzes, der vorsieht, dass die Liegenschaften veröffentlicht werden müssen und für jedermann einsehbar sein sollten.

Diesen Datensatz haben wir mit zwei Datensätzen aus dem Amtlichen Liegenschaftskataster (ALKIS) zusammengeführt. Mithilfe des Datensatzes zu Flurstücken erhielten wir die jeweilige Größe des Grundstückes. Mit dem Datensatz zur Nutzung konnten wir die Flächennutzung ergänzen.

Da sich nicht alle öffentliche Grundstücke eindeutig dem Flurstückdatensatz zuordnen ließen, haben wir für rund 500 von etwa 70.000 Flurstücken die Größe selbst berechnet. Die Diskrepanz der Datensätze ergibt sich laut Senatsverwaltung aus den unterschiedlichen Aktualisierungszyklen der beiden Datensätze. Der Datenstand des Liegenschaftsplans ist der 28. Februar 2023, der der Flurstückkarte aus ALKIS der 01. September 2023.

Bei Flurstücken, die mehrere Flächennutzungen haben, zeigen wir diese als zwei unterschiedliche Shapes auf der Karte an. Auch hier haben wir die Größen der Teilgrundstücke selbst berechnet.

Flächennutzung: Die Daten zur Flächennutzung stammen vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. Die Erhebung basiert auf dem ALKIS.

Eigentümerstrukturen der Wohnflächen: Die Auswertung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung basiert auf nichtöffentlichen Daten aus dem Amtlichen Liegenschaftskataster, Stand 2022. Die Angaben beziehen sich auf Flurstücke, also den Grund und Boden, nicht auf die Wohnungen, die auf den Grundstücken stehen. Die Auswertung erfolgte auf der Planungsraum-Ebene, also etwa auf Größe der Kieze. Wir haben die jeweiligen Anteile für die ganze Stadt zusammengerechnet.

Fragen? Hinweise? Anregungen? Kontaktieren Sie uns gerne.

Das Team

Tamara Flemisch
Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Produktion
Lennart Tröbs
Design und Visualisierung
Helena Wittlich
Recherche und Text
Veröffentlicht am 15. November 2023.